Wirtschafts- und Sozialgeschichte Westeuropas seit 1945

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Abb 1Der Berliner Tiergarten als landwirtschaftliche Nutzfläche, Juli 1946 (Quelle: Bundesarchiv 183-M1015–314).

Am wichtigsten war vielleicht der Schwarzmarkt, der überall auftrat, wo es Rationierung gab, aber dennoch von Land zu Land und teilweise von Ort zu Ort unterschiedliche Ausmaße und Formen annahm. Dort, wo die Rationierung im Allgemeinen gut funktionierte und die Rationen ein erträgliches Maß behielten, hielt sich auch der Schwarzmarkt in Grenzen, nämlich in Dänemark (wo die Schwarzmarktpreise stabil blieben) und in Großbritannien, wo zudem effektive Kontrollmechanismen installiert wurden. Anderswo, vor allem in Italien, nahm der Schwarzmarkt solche Ausmaße an, dass es wahrscheinlich zutreffender wäre, von einer „Schwarzmarkt-Gesellschaft“ als von einer „Rationen-Gesellschaft“ zu sprechen. Die Gründe hierfür liegen auf der Hand. Das Rationierungssystem brach 1944 nach dem Einmarsch der Alliierten zunächst vollkommen zusammen, und noch im Juli 1947 waren die Rationen in Rom so niedrig, dass die Normalverbraucher nicht einmal auf 2000 Kalorien am Tag kamen. Hinzu kam, dass der Schwarzmarkt von den Behörden als notwendiges Übel oftmals toleriert wurde. Anders in Frankreich, wo die Behörden im Rahmen ihrer Möglichkeiten versuchten, gegen den illegalen Handel vorzugehen. Jedoch erwiesen sich Praktiken der Unterschlagung, die während der Besetzung Ausdruck nationalen Widerstands gegen die deutschen Besatzer waren, als zählebig.

Der Schwarzmarkt war bei der Not leidenden Bevölkerung nicht besonders beliebt. Die Preise waren häufig exorbitant, das Risiko, von den Behörden entdeckt und bestraft zu werden, immer vorhanden. Daher war der Schwarzmarkt auch weniger eine Einübung in die Marktwirtschaft als vielmehr ein negatives Zerrbild derselben. Er begünstigte vor allem eine kleine Schicht von Menschen, die, über welche Kanäle auch immer, Zugang zu stark nachgefragten Waren hatten, und produzierte somit eine kleine Schicht von Profiteuren, die ihren plötzlichen Reichtum ungeniert zur Schau stellten und somit die sozialen Spannungen zusätzlich anheizten.

1.1.2Gesellschaftliche und politische Implikationen

Die Rationen- und Schwarzmarkt-Gesellschaft führte somit keineswegs zu einer nivellierten Notgemeinschaft, sondern zu zusätzlichen sozialen Spannungen, die sich in erster Linie in Form von Streiks und Protesten artikulierten, mittelbar aber auch für das Schicksal von Regierungen verantwortlich waren (→Kap. 1.4). In Großbritannien nahmen die Proteste noch relativ milde Formen an. So war ein Hafenarbeiterstreik im Oktober 1945 sehr unpopulär, weil er die ohnehin angespannte Versorgungslage zu verschlechtern drohte. Proteste wurden in der Folgezeit von Hausfrauenorganisationen artikuliert, z. B. gegen die Einführung der Brotrationierung im Sommer 1946.

Schwieriger war die Lage auf dem Kontinent. Hier war es besonders die städtische Bevölkerung, die unter den Versorgungsschwierigkeiten zu leiden hatte. Die Löhne hielten meist nicht mit den steigenden Schwarzmarktpreisen mit, was immer wieder für Empörung sorgte. Zudem war mit zunehmendem zeitlichem Abstand der Krieg immer weniger als Erklärung für die Versorgungsschwierigkeiten akzeptabel. Kritisch waren insbesondere Herbst und Winter eines jeden Jahres. In Köln kam es im Januar 1948 zu einem Generalstreik, an dem sich 120.000 Beschäftigte beteiligten. Die schwersten Krawalle in den westlichen Besatzungszonen fanden jedoch nach der Währungsreform vom Juni 1948 statt, nämlich die „Stuttgarter Vorfälle“ vom 28. Oktober 1948, bei denen nach einer Demonstration gegen die Preissteigerungen infolge der Währungsreform Schaufensterscheiben eingeschlagen und Autos demoliert wurden. Die Gewerkschaften riefen in der Bizone für den 12. November einen Generalstreik aus, an dem sich nach Angaben der Veranstalter über 9 Millionen Menschen beteiligten. Eine Antwort darauf war das bereits im Sommer 1948 angelaufene „Jedermann-Programm“, das mit staatlicher Unterstützung preiswerte Konsumgüter für den Massenmarkt bereitstellen sollte.

