Unter Der Sommersonne

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Unter Der Sommersonne
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Manu Bodin

Unter der Sommersonne

roman

Übersetzt aus dem Französischen von Sabine Stork

„Aber sich zu verlieben, ist ja auch eine ganz schön unvernünftige Angelegenheit. Ganz plötzlich aus heiterem Himmel kann es dich packen. Schon morgen.“

Haruki Murakami

Für dich…

1  Kapitel 1

2  Kapitel 2

3  Kapitel 3

4  Kapitel 4

5  Kapitel 5

6  Kapitel 6

7  Kapitel 7

8  Dank

9  Andere Werke vom Autor

10  Über das Buch

11  Copyright

1.

An diesem Morgen, in diesem banalen Moment des Abschieds, der ihm wie ein Lebewohl vorkam und ihm deshalb schicksalhaft erschien, hatte er gedachte, dass er sie das letzte Mal umarmte, ihre Hand das letzte Mal hielt, sie das letzte Mal nach Hause begleitete. Bevor sie hinter dem Zaun des Wohnheims verschwand, in dem sie untergekommen war, hatte sie ihm eine Kusshand zu gehaucht. Überrascht hatte er mit der gleichen Eleganz darauf geantwortet, voller Begeisterung, wie zwei Liebende, die den Gedanken nicht ertragen konnten, sich für den Tag zu trennen. Sein Blick verschwamm, als er sich der dramatischen Situation bewusst wurde: Die Frau, die er liebte, würde sich von ihm trennen. Er vermutete, dass er sie nie wiedersehen würde. Bemerkte sie seine Traurigkeit? Ihm war es lieber gewesen, sich das Gegenteil vorzustellen. Was war ihrer Meinung nach der Grund dafür, dass er von dieser gedrückten Stimmung überwältigt worden war? Zwischen ihnen deutete offiziell noch nichts auf eine Trennung hin. Außer dass er sie in der Luft wahrnahm, wie den Geruch eines starken Giftes, gegen das er nicht ankämpfen konnte. Er schwieg und hoffte sich zu irren. So oder so schien ihm das Spiel aus zu sein. Mit gesenktem Kopf und langsamen Schritten hatte er den Asphalt überquert, sich vom Gebäude entfernt, hatte angenommen, dass er dieses Viertel vergessen müsste. Er drehte sich um und ging in Richtung seines armseligen 1-Zimmer-Appartements davon. Dort erwartete ihn das Gefühl der Unvollständigkeit genährt von latenter Einsamkeit und neuen Tränen als einziger Gesellschaft. Durch sie hatte er sich an das Verhalten einer aufmerksamen und aufrichtigen Partnerin gewöhnt, die sich regelmäßig meldete, wobei sie darauf achtete, ihren Partner nicht durch eine tägliche Überwachung zu erdrücken. Er selbst ließ ihr ihre Freiheiten. Von einem Tag auf den anderen versuchte nun ein neuer Unterton den vorherigen zu ersetzen, was ihn in einen emotionalen Abgrund stürzte. Als er spürte, wie ihm seine Gefühle brutal aus dem Herzen gerissen wurden, hatte er einen intensiven Schmerz, einem Phantomschmerz gleich, empfunden. Fast zwei Wochen hatte sie sich rar gemacht, hatte er sie vermisst. Er hatte mehrfach versucht sie zu erreichen. Vergeblich. SMS, Anrufe oder sogar E-Mails, es kam keine Reaktion auf seine Versuche Kontakt mit ihr aufzunehmen. Keine Antwort, keine Nachricht; nur Missachtung. Er verstand es nicht, fragte sich, was passiert sein könnte, das die Flucht seiner Angebeteten ausgelöst haben mochte. Umso mehr, da sie geplant hatten am kommenden Wochenende gemeinsam nach Venedig zu fahren. Ihre Liebesgeschichte hatte traumhaft schön begonnen. In ihrer, seit einigen Wochen andauernde Romanze, schien sie nichts trennen zu wollen. Es gab nur ein schicksalhaftes Datum, das sie seit Beginn ihrer Beziehung kannten.

