Buch lesen: «Die Akte Hürtgenwald»
Lutz Kreutzer
Die Akte Hürtgenwald
Kriminalroman
Zum Buch
Lauernder Tod Von der Frau verlassen, Fuß im Gips und dann auch noch wegen dieser Schlägerei mit dem Taxifahrer zum Aktenwälzen nach Stolberg versetzt. Es könnte besser laufen für Kommissar Straubinger. Da stößt er im Archivkeller der Stolberger Dienststelle auf die Unterlagen zum Todesfall eines Großindustriellen aus dem Jahr 1956. Bei Waldarbeiten im Gressenicher Wald soll der Magnat auf eine Weltkriegsmine getreten sein. Doch was hatte der schwerreiche Fabrikant im Wald zu suchen? Straubinger rollt den Fall neu auf. Sein einziger Zeuge ist der alte »Wolkenmaler«, ein offenbar verwirrter Künstler, der unweit einer verfallenen Bunkeranlage wohnt und ausschließlich den Himmel malt, stets ohne Horizont. Während Straubinger in die Vergangenheit eintaucht, kommt es zu einem weiteren Mord. Ein junger Belgier wird mit einer Axt erschlagen, ganz in der Nähe der Stelle, an der der Industrielle ums Leben kam. Ein Zufallsopfer? Oder wusste er zu viel über die Geheimnisse, denen Straubinger auf die Schliche zu kommen droht?
Lutz Kreutzer wurde 1959 in Stolberg geboren. Er schreibt Thriller, Kriminalromane sowie Sachbücher und gibt Kurzgeschichten-Bände heraus. Auf den großen Buchmessen in Frankfurt und Leipzig sowie auf Kongressen coacht er Autoren, ebenso richtet er den Self-Publishing-Day aus. Am Forschungsministerium in Wien gründete der promovierte Naturwissenschaftler ein Büro für Öffentlichkeitsarbeit, weshalb im Hörfunk und TV zahlreiche Beiträge über seine Arbeit gesendet wurden. Er arbeitete lange als Manager in der IT- und Hightech-Industrie. Seine beruflichen Reisen und alpinen Abenteuer nimmt er zum Anlass, komplexe Sachverhalte in spannende Literatur zu verwandeln. Seine Arbeit wurde mit mehreren Stipendien gefördert. Heute lebt er in München. Mehr unter: www.lutzkreutzer.de
Impressum
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Daniel Abt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Brigipix / Pixabay
ISBN 978-3-8392-6724-0
1956 – Montag, 21. Mai
Gressenicher Wald, 9.20 Uhr
– eine halbe Stunde vor dem Moment
Der alte Zweitakter machte einen Lärm wie ein Dutzend Hornissenschwärme. »Wie weit müssen wir noch fahren?«, rief der kleine Junge, nachdem sie die Waldlichtung »Buche 19« passiert hatten. Verkrampft hielt er seine Mutter umschlungen, die Hände in den Gürtel ihres Trenchcoats gekrallt. Er saß etwas erhöht auf dem Sozius, sodass er einem Sack Mehl gleich auf ihrem Rücken hing.
Die Mutter wendete den Kopf über ihre Schulter. »Die Kurve noch, dann sind wir da.«
Der Wald rechts und links war so dicht, dass die Blicke des Jungen keinen Meter hineindrangen. Die Mutter bremste und drehte kurz am Gasgriff, der 7-PS-Motor heulte ein letztes Mal auf, bevor sie ihn zum Absterben brachte. Sie kippte das dunkelgrüne Meldekrad der Wehrmacht, ein NSU 201 ZDB, nach links, um den Jungen absteigen zu lassen.
»Pass auf und verbrenn dich nicht am Auspuff!« Jedes Mal, wenn sie zusammen irgendwo hinfuhren, warnte sie ihn vor dem heißen Metallrohr. Und so achtete der Junge beim Absteigen darauf, das Bein weit auszustrecken, bevor er es über den Sattel schwang.
»Hier?«
»Ja, hier ist es«, flüsterte sie, »de Höll.« Sie bückte sich vor, riss die Augen auf und schnappte mit der Hand nach seiner Nase, wobei sie ein grimmiges Geräusch machte, als wolle sie ihn auffressen.
Der Junge schreckte zurück. »Nicht! Da krieg ich ja Angst!«
Es war das liebevolle Katz-und-Maus-Spiel zwischen Mutter und Sohn. Sie nahm ihn in die Arme und drückte ihn fest an sich. »Hör zu, mein Junge! Du bleibst dicht hinter mir, hörst du? Du machst keinen Schritt, ohne dass ich es dir sage, ist das klar?«
Der Junge nickte.