Heftige Streik- und Protestwellen erschütterten auch und insbesondere Frankreich. Schon 1946 kam es immer wieder zu wilden Streiks, die weder von der in der Regierung vertretenen kommunistischen Partei noch der ihr nahestehenden Gewerkschaft CGT gebilligt wurden. Als jedoch im April 1947 in der CGT-Hochburg Renault-Billancourt ein Streik ausbrach, sah sich die Gewerkschaft nach kurzem Zögern gezwungen, sich dem Streik anzuschließen, wollte sie nicht ihre treuesten Unterstützer verprellen. Das zwang wiederum die kommunistische Partei zu einer Neuorientierung in der Sozial- und Wirtschaftspolitik und führte zu ihrem Ausscheiden aus der Regierung im Mai 1947. Damit war der Höhepunkt der Streikaktivitäten noch nicht erreicht. Im November gab es bei einer Protestdemonstration in Marseille gegen die Erhöhung der Straßenbahnfahrpreise einen Toten. Dem daraufhin ausgerufenen lokalen Generalstreik schlossen sich rasch die nordfranzösischen Bergleute an, und kurze Zeit später waren 2 Millionen Arbeiter im Ausstand. Die Regierung reagierte mit Antistreikgesetzen und dem Einsatz von Polizei und Armee, nicht aber mit Zugeständnissen. Ähnliches spielte sich im Oktober und November 1948 ab, als wiederum die Bergleute in den Streik traten, in dessen Verlauf 1041 Streikende verhaftet und 479 Polizisten verletzt wurden.

Die Auseinandersetzungen in Italien waren kaum weniger heftig. Im Juli 1946 wurden in Venedig Lebensmittelgeschäfte geplündert und in Turin ein Generalstreik ausgerufen. Im Oktober 1946 besetzten Demonstranten die Residenz des Ministerpräsidenten in Rom. In den heftigen Auseinandersetzungen mit der Polizei gab es zwei Tote und über 150 Verletzte. Gleichzeitig protestierten in den ländlichen Regionen bis zum Sommer 1947 immer wieder die Landarbeiter und Halbpächter. Zu landesweiten Streiks und Fabrikbesetzungen der kommunistischen Arbeiter kam es nach einem Attentat auf den kommunistischen Parteichef Palmiro Togliatti am 14. Juli 1948. In Genua übernahmen die Streikführer sogar kurzzeitig die Kontrolle über die Stadt, und eine Revolution schien im Bereich des Möglichen. Erst im Lauf des Jahres 1949 verbesserte sich die ökonomische Situation spürbar, und die sozialen Auseinandersetzungen ebbten ab.

Diese Streiks und Proteste weisen schon darauf hin, dass die Rationen- und Schwarzmarkt-Gesellschaften keineswegs durch die Not zusammengeschweißt wurden. Richtig ist zwar, dass traditionelle soziale Unterschiede teilweise an Bedeutung verloren, ja bisweilen sogar umgekehrt wurden. In der Notzeit war beispielsweise die Landbevölkerung meist besser versorgt als die normalerweise besser situierten Stadtbewohner. Ansonsten dominierte aber eine negative „Vergleichsmentalität“ (Rainer Gries), in der jeder neidisch auf den oder die andere blickte, die mehr hatte als man selbst. Eine gewisse Nivellierung fand dadurch statt, dass ansonsten gut verdienende städtische Angestellte oder Beamte nicht besser-, sondern eher schlechtergestellt waren als Arbeiter oder Bauern. Dort, wo die Rationierung gut funktionierte wie in Großbritannien, konnte sie somit durchaus positive Folgen zeitigen. Die britischen Arbeiter waren in der Zeit der Rationierung besser ernährt als vorher, und nicht zuletzt deswegen war das Ende der Rationierung in Großbritannien durchaus umstritten. In den meisten anderen Ländern jedoch erzeugte die Rationierung neue Formen der sozialen Ungleichheit durch den Aufstieg der Kriegsgewinnler, Spekulanten und „Schieber“, deren schneller Reichtum eher auf Beziehungen als auf Leistung zurückzuführen war und der dementsprechend wenig Akzeptanz gewinnen konnte.