Sie waren sich in der Pariser Metro begegnet; überfüllte Gänge, Menschen in Eile. Inmitten des Ameisenhaufens stand eine verloren wirkende junge Frau und sah in alle Richtungen. Der Bahnhof litt unter umfangreichen Modernisierungsarbeiten. Die Hinweisschilder fehlten. Nur die Pendler kannten ihren Weg, wie perfekt programmierte Roboter im Zusammenspiel miteinander. Er war genauso verärgert wie die junge Frau. Er fand sich nicht zurecht. Dabei war er die langen Tunnel gewöhnt. Da er weder Auto noch Zweirad besaß und ihm Busse zu vollgestopft und zu kompliziert waren, um sich zurecht zu finden, hatte er sich angewöhnt, diesen Maulwurfsbau für die weiter von seinem Wohnort entfernten Ziele zu benutzen. Wenn das Wetter schön war und er sich an einen Ort begeben musste, der ihm nah genug erschien, zögerte er wegen der nachweislich horrenden Fahrscheinpreise nicht, die Strecke zu Fuß zu gehen. Blieben noch die Leihfahrräder von Velib‘, die auf bewundernswerte Weise in ganz Paris verteilt waren; aber auch hier hatte ihn das Abonnementangebot nicht überzeugen können. Er hatte schon versucht, ein Gefährt aus seiner Verankerung herauszuziehen, aber es bestand darauf, daran kleben zu bleiben. Allerdings fand er das Konzept interessant, nur dass die Logik des kapitalistischen Gewinns jede ökologische Initiative zerstörte. Eine verzweifelte und zwiespältige Erkenntnis traf ihn, als er feststellte, dass man in unserem Wirtschaftssystem nicht anders konnte, als in stillschweigender Übereinkunft unserer Machtlosigkeit, eine politische Entscheidung, die den Bürgern zu Gute kommen sollte und die von privaten, geldgierigen Unternehmen umgesetzt wurde, fast schon auf Knien zu akzeptieren.

Die junge Frau, die sah, wie er sich um sich selbst drehte, hatte es gewagt, sich ihm zu nähern und ihn gefragt, ob er auch die Linie 14 suchte. Dem war so. Er musste mit dieser Linie bis zum Bahnhof Saint-Lazare fahren, um dann von dort aus in einen Vorortzug umzusteigen. Er war mit Stéphanie, einer befreundeten Malerin verabredet. Sie hingegen war in die andere Richtung, nach Bercy, unterwegs. Rein optisch war sie ganz nach seinem Geschmack. Sie sprach kein perfektes Französisch. Ihr Akzent verriet ihre osteuropäischen Wurzeln. Sie hatte ihm mitgeteilt, dass sie Svetlana hieß und aus Russland kam. Im Gegenzug hatte er ihr seinen Vornamen verraten. „Franck“ hatte er geantwortet, ohne dabei zu versuchen, sie mit weiteren Informationen über seine Person zu beeindrucken oder ihr mit aufdringlichen Fragen auf die Nerven zu gehen.

Svetlana hatte es immer vorgezogen, von ihren Freunden Sveta genannt zu werden. Sie war seit drei Wochen in Paris, um hier zu arbeiten. Sie nutze ihren Aufenthalt aber auch, um während ihrer Freizeit verschiedene europäische Länder zu bereisen. Ihre Arbeit bestand darin, in einem Geschäft in der Galerie Lafayette Handtaschen zu verkaufen. Die Rolle der Verkäuferin in einer Boutique interessierte sie wenig. Sie langweilte sich sogar sehr oft. Das war die einzige Möglichkeit, die sie gefunden hatte, um ihren Traum, nach Frankreich zu reisen, zu verwirklichen. Auf diese Weise hatte sie ein Visum für drei Monate bekommen können. An diesem Tag war sie auf dem Weg zu einer ihrer Kolleginnen, die aus der Ukraine stammte und die aus dem gleichen Grund nach Frankreich gekommen war wie sie. Sie hatten einen Spaziergang durch die Stadt geplant, bei dem sie auch shoppen gehen wollten.

