Buch lesen: «Transzendierende Immanenz», Seite 6

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Gleichberechtigt mit dem präsentativen ist das repräsentative Bewusstsein, mit der Richtung auf Phänomene die Richtung auf Sinn und Bedeutung.38

Mit diesem Schritt verlässt Plessner die schwankenden Untersuchungen der Psyche und unternimmt den Schritt ins Objektive, die „Formen der faktischen Kultur“39, in denen er einen Garant, ein Organon der geistigen Möglichkeiten des Menschen entdeckt. Damit auch tritt methodisch die Untersuchung in eine neue Phase ein und schreitet voran: von der prinzipiellen Beschreibung der Phänomene und deren Einordnung in das sich mitteilende Schema der Dreiteilung, in die Interpretation der vorliegenden Sinngehalte des Verständnisses mit ihrer Verkörperung in den Werken der Kultur. Plessner betritt mit dieser Kombination der wissenschaftlichen Verfahren sein ureigenes Terrain, das der hermeneutischen Phänomenologie:

Allerdings wird Plessner dann hier im Rahmen seiner Hermeneutik des Lebens den rein deskriptiven Ansatz im Hinblick auf einen deskriptiv-hermeneutischen Ansatz im Sinne einer ‚hermeneutischen Phänomenologie‘ erweitern.40

Im Unterschied zu Prietowicz sehe ich allerdings diese methodische Erweiterung schon hier in seiner Die Einheit der Sinne am Werk. Denn was ist die Einarbeitung der „Wesen und Arten des Verstehens“41 in das vorher ausgearbeitete Schema der Sinnesmodalitäten anderes, als eine Auslegung, also eine Interpretation, der Bedingungen der Möglichkeit eben jener Schemata, in denen die Gegenstände des Bewusstseins auftreten? Allerdings muss die deutende Phase dieser Analyse den Charakter der Evidenz besitzen, damit sie als Fundament und Bedingung der Möglichkeit des Erkenntnisaktes wirksam werden kann. Von daher bleibt vorerst das methodische Hauptgewicht auf der phänomenologischen Beschreibung des Gegenstandes, ganz im Sinne Plessners: „Unter dem Eindruck der Sache selbst, […] der Wahrnehmung eines Vorgangs muss jede empirische Forschung ihre Arbeit beginnen.“42 Nun handelt es sich aber bei der Untersuchung nicht um empirische Forschung, sondern um eine „normwissenschaftliche Untersuchung des menschlichen Geistes“43, womit auf der einen Seite der korrekten Aufnahme der Tatsachen sowie der kritischen Einordung dieser, auf der anderen der Legitimität der Methode Genüge getan wurde.

Verständnis ist, ohne vom Dasein des Verstandenen abhängig zu sein, die Verbundenheit mit einem Sinngehalt durch das Vergegenwärtigen eines wie auch immer gearteten Inhalts in repräsentativer Form. […] Die repräsentative Haltung differenziert sich nach dem gleichen Prinzip wie die präsentative Anschauung.44

Der antreffenden Anschauung wird nun das Schema als Form des Gehalts zugewiesen, der innewerdenden Anschauung, das Syntagma und der füllenden Anschauung das Thema. Ihnen werden jeweils Wissenschaft, Sprache und Schrift sowie Kunst als die kulturellen Gestalten zugeordnet, welche in ihrer spezifischen Ausprägung Exempla der Anwendung der Anschauungs- bzw. Auffassungsreihen darstellen. An ihnen lieβen sich in hervorragender Weise die „Möglichkeitsfundamente des konkreten verstehenden Bewusstseins, nicht Inhaltselemente“45 ablesen. In Mathematik, Sprache und Schrift und Musik – genauer: absoluter Musik – als den reinen Ausprägungen für Handeln, Kundgabe und Ausdruck finde die Einteilung des Sinnenverstehens ihre exemplarischen Gegenstände:

Stetig verengt sich bei konstant bleibender auffassender Haltung das geistige Blickfeld vom puren Erfassen der Anschauungsgehalte im Licht des bloßen „Als“ zur Auffassung „als etwas“ und zuletzt „als dieses“.46

Thematisch werden Erscheinungen aller Dinge erfasst und „der synoptischen Kraft des Geistes kann nichts in der Welt, nicht er selbst Widerstand leisten.“47