Literatur

Corni, Gustavo/Gies, Horst: Brot, Butter, Kanonen. Die Ernährungswirtschaft in Deutschland unter der Diktatur Hitlers, Berlin 1997

Duchen, Claire: Women’s Rights and Women’s Lives in France, 1944–1968, London 1994

Gildea, Robert/Wieviorka, Olivier/Warring, Anette (Hg.): Surviving Hitler and Mussolini. Daily Life in Occupied Europe, Oxford 2006

Gries, Rainer: Die Rationen-Gesellschaft. Versorgungskampf und Vergleichsmentalität. Leipzig, München und Köln nach dem Kriege, Münster 1991

Helstosky, Carol: Garlic and Oil. Food and Politics in Italy, Oxford 2004

Shorter, Edward/Tilly, Charles: Strikes in France, 1830–1968, London 1974

Trentmann, Frank/Just, Flemming (Hg.): Food and Conflict in Europe in the Age of two World Wars, Basingstoke 2006

Zierenberg, Malte: Stadt der Schieber. Der Berliner Schwarzmarkt 1939–1950, Göttingen 2008

Zweiniger-Bargielowska, Ina: Austerity in Britain. Rationing, Controls, and Consumption, 1939–1955, Oxford 2000

1.2Vergangenheitspolitik

Eine der wichtigsten Aufgaben für die westeuropäischen Gesellschaften der Nachkriegszeit war der richtige Umgang mit der Vergangenheit, also die „Vergangenheitspolitik“ (Norbert Frei). In erster Linie ging es darum, die postfaschistischen Demokratien zu stabilisieren, in zweiter Linie darum, dem berechtigten Verlangen der Opfer nach Gerechtigkeit Genüge zu tun. Ein radikaler Bruch mit der Vergangenheit wurde aber durch mehrere Umstände erschwert, die freilich von Land zu Land unterschiedlich ausfielen: Zum einen wogen die Probleme der Gegenwart (vor allem der Versorgung) für viele Menschen schwerer als diejenigen der Vergangenheit, und die Säuberungen drohten an Akzeptanz zu verlieren, wenn sie durch massenhafte Entlassungen oder Internierungen die Verwaltung schwächten und die Versorgungslage verschärften. Zum Zweiten war es in vielen Ländern schlicht schwierig, gleichzeitig erfahrene und unbelastete Angehörige von Verwaltung, Justiz, Polizei oder Militär in ausreichender Zahl zu finden, so dass eine Amnestie der geringer Belasteten in manchen Ländern (wie Deutschland oder Italien) unausweichlich war, wollte man sie nicht dauerhaft unter ausländische Verwaltung stellen.

 

Hinzu kam, dass sich der Rechtsstaat als Mittel zur Auseinandersetzung mit den faschistischen oder nationalsozialistischen Eliten und ihren Helfershelfern als wenig geeignet erwies. In fast allen Ländern wurden mehr oder minder geglückte juristische Hilfskonstruktionen (z. B. „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, Sondergerichte) angewendet, um die Täter überhaupt vor Gericht stellen und bestrafen zu können. Das brachte den Prozessen von Seiten der Angeklagten wie der politischen Rechten allgemein den Vorwurf der „Siegerjustiz“ ein. Bis heute wird bemängelt, dass die juristische Auseinandersetzung mit den untergegangenen Regimen nach dem Krieg zentrale rechtsstaatliche Grundsätze verletzt habe, so das Rückwirkungsverbot, nach dem geltendes Recht nicht rückwirkend angewendet werden darf, oder die mangelnde Trennung zwischen Anklägern und Richtern. Es wird bei dieser Kritik jedoch gern übersehen, dass die faschistischen und nationalsozialistischen Regime in Europa nicht legal an die Macht gelangt waren, auch dort nicht, wo sie versuchten, den Schein der Legalität zu wahren wie in Deutschland, Italien oder Frankreich. Daher greift es zu kurz, sich auf einen angeblichen „Befehlsnotstand“ zu berufen, da die Befehle an sich schon keine ausreichende Rechtsgrundlage besaßen.