Svetlana hatte Franck vorgeschlagen, auszusuchen welche Richtung sie einschlagen sollten. Sie hatte ihm anvertraut, dass ihr Sternzeichen sie tagtäglich beeinflusste und nicht immer zum Besten. Waage: das Symbol für alle Arten der Instabilität. Sie konnte sich oft nur schwer entscheiden, vor allem in wichtigen Augenblicken. Ein Ja am Morgen konnte sich am Abend in ein Nein verwandeln. Sie hatte ihm Einzelheiten ihrer Persönlichkeit enthüllt, ohne sich auch nur die geringsten Gedanken darüber zu machen, ob es eine gute Idee war, sich einem Fremden gegenüber so zu verhalten. Sie hatte sich spontan, natürlich benommen, hatte sich in Gegenwart dieses Mannes wohl gefühlt. Sie hatte auf Anhieb eine positive Aura und ein beruhigendes Gefühl gespürt, als sie diesen Mann bemerkte, der genauso verloren war wie sie.

Ohne es zu wollen, hatte Franck die Art Mann verkörpert, der die Initiative ergreift. Der Weg, den sie eingeschlagen hatten, hatte sich als der richtige für Svetlana herausgestellt. Sie hatte sich bei ihm bedankt und wollte sich schon auf den Weg machen. Während er seine Schüchternheit an das hinterste Ende seines Temperaments verdrängte, hatte Franck sie gefragt, ob sie Lust hätte, an einem der nächsten Tage in seiner Begleitung Paris zu erkunden, so könnte sie in den Genuss eines privaten Reiseführers kommen. Überrascht und zögernd hatte sie ihn gemustert und sich nach den Absichten dieses Mannes gefragt. War er ein seriöser Mensch oder ein Abenteurer? Vielleicht ein Schnorrer?

Nachdem einigen Sekunden der Überraschung vergangen waren, hatte Svetlana ihm ein strahlendes Lächeln geschenkt, anschließend zustimmend mit dem Kopf genickt und ihm offenherzig mit der Allerweltsfrage „Warum nicht…?“ geantwortet. Danach hatten sie ihre Telefon-Nummern ausgetauscht. Ein paar Höflichkeitsfloskeln waren gefolgt. Sie hatten sich einen schönen Tag gewünscht und sich mit einem linkischen Händedruck verabschiedet.

Franck war in die andere Richtung davongegangen, mit einem Lächeln auf den Lippen, wie ein Idiot, der vom Zufall gesegnet worden war, so dass ihm viele neugierige Blicke folgten. Auf der Fahrt hatte Franck nicht anders gekonnt, als an dieses fröhliche Gesicht zu denken, das ihm gerade begegnet war. Ein sanfter Gesichtsausdruck, strahlend, voller Anmut und großer Zärtlichkeit. Er hatte sich gefragt, ob er dieses Mädchen wiedersehen würde. Wie groß waren die Chancen, dass sie einwilligen würde, mit ihm spazieren zu gehen. Sehr gering, seiner Meinung nach. Um eine Person loszuwerden, die lästig werden würde, war es ein Leichtes, ihren Wünschen zu entsprechen und ihr eine Lüge als erlösendes Geschenk aufzutischen, wie etwa eine falsche Telefonnummer, die den guten Willen bezeugen würde. Hätte er sofort versuchen sollen, sie anzurufen?

 

Franck dachte zu viel nach. Er hatte bereits ein Auge auf diese junge Frau geworfen, wenn auch unbewusst. Er war seit mehreren Monaten Single, schaffte es aber nicht, seine Ex zu vergessen. Dieser blonde Kopf mit den strahlend blauen Augen hatte es jedoch gerade mit einem Wimperschlag, einem Lächeln fertiggebracht, ihn zu verwirren. War das der Wunsch, etwas Neues zu beginnen? Die ersten Anzeichen einer unerwarteten Verliebtheit? Die ganze Fahrt über hatte er sich dieses hübsche Puppengesicht wieder ins Gedächtnis gerufen, das aus dem Nichts aufgetaucht war, wie ein Glückstreffer, ein Geschenk des Himmels, eine Pokerpartie, deren ersten Karten sich als vielversprechend herausstellten. Und trotzdem… was mochte das Schicksal für ihn bereit halten? Die Zukunft hielt mannigfaltige Überraschungen bereit, ohne vorhersehbar zu sein. Wünsche wurden geweckt. Ein harmloser Anruf würde vielleicht etwas in seinem Alltag verändern. Ein Umbruch, der sein Leben mit neuem Schwung versehen, und die Person ausradieren würde, die er zuvor geliebt hatte. Konnten die Veränderung und das Vergessen einer Person, die man im Herzen getragen hatte und an die man immer noch dachte, so einfach sein? Wahrscheinlich… Trotzdem würde immer ein wie auch immer gearteter Rest der Anziehungskraft zurückbleiben, der sich seinerseits als unauslöschlich erweisen würde.