Sie treten damit unter die ästhetische Wertgebung des Gegensatzes vom Hässlichen und Schönen, ohne dass damit ein Etwas schon als ein bestimmtes Etwas erfasst wäre. Es bleibt bei der Vereinzelung der Erscheinung, die unterste Stufe der Sinngebung im reinen „Alscharakter“48 und der freien Deutung überlassen. Erst wenn die Stellvertretungsfunktion der syntagmatischen Stufe eintritt, Zeichen und Bedeutungen sich bemerkbar machten, werde die Erscheinung präzisiert, stelle zu ihrem Sinn sich ein Meinen mit ein, gehe über sie hinaus und weise doch wieder auf sie zurück. Auf dieser Stufe werde der Streit um Meinungen oder die Einhelligkeit intuitiv erfasst, sei nicht objektiv entscheidbar oder zwingend. Erst wenn die letzte Einschränkung der Beliebigkeit des Meinens auf der schematischen Stufe mit der Bestimmung des Begriffs erreicht sei, würden Urteile bestimmt, gehe die Freiheit der Deutung des Sinnes verloren. Erst dann, mit der Bestimmung des Erlebnisgegenstandes „als dieses“49, werde die Auseinandersetzung über wahr oder falsch objektiv entscheidbar. Diese stetige „Verengung des Blickfeldes der Auffassung des Bewusstseins“50, welche auch auf eine „immer größeren Eindeutigkeit des Sinnes und des Sinnverständnisses zustrebt“51, finde ihre Parallele im „Anwachsen der Gerichtetheit in der Bewegung“52. In thematischer Sinngebung forme der Schauspieler den Körper, verständlich für den Zuschauer, zu einem Ausdruck. Die „proportionierende Formung“53 des Leibes vergegenständliche den zu kommunizierenden Sinn. Die „stimmgebende Geste des Verlautens“54 stehe am Beginn der „syntagmatischen Sinnform des Bedeutens“55. Doch erst wenn Zeichenhaftigkeit erreicht werde, näherten wir uns der Sprache. Erst wenn mit den Zeichen ein gedachter Sinn verknüpft werden könne, komme Interindividualität ins Spiel, und neben den ursprünglichen Erscheinungen und Erlebnissen könne Sinn unabhängig von diesen kundgetan werden. Es werde eine Zwischenzone erkennbar, in welcher der Übergang vom echten Ausdruck – wie z.B. dem Schreck – in „stimmlicher Entladung einer Erregung“56 zum symbolischen Gebrauch eines akustisch geformten Zeichens sich überlappe. Plessner verweist dabei auf Herder und Humboldt, spricht sich jedoch gegen eine wie auch immer geartete Sprachursprungsthese z.B. aus einer Verlautung des erschrockenen Urmenschen aus. Vielmehr verweist er auf einen physiologisch-haptischen Zusammenhang zwischen Laut – sprich Stimmbänder und Atmung – und Gemütsbewegung hin, welcher sich neben der Geste und ob seiner Glieder- und Formbarkeit der künstlichen Symbolik leihe. Diese Charakteristik des sprachfähigen Materials, also Formbarkeit und Gliederbarkeit, ermögliche erst die präzisierende Funktion von Sprache und Schrift. Denn sie könne dem im „psychischen Sein“57 sich spiegelnden Erlebnis angepasst werden. Diese Tätigkeit wiederum, ihrerseits verstanden im Haltungsbild der Handlung, leite zur nächsten Stufe, der schematischen über, auf welcher der Gegenstand „als dieser“ begrifflich bestimmt „motivierte Bewegung“58 durch Entschluss ermögliche. Sei es, dass ein sprachlicher Ausdruck gesucht oder dass ein Zweck bestimmt werde, dem dann entsprechend motivierte Handlungen nachfolgten. Im besonderen Maße sei es die Technik, eine „Nutzanwendung wissenschaftlicher Einsichten“59, welche die entsprechende Haltung des Leibes auf einen genauen, in der Zukunft liegenden Gegenstand bestimme. Ermöglicht werde diese klare Zielgerichtetheit durch die Bestimmung dieses Gegenstandes und der Mittel zu seiner Erreichung als ein dieses. Verbindet man die in diesen Reihen zum Ausdruck kommenden Beziehungen „zwischen Sinn und Haltung, Geist und Leib“60, so kann man die „Verschmelzung“61 geistiger und sinnlicher Größen konstatieren: „Versinnlichung des Geistes, Vergeistigung des Sinnlichen nach einem neuen Gesetz, das auf unsere Frage nach der sinngemäßen Notwendigkeit unserer Sinnesorgane eine befriedigende Antwort erteilt.“62

Der Leib und die Gegenwart von Geist

Nach dieser Synthesis widmet sich Plessner der genaueren Betrachtung des Gehörs, des Gesichtssinnes und der zuständlichen Modalitäten.