1.2.1Die „wilden“ Säuberungen

Generell lässt sich zwischen den „wilden“, den administrativen und den juristischen Säuberungen unterscheiden. Die „wilden“ Säuberungen fanden im Wesentlichen in zwei Wellen statt, nämlich direkt nach dem Abzug der deutschen Truppen in vielen Gebieten im Herbst 1944 und nach der formellen Kapitulation der Wehrmacht im Frühjahr 1945. Sie forderten zahlreiche Todesopfer, in Frankreich ca. 10.000, in Italien 10.000 bis 12.000, in den Niederlanden ca. 100. Neben Hinrichtungen ohne Gerichtsverfahren oder mittels Schnellverfahren kam es zu spontanen Verwüstungen von NS-Zentralen, Inhaftierungen (in Dänemark allein ca. 20.000) und Gewalt gegen wirkliche oder vermeintliche Kollaborateure. Häufig wurden gerade Frauen Opfer von ritueller Gewalt in der Form des öffentlichen Scherens. Allein in Frankreich wurden ca. 20.000 der Kollaboration beschuldigten Frauen die Haare geschoren.


Abb 2Der Kollaboration beschuldigte Frauen in Paris, Sommer 1944 (Quelle: Bundesarchiv 146–1975–041–10).

Die „wilden“ Säuberungen waren zweifellos mit dem Rechtsstaat nicht vereinbar. Ob dabei die wirklichen Schuldigen getroffen oder nur offene Rechnungen beglichen wurden, ist nicht sicher. Letztlich war diese Form der Säuberung aber in erster Linie ein Übergangsphänomen, das in die Zwischenzeit zwischen dem Ende der deutschen Besatzungsherrschaft oder faschistischen Herrschaft und dem staatlichen Neubeginn fiel. Zudem fanden viele dieser Säuberungen im Zusammenhang mit Kampfhandlungen statt. Nach der Übernahme der Verwaltung durch die Alliierten fanden diese Säuberungen meist ein rasches Ende. Allein in Italien setzten sie sich noch bis Ende 1945 fort.

1.2.2Die administrativen Säuberungen

Die administrativen Säuberungen waren das bevorzugte Mittel der Alliierten in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Meist wurden generell alle wichtigen Funktionsträger des alten Regimes entlassen oder gleich interniert. Das führte natürlich zu Massenverhaftungen mit allen damit verbundenen Problemen. In Frankreich wurden unmittelbar nach der Befreiung ca. 126.000 Personen interniert, in Belgien 70.000, in den Niederlanden 120.000 und in Deutschland allein von den Westalliierten ca. 200.000. Die meisten wurden allerdings 1945 oder 1946 wieder freigelassen, wie z.B. in Belgien, wo die Zahl der Internierten im Frühjahr 1945 von 70.000 auf 20.000 sank, dann aber wieder auf 40.000 anstieg, da viele belastete Personen nach Belgien zurückkehrten. In Deutschland waren Ende 1945 noch schätzungsweise 100.000 Menschen interniert.

Die Internierungen waren ungerecht, aber effektiv; ungerecht, da sie, anders als Gerichtsverfahren, nicht auf der individuellen Schuld der Internierten beruhten; effektiv, da sie gleichzeitig die Funktionsträger der alten Regime zumindest so lange von den Schaltzentralen der Macht fernhielten, bis sich die Verhältnisse einigermaßen stabilisiert hatten. Die Abkehr von dieser Art der Säuberung erfolgte nicht erst unter dem Eindruck des Kalten Krieges, sondern schon recht bald. Der Grund war eher innenpolitischer Natur: Die Regierungen wollten verhindern, dass sich eine quasi permanente Kaste von Unzufriedenen bildete, welche eine Gefahr für die Demokratie hätten bilden können. In der Tat bildeten sich in mehreren Ländern Parteien, die den Protest gegen die Entnazifizierung in die Parlamente trugen: in Belgien die flämische „Volksunie“, in Italien die neofaschistische „Jedermanns-Front“ und später der MSI (Movimento Sociale Italiano), in Deutschland der „Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten“. Sie hatten in Wahlen zwar nur begrenzten Erfolg (selten mehr als 5 Prozent), aber es genügte, um zu signalisieren, dass es ein gefährliches Potential von Unzufriedenen gab.