Als er bei seiner Freundin Stéphanie angekommen war, hatte Franck sich weder zurückhalten können noch wollen und ihr von dieser Zufallsbegegnung erzählt. Dieser Moment, der nur einige Minuten gedauert hatte, überflutete erneut seinen Verstand. Er lief Gefahr, Hoffnungen in eine so kurze Unterhaltung zu setzten, die keinerlei Folgen garantierte. Diese junge Frau hatte ihn vom dem Augenblick an, als sie Kontakt aufgenommen hatte, geblendet. Stéphanie wusste über die vorangegangenen Enttäuschungen ihres Freundes Bescheid. Sie schien sich für ihn zu freuen und wünschte ihm, dass daraus eine schöne Geschichte entstehen würde, sollte er sie je wiedersehen. Sie riet ihm auch, dem Ganzen keine allzu große Bedeutung beizumessen, solange sich nichts konkretes ergab. Franck hatte Stéphanie viele Jahren zuvor bei einem Internet-Chat kennengelernt. Obwohl sie sich in der ersten Zeit zueinander hingezogen fühlten, hatten sie es vorgezogen, die Distanz zu wahren. Eine Freundschaft entstand.

Klein und braunhaarig, war Stéphanie optisch das Gegenteil von Svetlana. Sie besaß einen nicht zu leugnenden Charme, der einen Mann ohne große Probleme in seinen Bann ziehen konnte, vor allem, wenn sich herausstellte, dass dieser Junggeselle war, so wie Franck zu dem Zeitpunkt, als sie sich kennengelernt hatten. Einerseits hatte Franck die Intelligenz dieser Frau angesprochen. Andererseits rauchte sie zu viel. Der unangenehme Geruch nach kaltem und abgestandenem Tabakrauch hatte sich auf lange Sicht als Hindernis erwiesen. Im Laufe der ersten Wochen hatte sich das Begehren in eine Art Kameradschaft verwandelt. Sie schätzten es, Zeit miteinander zu verbringen, über ihre gemeinsamen Vorlieben zu sprechen, die beim Kino, der Kunst und der Literatur lagen. An Abenden wie dem, den sie jetzt zusammen verbringen würden, hatte es mehrere Gelegenheiten gegeben sie zu vögeln, nur dass Franck sich zurückgehalten hatte und auf seinem Platz geblieben war. Auch wenn Stéphanie es nie laut ausgesprochen hatte, waren ihr zärtliches Benehmen ihm gegenüber und die aufreizende Art sich zu kleiden, nichts anderes als eine Einladung zum Sex.

Damit eine Freundschaft zwischen einem Mann und einer Frau entstehen konnte, durfte man niemals, wirklich niemals, mit der betreffenden Person schlafen. Manchmal, oder sogar ziemlich oft, gibt es Verwirrungen, werden Dinge nicht ausgesprochen, sind da Besitzansprüche, obwohl man weiß, dass keiner von beiden eine romantische Beziehung mit dem anderen wünscht. Wenn man die unsichtbare Grenze überschreiten würden, könnte man im besten Falle erwarten, dass sich daraus eine Beziehung des Typs ‚sex friends‘ entwickelte. Bestenfalls würde sich das über einige Monate hinziehen, gerade mal so lange, bis einer von beiden von jemand anderem bezaubert wird, der ihm besser gefällt, und diese Begegnung sich zu einer Liebesbeziehung entwickelt. Im schlimmsten Fall, ein kurzes Abenteuer für eine Nacht nach einem feucht-fröhlichen Abend. Zwei Möglichkeiten, die zum gleichen Ergebnis führen: ein Misserfolg, der jegliche Anstrengung, eine Freundschaft aufzubauen, zunichtemachen würde. Sobald der Akt einmal vollzogen wäre, würde kaum noch Hoffnung bestehen, dass sich eine derartige Sympathie entwickeln könnte. Beide würden dabei verlieren. Meistens wird die Entscheidung, ob man zusammen sein möchte in den ersten Tagen oder ersten zwei Wochen nach der Begegnung getroffen. Das ist eine geheimnisvolle Zeitspanne, denn sie ist erfüllt von einer besonderen Atmosphäre, voller Erwartungen, Illusionen, Wünschen und Fragen. Manchmal sagt man sich: „Das ist sie… Das ist die Richtige!“ Dann zeigt sich das Trugbild und der besondere Mensch verschwindet für immer. Wenn von Anfang an nichts gewesen wäre, hätte die freundschaftliche Verbundenheit, die so schön und so besonders ist, erblühen können.