Das Kapitel der Ästhesiologie des Gehörs gehört zu den zentralen Abschnitten der Ästhesiologie des Geistes. Denn Plessner beschreibt hier das Phänomen der „Adäquation der Ausdrucksbewegung zum Ausdruckssinn: im Tanz zur Musik“1. Nicht allein die Tatsache, dass beide, Musik und Tanz, Kunstformen sind, die in der Zeit sich abspielen, verbinde sie, sondern besondere Aufmerksamkeit verdiene die Tatsache, dass beide Kunstformen im Ablauf bewegter Elemente Sinngehalte darstellten, welche gegenseitig – musikalisch, tänzerisch – vermittelt werden könnten, und zwar nicht nur in der Form einer einfachen Reaktion des einen auf das andere, sondern in der „Angleichung der Leibeshaltung an den Sinngehalt“2. Hier werde in thematischer Form ein „Minimum an Ausdeutbarkeit“3 gegeben, welches sich in der Gliederung der Funktion der Ordnung4, in Arsis, Thesis und Synesis greifbar darstellt5. Gehörte noch die subjektive Zeitbetrachtung in diese Überlegung einbezogen, so stellt sich dringend die Frage:

wie kann gegenständliche Form (und das ist jede Tonlinie) einen so bezwingenden Einfluss auf Haltung und Bewegung des Leibes ausüben, dass er an die Gründe der Seele rührt und aus dieser Erregung seine plastische Kraft zieht?6

Weder Form noch Bewegung sind nach Plessner für den zwingenden Einfluss auf Haltung und Bewegung des Leibes verantwortlich, so dass allein noch der Stoff selbst übrig bliebe. Es sei das „Tonhafte am Ton“7, der akustische Stoff selbst, der als „Dauer“8 und schwellender Schall – „Nur ein Schall schwillt.“9 –, also dessen „voluminöser“10 Charakter, der in der Äquivalenz zur Haltung des Leibes, des stimmlichen Raumes: „Kopfton, Brustton, Tiefton“11, die Motivation zur Bewegung verständlich werden lasse.

Nur weil zur Förmigkeit des akustischen Stoffs die Schwellfähigkeit gehört, lassen sich Haltung und Geste dem Zug der Töne einschmiegen, glauben wir von ihm getragen zu werden, in ihm zu schwimmen, haben die Taktzäsuren Impulswerte, die Tonhöhen Lagewerte.12

Wenn in diesem Zusammenhang von Raum, bzw. stimmlichem Raum die Rede ist, gehe es nicht um die physikalische Bedeutung dieses Terminus. Es handele sich um einen phänomenalen Raum, welcher durch die Bewegung des Leibes in seiner sinnausdeutenden Haltung zur Musik von diesem selbst erschaffen werde13.

Die Akkordanz des akustischen Stoffs zur Haltung präzisiert scharf, soweit das in der Sphäre reinen Erlebens angeht, die ästhesiologische Bedingung der Möglichkeit sinnadäquater Gesten zur Musik. Sie ist also im strengsten Sinne die allgemeine Voraussetzung zum Verständnis und zum Ausdruck musikalischer Gehalte, sie ist ganz eigentlich die Bedingung der Möglichkeit der Musik schlechthin.14

Der Plessnersche Ansatz zu den Verstehensbedingungen der Musik steht in einem gewissen Widerspruch zu den Verstehensansprüchen die Adorno, welcher in seinen Ausführungen zu Typen musikalischen Verhaltens den idealen Hörer in jenem Menschen erkennt, der die Ordnungsstrukturen des musikalischen Geschehens im Ablauf – während des Erklingens – strukturell mitvollzieht15. Dieser Anspruch geht für Plessner am eigentlich musikalischen Werksinn vorbei. Der adornitische Hörer vergibt sich nach Plessner des Genusses am musikalischen Kunstwerk, denn er ist durch seine mitvollziehende Kenntnisnahme abgelenkt vom eigentlich musikalischen Kunstgeschehen in der Aufführung, dessen Sinngehalte er wohl ergreifend mitvollzieht, jedoch in einer ganz anderen Bewusstseinslage. Der plessnersche Hörer weist die einseitig intellektuelle oder kritische Betrachtung von sich, um sich vom grundsätzlich sinnoffenen – nicht sinnlosen – musikalischen Geschehen der „Sinngefüge“16 führen zu lassen. Dieser trifft in seinem Bewusstsein auf eine spezifische Leere, deren Fülle er wohl in der Musik erahnen, jedoch niemals wirklich dingfest machen kann.