Aber nicht nur die Internierten mussten sich der bürokratischen Prozedur der administrativen Säuberung stellen. In den westlichen Besatzungszonen Deutschlands wurden Millionen von Menschen auf ihre Einstellung zu und ihre Tätigkeit im NS-Regime überprüft. Die US-amerikanischen Besatzungsbehörden ließen 13,2 Millionen Meldebögen ausfüllen, von denen allerdings nur 945.000 überhaupt weiter verfolgt wurden. Auch in der britischen Besatzungszone wurden mehr als 2 Millionen Menschen überprüft. Im März 1946 führte zu diesem Zweck zunächst die US-amerikanische Militäradministration das Spruchkammerverfahren ein. Die mit unbelasteten Juristen und Laienrichtern besetzten Spruchkammern hatten die Überprüften in fünf Kategorien einzuteilen von „Hauptschuldige“ bis „Entlastete“. Die Kammern waren aber von der Vielzahl der Verfahren überfordert, und so genügte häufig schon ein Leumundszeugnis („Persilschein“), um als „Mitläufer“ oder „Entlasteter“ weitgehend straffrei auszugehen, was den Spruchkammern den Ruf der „Mitläuferfabriken“ (Lutz Niethammer) einbrachte. In der Tat wurden in der US-Zone schließlich 77 Prozent der Beschuldigten als Mitläufer eingestuft (und 3 Prozent als Entlastete). In der britischen Zone wurden sogar mehr als 80 Prozent der Fälle als vollständig entlastet eingestuft.

1.2.3Die justiziellen Säuberungen

Nach der Kapitulation Deutschlands nahmen die Alliierten die Bestrafung der Hauptkriegsverbrecher in die eigenen Hände. So kam es bereits im Oktober 1945 vor den berühmten Nürnberger Prozessen in der britischen Besatzungszone zu den Lüneburger Prozessen (oder Bergen-Belsen-Prozessen) gegen KZ-Wachmannschaften. Im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess 1945/46 wurden 12 von 24 Angeklagten zum Tode verurteilt, u.a. wegen des neu geschaffenen Tatbestands „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. In den Folgeprozessen von 1946 bis 1949 wurde gegen weitere 177 Angeklagte verhandelt und dabei 25 Todesurteile ausgesprochen. Der Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess war trotz gewisser formaler Mängel ein weitgehend faires Verfahren und gilt heute als Meilenstein der internationalen Strafgerichtsbarkeit.

Wie aus den geringen Fallzahlen ersichtlich, lag die Hauptverantwortung für die justizielle Aufarbeitung jedoch nicht bei den Alliierten, sondern bei den jeweiligen Einzelstaaten. Wieder waren es Hunderttausende, gegen die Verfahren oder Voruntersuchungen eingeleitet wurden: in Österreich 137.000, in Frankreich 350.000, in Dänemark 40.000, in Norwegen 93.000 und in Belgien ebenfalls 350.000. Weit weniger beeindruckend waren die Zahlen in Deutschland, wo bis 1949 nur ca. 13.000 Ermittlungsverfahren eingeleitet wurden. Bis Ende der fünfziger Jahre verfolgte die westdeutsche Justiz nur Vergehen, die in Deutschland begangen worden waren. Das änderte sich erst mit dem Ulmer Prozess gegen die „Einsatzgruppe Tilsit“ 1958.

Aus verschiedenen Gründen gab es erhebliche Differenzen beim Vorgehen gegen Kollaborateure, NS- und Kriegsverbrecher: Das NS-Besatzungsregime war von Land zu Land unterschiedlich repressiv gewesen, der Grad der ideologischen Durchdringung war unterschiedlich, nationale Rechtstraditionen und die politische Situation nach dem Krieg spielten ebenfalls eine Rolle. Am gründlichsten ging man vielleicht in Norwegen vor, wo schon die Mitgliedschaft in einer NS-Organisation als Straftatbestand gewertet wurde. Von den 93.000 Beschuldigten, gegen die Verfahren eingeleitet wurden, wurden über 20.000 verurteilt; weitere 28.000 akzeptierten eine Strafe ohne Prozess. Die Strafen fielen allerdings meist gering aus, nur in 25 Fällen wurde die Todesstrafe verhängt.