In seltenen Fälle geschieht das Gegenteil. Nach einer Zeit der guten Freundschaft, wenn beide gleichzeitig und seit einiger Zeit Single sind, haben die beiden Freunde das Bedürfnis nach einem Partner. Sie schätzen sich so sehr, dass sie schließlich eine zärtliche Nacht miteinander verbringen. Ein Fehler, der vielleicht Jahre der Freundschaft zerstören wird, nur wegen eines einfachen Koitus…

Es ist seltsam, wenn sich eine Frau von einem Mann trennt, bringt sie es manchmal fertig, ihm zu sagen, dass sie ihn als Freund behalten möchte… Wie soll ein Mann ein gewöhnlicher Freund von einer Frau werden, die er aufrichtig geliebt hat und die er immer noch begehrt? Eine Freundschaft zwischen Mann und Frau erscheint unwahrscheinlich, wenn sie vorher echte Gefühle füreinander gehegt haben. Das ist sogar eine hässliche, scheußliche Idee! Das ist eine Herabstufung. Als Freund, der ihr einmal so nahestand, wird nun von ihm erwartet, dass er eine gewisse Distanz wahrt und unvoreingenommen beobachtet. Schlimmer noch, es besteht die Möglichkeit, dass es zu einer Begegnung mit dem neuen Verehrer kommt, und dass er das Verführungsspiel dieses neuen Partners durchschaut, der sich schon vorstellt, dass er die einstmals Geliebte Tag und Nacht von ihm fernhalten kann. Wie abscheulich! Diese Vorstellung verursacht Brechreiz, wenn man nur daran denkt. Ganz offensichtlich erscheint eine Freundschaft unvorstellbar und unwahrscheinlich, nachdem man eine aufrichtige Liebesbeziehung miteinander erlebt hatte. Vielleicht Jahre später… Obwohl, man müsste in der Lage sein, all das zu verzeihen, was zur Trennung geführt hatte.

Stéphanie zeigte Franck die Leinwände mit ihren neuesten Werken. Ihr Stil neigte zum Surrealismus und konnte nur schwer beschrieben werden, so sehr verschmolzen die menschlichen Gestalten, die oft deformiert waren, mit einer äußerst chaotischen Atmosphäre. Trotzdem war es ihr noch nie geglückt, ihre Werke auszustellen. Franck zweifelte nicht daran, dass die ruhmreichen Zeiten seiner Freundin noch kommen würden. Ihr Talent sprang ins Auge. Sie verließ sich nicht nur auf ihre Kunst, um Geld zu verdienen, sie arbeitete auch in einem Büro für eine Firma, die Griffe für Kühlhäuser verkaufte. Sie kümmerte sich am Telefon um die kaufmännischen Beziehungen zu den Kundenunternehmen. Dabei langweilte sie sich zu Tode. Sie nutzte jedoch die Gelegenheit, um einige der potenziellen Käufer anzubaggern, die dann für eine Nacht ihre Liebhaber wurden. Diese Arbeit war ihr Mittel, die jährlich steigenden Lebenshaltungskosten zu stemmen, die uns von der Funktionsweise unsere Gesellschaft, die dabei ist zu zerfallen, aufgezwungen werden, und die die immer neuen Führungspersönlichkeiten unbedingt aufrecht erhalten wollen, da sie Angst haben, ihre Vorteile einzubüßen, denn sie sorgen sich nur um sich selbst, während die Bevölkerung – die Bürger – von dem Joch immer neuer unverdaulicher Gesetze erdrückt und missachtet werden.