Wenn die These der „Akkordanz des akustischen Stoffs zur Haltung die […] Möglichkeit der absoluten Musik und ihrer Ausdeutung im Tanz und Dirigieren“17 erklärt, und damit auf ein Sinngeschehen hinweist, verweist sie damit zugleich auf eine innere Affinität von Laut und Bedeutung. Sie verweist also mithin auf eine innere Beziehung zwischen Laut und Sprache, nicht hinsichtlich der Natur der Sprachzeichen, denn bei diesen darf es diese Beziehung nicht geben, da das Zeichen in seiner sprachlichen Funktion der Konvention dienen können muss. Insoweit jedoch, wie „Sprache Ausdruck von Erregung darstellt, fällt sie […] unter die Herrschaft der thematischen Sinngesetzlichkeit, die ihrer Natur nach wohl eine innere Beziehung zwischen dem Sinn und der Art des Ausdrucks kennt“18. Hier zeige sich die „natürliche Bevorzugung der Laute und Töne als Darstellungsmittel des Sinnes“19. Damit jedoch irgendein Tatbestand Gegenstand sprachlicher Darstellung werden könne, müsse er sich als seelischer Inhalt bemerkbar gemacht haben, und dafür bedürfe es eines Minimums an seelischer Erregung. Er müsse als „Stoff meines Erlebens“20 auftreten können. Auf der anderen Seite jedoch bedürfe das Bewusstsein zugleich der Abstandnahme zu dieser Erregung, damit ein sprachlicher Ausdruck gestaltet werden könne. Es gibt also einen Hiatus, der beide Sphären trennt, und ein Geschehen in der Sphäre des Geistes, welches sie vereint. In der vermittelnden Schicht des Erlebens spiegelten sich demnach die Inhalte der Welt, und diese wiederum gehorchten der sprachlichen Artikulation wie „Wachs den Händen des Bildhauers“21. Das dieses Sinngeschehen möglich ist, sei dem „Wesen der Präzisierbarkeit“22 geschuldet, welche die seelische Mechanik der Verbindung zwischen den materiellen Elementen und den syntaktischen Kategorien im Erleben forme. Präzisierbarkeit ist der Name des Sinngeschehens, nicht Präzision, oder gar Bestimmbarkeit. Es liege in der „Quellnatur“23 des Seelischen selbst, welches sich der ontologischen Feststellung im wahrsten Sinne dieses Wortes entziehe, denn seine Gestalten erschienen nur im Werden und verweigerten sich dem Zugriff als ein nur Gewordenes24.

Dieser ontologische Sachverhalt verweist auf ein Verwandtschaftsmerkmal zwischen der präzisierenden Sinngestaltung der Seele und der prägnanten Sinngestaltung eines musikalischen Kunstwerks, welches ob der Natur des akustischen Stoffes, wie die Seele selbst, Gestalten im Werden und niemals im Gewordensein zeigt. Es ist also die Analogie des seelischen Sinngeschehens in Sprache zu den Zeitkünsten, welche den hermeneutischen Zugriff des Bewusstseins auf die Kunstwerke auf der ontologischen Ebene ermöglicht und zugleich eine endgültige Deutung dieser verunmöglicht. Die ästhesiologische Untersuchung des Gesichts müsste eine entsprechende Vermittlungslinie für den hermeneutischen Zugriff des Bewusstseins auf die Dinge der Welt zeigen. Womit dann eine durchgängige Verbindung zwischen thematischen Inhalten im Deuten, den syntagmatischen Inhalten im Bedeuten bzw. Verstehen und den schematischen Inhalten im Bestimmen bzw. Definieren sich zeigte. Diese auf- bzw. absteigende Erkenntnisreihe erinnert stark an die der platonischen Politeia, eine Systematik, welche zwischen ontologischen und gnoseologischen Termini changiert. Plessner jedoch bleibt der gnoseologischen Seite treu, indem er das seelische Geschehen mit der Metapher des Spiegels erläutert. Die Bedeutung aber einer derart sich durchziehenden Erkenntnisreihe, der Geistdurchherrschtheit, liegt in der Annahme der Einheit des Menschen als Körper und Geist und bestätigte diese These, was die erklärte Absicht der Plessnerschen Schrift ist.