Eine geringe Rolle spielte dagegen die justizielle Säuberung in Italien. Zwar wurden nach Kriegsende außerordentliche Schwurgerichte eingesetzt, und ca. 20.000 bis 30.000 Verdächtige angeklagt. Bereits im Sommer 1946 kam es jedoch zu einer großzügigen Amnestieregelung, so dass viele Faschisten, die die „wilden“ Säuberungen überlebt hatten, ohne Strafe oder mit geringen Strafen davonkamen. Darunter waren nicht nur kleine Fische, sondern auch prominente Personen wie Rodolfo Graziani, der frühere Oberbefehlshaber der faschistischen Truppen der Republik von Salò, der nicht mehr als drei Monate im Gefängnis verbringen musste.

Nicht nur in Italien, sondern auch in anderen Ländern kam es angesichts der Vielzahl der Fälle von „kleinen“ Nazis und der Überforderung des Justiz- und Verwaltungsapparats immer wieder zu Forderungen nach Amnestien. In der Tat wurden in vielen Ländern mehr oder weniger weitreichende Amnestiegesetze beschlossen: in Italien und den Niederlanden bereits 1946, in Österreich und Norwegen und wiederum in Italien 1948, in Deutschland 1949 und 1951, in Frankreich 1951 und 1953. Neben der wohl unvermeidlichen Amnestierung der „kleinen“ Nazis und Faschisten profitierten von der „Rehabilitierungswut“ (Bauerkämper) auch „große“ oder zumindest „mittelgroße“ Belastete, die zum Teil sogar wieder in Führungspositionen aufstiegen. So hatten sowohl der Pariser Polizeichef Maurice Papon, der 1961 eine Demonstration von Algeriern brutal niederschlagen ließ, als auch der deutsche Vertriebenenminister Theodor Oberländer, als auch der Fraktionsvorsitzende der niederländischen Christdemokraten Willem Aantjes eine NS-Vergangenheit, über die sie später stolperten.

Solche Biografien ließen schnell den Verdacht aufkommen, die Entnazifizierungen seien im Grunde gescheitert und es sei eigentlich nur die Führungsriege der Nationalsozialisten bestraft worden. Diese Kritik ist nicht neu und auch nicht auf Deutschland beschränkt. Auch in Italien sprachen Angehörige der Widerstandsbewegung von einer ausgebliebenen Säuberung („epurazione mancata“). Aber das Urteil ist wohl zu hart. Der primäre Zweck der Säuberungen, nämlich die Stabilisierung der Nachkriegsdemokratien, wurde erreicht. Das ist nicht selbstverständlich. Als abschreckendes Beispiel für eine tatsächlich ausgebliebene Säuberung mag das griechische Beispiel dienen. Hier kam mit britischer Unterstützung im Frühjahr 1946 eine rechtsgerichtete Regierung an die Macht, die nicht antifaschistische, sondern antikommunistische Säuberungen durchführte und dabei auch viele nicht kommunistische Widerstandskämpfer aus Führungspositionen entfernte. Das Ergebnis war ein dreijähriger Bürgerkrieg mit Zehntausenden Toten, der an seinem Ende 1949 ein weitgehend verwüstetes Land hinterließ.

Dass es gleichwohl unterhalb der Führungsebene eine weitgehende Elitenkontinuität gab (etwa in Wirtschaft, Justiz, Polizei oder Verwaltung), ist wohl unbestritten. Eine gründlichere Säuberung war aber in den europäischen Nachkriegsgesellschaften keineswegs populär, weshalb auch linke Parteien, wie die italienische kommunistische Partei, sich für weitgehende Amnestien einsetzten. Vielmehr war das kulturelle Gedächtnis von der Heroisierung des Widerstands einerseits und der tatsächlichen oder vermeintlichen Opfererfahrung andererseits geprägt. Selbst in Deutschland fühlten sich die meisten Menschen als Opfer des Nationalsozialismus und nicht als Mittäter. Gerade deswegen wurden die Grausamkeit und Bestialität der angeblich kleinen Gruppe von Tätern (z.B. KZ-Wachpersonal) in der medialen Berichterstattung hervorgehoben. Sie wurden dadurch aus der angeblich unbelasteten Mehrheitsgesellschaft ausgesondert. Eine kritischere Sicht auf die Vergangenheit sollte sich erst viel später durchsetzen, in den siebziger und achtziger Jahren.