Nach einem guten Teller Nudeln und nachdem sie den Film Kabinett außer Kontrolle gesehen hatten, in dem unsere schändlichen Regierungen verhöhnt werden, kehrte Franck nach Hause zurück.

Im Zug hatte er wieder an Svetlana gedacht. Er hatte gezögert, sie anzurufen und sei es nur, um seine Neugier zu befriedigen, ob die Nummer richtig oder falsch war. Er hatte sogar schon angefangen eine SMS zu schreiben, die einfacher zu verfassen war, als einen Anruf zu tätigen, ohne im Voraus zu wissen, worüber man wohl sprechen könnte. Nach reiflicher Überlegung hatte er davon abgesehen, sie abzuschicken. Er hatte gefürchtet, dass diese Nachricht, in der er sich nach ihr erkundigte, zu voreilig wäre, und dass die junge Frau nach ihrer Lektüre nur wünschen würde, Abstand von diesem Mann zu gewinnen, der noch ein Unbekannter war und der neugierig danach fragte, wie ihr Tag verlaufen war.

Am nächsten Morgen wurde Franck um 7 Uhr von seinem vibrierenden Telefon aus dem Schlaf gerissen. Er hasste es, wenn seine Nacht auf diese Weise verkürzt wurde. Die Lösung hätte darin bestanden, das Gerät auszuschalten, aber es diente ihm auch als Wecker. Normalerweise stand er so gegen 9 Uhr auf. Obwohl kein besonderes Programm auf ihn wartete, nutzte er die Zeit, um Filme zu gucken, in Büchern zu schmökern, Bier mit seinen Freunden zu trinken, während sie Neuigkeiten aus ihrem jeweiligen Leben austauschten. Manchmal blieb er zu Hause, um im Internet zu recherchieren und um über eine mögliche Fotoreportage, die er verwirklichen könnte, nachzudenken. Ab und an las er die Stellenanzeigen. Diese Recherche stürzte ihn in einen Zustand, der einer Depression nahekam. Die immer gleichen Anzeigen wiederholten sich ohne Unterlass. Aber wenn er an die Unternehmen schrieb, hielten diese es nicht einmal für nötig, ihm zu antworten. In seinem Berufsfeld gab es nichts, außer im Winter Porträts vom Weihnachtsmann zu machen oder den Fotografen in Schulen oder bei Hochzeiten zu geben. Franck hatte diese Jobs schon gemacht und fand sie so langweilig und eintönig… Sie besaßen keinerlei künstlerischen Wert. Es gab nichts, das ihm auf lange Sicht gefallen würde.

Wenn er unterwegs war, um Reportagen zu machen, inspirierten ihn Dreck und Elend. In Paris gab es davon viel und das, was es gab war furchtbar! Postkartenmotive zu fotografieren interessierte ihn nicht. Jedem das eigene kreative Universum.

Franck hatte sich die Augen gerieben. Auf dem Handydisplay wurde eine SMS angezeigt, die von Svetlana kam. Diese Überraschung hatte ihn aus dem Bett springen lassen. In der Nachricht erwähnte Svetlana, dass sie am kommenden Sonntag nichts vorhätte. Sie würde sich freuen, wenn ihr ein Reiseführer ein schönes Pariser Viertel zeigen könnte. Sie hatte ihre Nachricht mit einem unschuldigen, lächelnden Smiley beendet. Franck war überrascht, dass er diese SMS bekommen hatte und große Freude überwältigte ihn. Er musste sich nicht mehr den Kopf zermartern, ob er sie kontaktieren sollte oder nicht, sie hatte das soeben als erste getan. Dieser Schritt bedeutete ihm viel. Diese Frau schien aufrichtig zu sein und sie wollte ihn wiedersehen, mit ihm spazieren gehen und ihn kennenlernen. Vielleicht wollte sie auch etwas mehr? Hier bildete sich Franck sicherlich etwas zu viel ein. Diese Begeisterung würde ihn die drei Tage lang, die ihn von dem Rendez-vous trennten, bei guter Laune halten. Die seelischen Qualen durch die Erinnerungen an seine verflossene Liebe, begannen bereits zu verblassen. Franck fühlte sich vollauf bereit für eine neue Beziehung. Er hatte sofort geantwortet. Er hatte die Gelegenheit genutzt und ihr seine E-Mail-Adresse zukommen lassen. Svetlana hatte darauf reagiert, indem sie ihm ihre gab, wieder gefolgt von dem gleichen Smiley, wie in der vorangegangenen Nachricht. Dieses einfache Symbol ließ bei diesem so kurzen Schriftwechsel so viel Liebenswürdigkeit erkennen, dass er überzeugt war, einem wunderbaren Mädchen begegnet zu sein.