Der Geist arbeitet von zwei Seiten sprachbildend, vom Sinn her syntagmatisch, von der Anschauung her anteilnehmend und muss von diesen beiden Seiten her kooperierend vorgehen, um die Welt zu bedeuten.25

Mit dieser Systematik verweigert sich Plessner einer Beziehung seines Denkens zur Annahme einer Sprachentstehungsthese im historischen Sinne, die er den Tatsachenwissenschaften zuschreibt. Zugleich weist er auch die Annahme zurück, dass aus „physischer Organisation“26 auf geistige Wesenszüge, wie z.B. der Sprachentstehung mit Sicherheit geschlossen werden könne, welche wiederum tatsachenwissenschaftlich zu klären sei. Die Beweislage der Phylogenese des Menschen jedoch sei einerseits zu dürftig, andererseits die Parallelisierung von ontogenetischem und phylogenetischem Material zu unsicher und nicht beweisfähig genug, um diese Frage entscheidbar zu klären. Allerdings beansprucht Plessner, dass er mit seiner Ästhesiologie des Geistes ganz im Sinne von Herder und Humboldt die Frage nach der Sprache „im Ganzen der menschlichen Organisation und nicht etwa nur in seiner Physis oder in seiner Vernunft“27 zu verankern wisse. Dies ist ein bedeutender Vorteil seines theoretischen Ansatzes spekulativen Spracherklärungstheorien gegenüber.

Die Debatte zur Ästhesiologie des Gesichts28 beginnt Plessner mit der Befragung der neueren malerischen Strömungen der Zeit wie dem französischen Impressionismus oder der Kandinskyschen Idee der Erneuerung der Malerei aus dem Geiste der Musik und konstatiert: „Es gibt also keine Akkordanz des optischen Stoffes weder zur Haltung im allgemeinen noch zur Ausdruckshaltung im speziellen.“29

Die Farbqualitäten, behauptet er, hätten einen „Zustandswert“30, keinen Ausdruckswert wie der schwellende Ton. Ihnen ermangele es an Lagewert und Voluminosität, der Möglichkeit der „Akkordanz zur Haltung“31. Er wirft in diesem indirekten Frageverfahren an die modernen Strömungen der Malerei die Frage auf: „Warum ist bildende Kunst in ihrer thematischen Sinngebung an die Dinglichkeit in der Darstellung gebunden?“32

Er beantwortet diese Frage ausgehend von der Unwillkürlichkeit der Zeichengestalten und insbesondere der euklidischen Geometrie, denn sie sei „ebenbildlich zum figuralen Sinn der geometrischen Wahrheit“33. Auf diese Figur richte sich der Blick und aus dieser Gerichtetheit des Blicks ergebe sich die Natur des Sehens, die er Strahligkeit nennt:

Sondern die Funktion des Blickes enthält als Wesenszug die Strahligkeit, welche nötig ist, um in der Anschauung selbst Sinn auszudrücken und zu verstehen.34

Keine andere Wahrnehmungsart besitze diese Funktion wie der Blick. „In allen anderen Sinnen präsentiert sich das Ding als Quelle von Zustandsänderungen“35, nur der Blickstrahl erfasse das Ding an dessen Ort selbst. Darauf aufbauend kann er dann den Zusammenhang zwischen Gesichtssinn und Handlung benennen:

Griffigkeit des Gehalts, Gerichtetheit der ihn antreffenden Sehfunktion sind die Wesenszüge, auf denen die Akkordanz des Gesichtssinnes zur Handlung beruht.36

Der Blickstrahl umfasse das ins Auge gefasste Objekt gleichsam wie mit der Hand und isoliere dieses dem Organismus und dem Umfeld gegenüber, so dass dieser in einer bestimmten Beziehung zum Gegenstand, seinen Spielraum hinsichtlich des Gegenstandes ermessen könne. Obwohl es keine Akkordanz des optischen Stoffes zur Haltung, bzw. zum Ausdruck gebe, gebe es eine solche sicherlich zur Handlung, und es sei innerhalb bestimmter Grenzen wohl erlaubt, Redewendungen von der „erstarrten Musik und der flüssigen Architektur“37 gelten zu lassen. Allerdings nicht ob der Bewegung des Objekts, z.B. der Malerei – seien es abstrakte Muster oder die Farben allein –, sondern ob der Bewegung des Betrachters angesichts dieser optischen Objekte. Der Betrachter auf der Suche nach Verständnis bewege sich, gehe mit, taste mit den Augen die Objekte ab etc., in einem Worte, verändere seine eigene Haltung, um des Verständnisses Willen. Und an dieser Stelle stoßen wir wiederum auf den Körperleib als letztendliches Maß jeder Verständnisermöglichung.