 

Literatur

Bachmann, Klaus: Vergeltung, Strafe, Amnestie. Eine vergleichende Studie zu Kollaboration und ihrer Aufarbeitung in Belgien, Polen und den Niederlanden, Frankfurt am Main 2011

Bauerkämper, Arnd: Das umstrittene Gedächtnis. Die Erinnerung an Nationalsozialismus, Faschismus und Krieg in Europa seit 1945, Paderborn 2012

Frei, Norbert (Hg.): Transnationale Vergangenheitspolitik. Der Umgang mit deutschen Kriegsverbrechern in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg, Göttingen 2005

Frei, Norbert: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1999

Fühner, Harald: Nachspiel. Die niederländische Politik und die Verfolgung von Kollaborateuren und NS-Verbrechern, 1945–1989, Münster 2005

Niethammer, Lutz: Die Mitläuferfabrik. Die Entnazifizierung am Beispiel Bayerns, Berlin 2. Aufl. 1982

Woller, Hans/Henke, Klaus-Dietmar (Hg.): Politische Säuberung in Europa. Die Abrechnung mit Faschismus und Kollaboration nach dem Zweiten Weltkrieg, München 1991

Woller, Hans: Die Abrechnung mit dem Faschismus in Italien 1943 bis 1948, München 1996

1.3Die europäische Flüchtlingskrise

Die europäische Flüchtlingskrise der Nachkriegszeit verschärfte die ohnehin vorhandenen Verteilungsprobleme der „Rationen-Gesellschaft“. Sie war ein direktes Resultat des Krieges und der NS-Herrschaft. Obwohl Deutschland vielleicht am stärksten betroffen war, handelte es sich im Kern doch um eine europäische, in gewisser Weise sogar eine globale Erscheinung. Das muss besonders in Deutschland betont werden, wo die Erinnerung vor allem von der Problematik der so genannten „Vertriebenen“ dominiert wird. Deren Schicksal verdient selbstverständlich Beachtung, handelte es sich doch bei dieser ethnischen Säuberung um die wohl größte Zwangsmigration der europäischen Geschichte. Aber das sollte nicht den Blick dafür verstellen, dass auch andere westeuropäische Länder von der Flüchtlingskrise betroffen waren wie z. B. Italien, das ebenfalls zur Drehscheibe für große Flüchtlingsgruppen wurde, oder Frankreich, das über 2 Millionen repatriierte Landsleute aufnahm, oder Großbritannien, das als Besatzungsmacht in Deutschland und in Palästina entscheidend zur Bewältigung der Flüchtlingskrise beitrug (im einen Fall recht erfolgreich, im anderen eher weniger).

Die Fakten sind an sich mittlerweile gut bekannt, auch wenn die vorhandenen Zahlen aufgrund der schwierigen Quellenlage und differierender Definitionen nur grobe Orientierungswerte darstellen. Immerhin schätzt Peter Gatrell, dass nach dem Ersten Weltkrieg ca. 12 Millionen Menschen in Europa auf der Flucht waren, nach dem Zweiten Weltkrieg ca. 60 Millionen und nach dem Ende des Kalten Krieges weniger als 7 Millionen. Das verdeutlicht, dass die Flüchtlingskrise einerseits nicht prinzipiell neu war, sondern Vorläufer in der Zwischenkriegszeit hatte, andererseits von den quantitativen Dimensionen her alles andere, erst recht die Arbeitsmigrationen nach dem Zweiten Weltkrieg, in den Schatten stellte. Diese Zahlen beinhalten allerdings auch die Binnenflüchtlinge, die von internationalen Organisationen nicht als Flüchtlinge gezählt wurden. Die Ursache für diese große Zahl an Flüchtlingen ist in Verlauf und Folgen des Krieges zu suchen. Viele waren freigelassene Kriegsgefangene, ehemalige Zwangsarbeiter im NS-Deutschland, Evakuierte oder Ausgebombte, Opfer ethnischer Säuberungen, flüchtige Kriegs- oder NS-Verbrecher oder freigelassene Insassen der Konzentrationslager, insgesamt also eine sehr heterogene Gruppe.

Abb 3Flüchtlingsströme in der Nachkriegszeit; schwarz: ethnische Säuberungen; grau: „Displaced Persons“ (eigene Grafik auf Basis der Karte aus: Paul Werth, University of Nevada, Las Vegas; https://faculty.unlv.edu/pwerth/Europe-1945-territorial.jpg).