 

An diesem Abend hatte Franck vor dem Computerbildschirm ausgeharrt. Er hatte Svetlanas Kontaktdaten beim Instant-Messaging-Dienst Skype eingetragen. Plötzlich hatte sich diese Unbekannte, auf die er sehnlichst wartete, eingeloggt. Sie hatte ihm von ihrer Tätigkeit erzählt und ihm von all ihren Sorgen berichtet, als wäre Franck ein enger Vertrauter geworden, den sie schon seit vielen Jahren kannte.

Bei ihrer Arbeit, erklärt sie ihm, war die Stimmung nicht die fröhlichste. Die Geschäftsführerin griff die Verkäuferinnen an und bezeichnete sie als unfähig. Es gab Diebstähle und niemand bemerkte auch nur das geringst, nicht einmal der Wachmann. Hysterisch und paranoid, beschuldigte sie daher der Reihe nach jede ihrer Mitarbeiterinnen und bildete sich sogar eine interne Verschwörung gegen ihre Person ein.

Die meisten ihrer Kolleginnen kamen aus dem Ausland. Die Leute träumten davon, Frankreich zu entdecken und kamen zur Sommersaison ins Land, in der mehr Arbeitskräfte gebraucht wurden. Außer Svetlana, die aus Russland kam, war da noch eine Moldawierin, zwei Ukrainerinnen, eine Chinesin und eine Brasilianerin. Zwei Französinnen vervollständigten das Team. Ihre Chefin war ebenfalls Französin, mit koreanischen Wurzeln durch ihre Eltern. Die Frau, die im Augenblick die Boutique leitete, war Französin. Dieses Geschäft war ein wahrer Melting-pot. Einige der Verkäuferinnen sprachen kein Wort Französisch. Sie glichen diesen Mangel durch ihre Englischkenntnisse aus, die sie brauchten, um mit den Kunden zu sprechen, bei denen es sich vorwiegend um Touristen handelte, die Französisch nicht verstanden. Svetlana konnte die Sprachen üben, die sie gelernt hatte. Sie fand, dass das der einzige Vorteil bei ihrer Arbeit war.

Sie hatten beschlossen, im Montmartre-Viertel spazieren zu gehen. Svetlana hatte Paris noch nicht richtig besichtigen können. Jetzt, wo sie mehr Zeit zur Verfügung hatte, wollte sie das nachholen. Sie hatte gerade einmal den Eiffelturm besichtigt… und das nur von außen. Als Svetlana den Metallkoloss erblickt hatte, hatte sie sich gesagt: „Was? Das soll der berühmte Eiffelturm sein? Das ist doch nichts außergewöhnliches!“

Ihre ukrainische Freundin, die sie begleitet hatte, hatte überhaupt keine Reaktion gezeigt. Dieses Monument, das in der ganzen Welt bekannt war als Symbol für das Frankreich der „Freiheit“, hatte bei den beiden Frauen nur eine armselige Wirkung gehabt, weit entfernt von der ersten Begeisterung, die sie vielleicht vor ihrer Ankunft beim Anblick diverser Bilder verspürt haben könnten. Der ganze Zauber eines Fotos liegt in der richtigen Einstellung des Verschlusses, der die Belichtungsdauer bestimmt, und der Öffnung der Blende, die das Licht hindurch lässt. Die Wahl der Brennweite sollte einen guten Aufnahmewinkel und einen klugen Bildausschnitt haben, was jedem Trugbild Leben einhauchen kann.