Am Körperleib müssen die Betrachtungsgegenstände einprägsam ab-bildlich werden können, damit ihr Ausdrucksgehalt durch dessen Vermittlung plastisch werden kann: „Stets müssen wir solche Abbildungen auf den eigenen Leib und sein ideales Ausdruckssystem empfinden, um den Sinn eines Gebäudes auszukosten.“38

Im Sinne der bisher erarbeiteten Systematik müsse den zuständlichen Modalitäten, welche die Aufgabe der Vergegenwärtigung des eigenen Körpers haben, der seelische Kreis korrespondieren. Für eine ästhesiologische Untersuchung jedoch ergibt sich aus der Unmittelbarkeit des Sinnenstoffes als den Leibeszuständen die Unmöglichkeit einer Objektbetrachtung, wie es bei Auge und Ohr der Fall gewesen ist.

Aber, und das ist das Entscheidende, was auch immer wir erleben, wie auch die Weise des Erlebens sein mag, zur Gegebenheit des Psychischen gehört notwendig eine bestimmte sinnliche Erregtheit des Leibes.39

Gerade dieses Erleben des eigenen Leibes in seiner Erregtheit habe der „Körpertheorie des Leibes“40 Nahrung gegeben. Das Erleben finde sich im Leib eingeschlossen oder eingebettet wieder. „Seelische Wirklichkeit und Zustandssinne stehen im Verhältnis der Koinzidenz.“41 Im Unterschied zu den objektorientierten Sinnen von Auge und Ohr, welche zu diesem in einem Verhältnis der Akkordanz standen, müssten sich die zuständlichen Modalitäten im „Sinne der Einheit der Person“42 mit der seelischen Wirklichkeit im Verhältnis der Koinzidenz – einer einfachen Vergegenwärtigung – befinden. Ohne diese zweite Verhältnisform könnten Körper und Geist in der Einheit der Person und als Haltung wie auch als Handlung nicht zusammenkommen.

Somit schließt sich auch die Systematik bei der Eigenbetrachtung der drei Arten der Beziehungen des Geistes zum Körper: im Hören, Sehen und Fühlen vermitteln sich Geist und Körper einander.

Gerade aus dieser Vermittlungsfunktion von Körper und Geist bestehe also die Grundlage für die Einheit beider in der Person. Denn sie diene nicht allein zur Erklärung der „Beziehung des Geistes auf ein Objekt im Interesse der Wahrheit“43, sondern weit darüber hinaus „im Interesse des Sinnverständnisses überhaupt“44. Deshalb schreibt Plessner:

Die Ästhesiologie des Geistes ist die Wissenschaft von den Arten der Versinnlichung der geistigen Gehalte und ihren Gründen.45

Für ihn sind es gerade die Geisteswissenschaften – wir erinnern uns an die Methodologie des von Kant geliehenen indirekten Frageverfahrens – wie Kunst, Schrift und die Wissenschaften, welche Auskunft zu einer Theorie der sinnlichen Materie gebe und „uns den Sinn für die physische Organisation des Menschen aufschließt“46. Auf diese Weise lässt sich der Versuch wagen, „die Betrachtung der Naturgesetze einer umfassenderen Betrachtung menschlicher Verständnismöglichkeiten ein[zu]ordnen, um die elementaren Darstellungsweisen der Natur in ihrer Unmittelbarkeit zu begreifen.“47

Die naturphilosophische Absicht der Plessnerschen Ästhesiologie lässt sich klar erkennen. Er sucht die Möglichkeitsbedingungen der Natur des menschlichen Erscheinungsbildes der Welt herauszuarbeiten und bestimmt so die Sinnesmodalitäten weder als Künder subjektiver noch absoluter Gegenstände oder Gegebenheiten, sondern als Möglichkeitsformen der Erscheinung von unabhängigen Gegenständen oder Gegebenheiten für ein Bewusstsein, als objektive Formen der Welt für den Menschen, als Formen des menschlichen Milieus der Welt, und also als „elementare Darstellungsweisen der Natur in ihrer Unmittelbarkeit zu begreifen.“48

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