1.3.1„Displaced Persons“

Bei Kriegsende existierten in Deutschland ca. 8 Millionen „Displaced Persons“ (DPs), darunter ca. die Hälfte Sowjets, 2 Millionen Franzosen, 1,6 Millionen Polen und 700.000 Italiener. Die deutschen Vertriebenen wurden nicht zu ihnen gezählt, obwohl sie ohne Zweifel „displaced“ waren. In den Konzentrationslagern im Reich hatten nur ca. 50.000 bis 100.000 Juden den Holocaust überlebt, und viele starben noch nach der Befreiung an Unterernährung und Krankheiten infolge der grausamen Lagerhaft. Allerdings wuchs die Zahl der Juden in Deutschland zunächst wieder an, da viele befreite Juden aus der Sowjetunion oder Polen nach Westen wanderten. In Polen setzte 1945/46 eine Welle von Pogromen ein, die dazu führte, dass viele Juden in Deutschland, Österreich oder Italien Zuflucht suchten, meist allerdings nicht, um dort zu bleiben, sondern um entweder nach Palästina oder in andere Staaten zu emigrieren.

Die Verantwortung für die DPs übernahmen die Alliierten und die vor allem von den USA finanzierte United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA), die bereits im Herbst 1943 gegründet worden war. Nach Auffassung der Alliierten bestand das primäre Ziel in der Repatriierung, also der Rückführung der DPs, die durch die Kriegsfolgen gegen ihren Willen in ein fremdes Land geraten waren (z. B. als Kriegsgefangene oder Zwangsarbeiter). Stillschweigend vorausgesetzt wurde, dass tatsächlich alle DPs in ihr Heimatland zurückkehren wollten. Das war aber nicht der Fall, und zwar nicht nur bei den befreiten Juden, die verständlicherweise nicht mit den ehemaligen Tätern zusammenleben wollten. Für diplomatische Spannungen sorgte vielmehr zunächst die Frage der sowjetischen DPs, die häufig nicht in die stalinistische Sowjetunion zurückkehren wollten. Die Sowjetunion pochte jedoch auf deren Rückkehr, zum Teil aufgrund des hohen Arbeitskräftebedarfs, zum Teil, um die Entstehung von großen unkontrollierbaren Emigrationspopulationen in westlichen Ländern zu verhindern. Rein quantitativ war die Arbeit der UNRRA in den ersten Monaten nach Kriegsende ein Erfolg: 5,25 Millionen Westeuropäer wurden im Mai und Juni 1945 repatriiert und 2,3 Millionen sowjetische DPs bis Ende September 1945, allerdings häufig gegen ihren Willen. Der Transfer solch großer Bevölkerungsteile gelang nur, weil die Alliierten ihre militärische Logistik für diesen Zweck zur Verfügung stellten.

Erst im Herbst 1945 begann sich die Haltung der Westalliierten zu wandeln und die Zwangsrepatriierung sowjetischer DPs wurde eingestellt. Bereits vorher war die Behandlung der jüdischen DPs revidiert worden. Der Anlass dafür war der im August 1945 an den amerikanischen Präsidenten gerichtete „Harrison Report“, der die Zustände in den jüdischen DP-Lagern anprangerte. Der Autor Earl G. Harrison argumentierte, für die Juden habe sich mit Kriegsende nichts verändert, außer dass sie nicht mehr umgebracht würden. Ansonsten waren sie noch in denselben Lagern unter militärischer Bewachung inhaftiert wie vor der Befreiung. Daraufhin wurden die Lager entweder der jüdischen Selbstverwaltung oder der UNRRA unterstellt.

Im Laufe des Jahres 1946 wurde immer deutlicher, dass die Politik der Repatriierung an ihre Grenzen stieß. 1947 hausten noch ca. 1 Million DPs in Deutschland und Österreich, die nicht repatriiert werden konnten oder wollten. Um sie sollte sich die 1946 gegründete Internationale Flüchtlingsorganisation kümmern. Die meisten Flüchtlinge dieser „letzten Million“ verließen Europa und kamen in den USA, Australien, Israel und Kanada unter. Ca. 140.000 DPs waren 1951 noch in der Bundesrepublik und blieben dort. Das letzte DP-Lager in Wehnen bei Oldenburg wurde erst 1959 geschlossen.