Svetlanas Zeitmangel, der ihre Ausflüge seit ihrer Ankunft eingeschränkt hatte, war durch eine Jahresabschlussarbeit entstanden, die sie noch nicht beendet hatte und die sie schnellstmöglich bei ihrem Professor abgeben musste. Um ihre Leidenschaften – Kunst und Französisch – zu verknüpfen, hatte Svetlana einige Lieder aus dem Film Die Regenschirme von Cherbourg ins Russische übersetzen und untertiteln wollen. Das war ihr französischer Lieblingsfilm. Trotz einer kleinen Verspätung in Hinblick auf den vereinbarten Abgabetermin, hatte Svetlana die Arbeit, nachdem diese einmal fertiggestellt worden war, via Internet eingereicht. Anschließend hatte sie die Bestnote dafür bekommen. Was für eine Freude! Sie konnte sich jetzt sicher sein, dass sie zum fünften und letzten Jahr zugelassen wurde, und noch dazu mit einer Auszeichnung vom Lehrer. Nach so viel harter Arbeit hatte sie sich das Recht auf eine Auszeit als Belohnung verdient und darauf, sich so viel zu vergnügen, wie sie wollte.

Während der 3 Tage Wartezeit, hatte Franck eine E-Mail von Elias, einem seiner Freunde erhalten, mit dem er den gleichen Studiengang belegt hatte, und der danach aus unerfindlichen Gründen zum Kino gewechselt hatte. Einige Jahre später folgte Franck ihm nach. Elias rechtfertigte seine Wahl mit einem Zitat aus dem Film Der kleine Soldat von Jean-Luc Godard: „Fotografie ist Wahrheit und der Film ist 24-mal Wahrheit in der Sekunde!“ 24-mal die Wahrheit in der Sekunde… Dieser Gedanke setzt so viel Weitsicht voraus, dass es keine Worte gibt, die das Gefühl beschreiben können, das man dabei empfindet.

Elias war ein ziemlich begabter Filmemacher in seinem Genre geworden, einem Film-Genre, das zwischen Genie und Wahnsinn schwankte und das dieser snobistischen Branche einen heftigen Seitenhieb verpasste. Eine Branche in der sich eine „große Familie“ von hinterhältigen Personen versteckt, in der sich viele Menschen hassen, aufeinander eifersüchtig sind, oder einem ohne ersichtlichen Grund übel mitspielen.

Elias hielt sich für zwei Monate im Libanon auf. Er arbeitete an seinem zweiten Spielfilm. So wie sein erstes Projekt, würde diese Produktion dank einiger großzügiger Mäzene finanziert werden, die einen engen Freund Elias kannten, und die nichts im Gegenzug dafür verlangten. Die Herstellungskosten für das Werk würden sich auf nicht einmal 5.000 Euro belaufen, wobei er sich mit einigen engen und begeisterten Freunden umgab, die an seine Arbeit glaubten. Elias teilte Franck in seiner E-Mail mit, dass das Drehbuch bald fertiggestellt sein würde. Seinen libanesischen Freunden und seiner Familie ginge es gut. Er saugte die Freiheit in sich auf, weit entfernt von der beklemmenden Atmosphäre in Paris, weit weg von seinem erbärmlichen 15-Quadratmeter-Palast, einem Lebensraum, der die Grundfläche eines seiner Bäder im Libanon hatte, und in seinen eigenen Worten: „die Größe meines Scheißhauses!“

Paris… das künstliche Herz Frankreichs. Stadt der Opfer und des Leidens in der Hoffnung, es eines Tages „zu schaffen“.

Franck hatte ihm auf seine Nachricht geantwortet. Er hatte ihn an seinen banalen Erlebnissen der letzten Tage teilhaben lassen, und ihm haarklein berichtet, wie er dem Blick einer hübschen Russin begegnet war, die es ihm eventuell ermöglichen würde, die zu vergessen, die ihn in den letzten Woche so sehr hatte leiden lassen: seine letzte Freundin, die ebenfalls Ausländerin war. Er betrachtete sie nur noch als eine flüchtige Geliebte für die Zeit, wenn sie nach Paris kam, um sich zu entspannen und zu vergnügen, was regelmäßig ein- bis zweimal im Jahr passierte. Franck versprach, ihn auf dem Laufenden zu halten, sollte sich etwas mit der jungen Frau ergeben und empfahl ihm, die Ferien in der Sonne zu genießen, bevor er wieder in dem grauen Paris in Klausur gehen würde.