Die Mutter forderte ihn mit erhobenem Zeigefinger auf: »Sag es laut!«
»Ja, Mama, ich mach keinen Schritt.«
»Gut. Du weißt, hier gibt es immer noch Tote. Der Förster und der Dorfpolizist müssen ab und zu jemanden rausholen.«
»Ja, Mama, ich weiß. Minen. Sie liegen immer noch im Boden.«
»Man kann sie erkennen. Es ist eine ganz leichte Erhebung über ihnen.« Sie machte eine Bewegung mit der rechten Hand, als würde sie einem Hund den Kopf streicheln. »Aber wenn Blätter draufliegen … Man weiß nie. Wir gehen da auf keinen Fall rein, hörst du?«
»Wo gehen wir nicht rein?« Ängstlich sah der Junge sie an. »In de Höll?«
»Ja, hab ich dir erklärt«, mahnte die Mutter, »zu gefährlich.«
Der Junge ließ nicht locker. »Wieso heißt das so?«
»So nennen die Leute hier das nun mal.« Die Mutter holte zwei Baumwollbeutel aus der kofferartigen Motorradtasche aus Leder hervor und drückte sie dem Jungen in die Hände. »Wirst schon sehen.«
Seine viel zu große Jacke hing ihm bis zu den Knien und verdeckte fast komplett die kurze Hose. Seine Unterschenkel waren blau vor Kälte. Er hauchte in die Hände, rieb sie schnell und fest aneinander und hielt sie an seine Beine.
Die Mutter bückte sich, rubbelte seine Waden warm und sagte: »Bald bekommst du eine lange! Zum Geburtstag, wenn du acht wirst. Ich werde dir eine nähen, versprochen.«
Sie schoben die kleine Maschine hinter zwei Bäume und bedeckten sie mit Astwerk. »Damit sie niemand findet«, sagte sie lachend. »Das Gute ist, dass sich niemand aus den Dörfern hierhertraut. Außer uns beiden«, ergänzte sie flüsternd. »Und deshalb können wir die besten Pilze finden! Im späten Mai wachsen die ersten. Und die können wir gut verkaufen.«
Der Junge machte ein enttäuschtes Gesicht. »Nur verkaufen?«
»Nachdem wir uns kugelrund gegessen haben.« Sie lachte abermals und presste den Kopf des Jungen gegen ihre Brust. »Und wir nehmen nur die guten Pilze, die Steinpilze. Alles andere lassen wir stehen. Pilzschnitzel machen wir uns, die werden dir schmecken. Wirst sehen!«
»Hmm!« Voller Vorfreude leckte der Junge sich über die Lippen, rollte mit seinen Augen und rieb sich den Bauch.
Die Mutter gab ihm einen Klaps. »Und nun los, alles klar?«
Der Junge nickte. Sie schlichen einen kleinen Pfad entlang, und obwohl die Sonne bereits hell über dem dichten Wald hing, kam dem Jungen der Weg so düster vor, als würde es dämmern. Durch die eng gesetzten Fichten drang kaum ein Lichtstrahl. Nach einer Weile öffnete sich eine Lichtung.
Die Mutter blieb stehen und hob warnend die Hand. »Keinen Schritt weiter!«
Sie hatte ihm einige Male davon erzählt und er hatte so lange gequengelt, bis sie ihm versprach, ihn mitzunehmen. Für diese Stelle im Gressenicher Wald galt immer noch eine Betretungswarnung seitens des Forstamts, die Einheimischen wussten das. Und jetzt wurde dem Jungen schlagartig klar, warum die Leute dieses Inferno »de Höll« nannten. Er starrte auf ein monströses Chaos aus umgeknickten, explodierten und zerschossenen Bäumen. Zur Hälfte abgerissen, die Baumkronen am Boden, die trotz der Zertrümmerung noch Leben in sich zu tragen schienen, bizarr zerborstene Stämme, wild ineinander verhakt, rohes gesplittertes Holz, ein Mahnmal totaler Zerstörung.
»Hier hat der Krieg gewütet.« Ihre Stimme klang heiser und belegt. »Noch nicht lange her. Wenige Jahre, bevor du geboren wurdest, da ist das passiert. Und die Soldaten, die hier gestorben sind, die kamen aus der Heimat, wie ich damals, aus dem Osten. Viele Jungs, nur ein paar Jahre älter als du.«
Der Junge hatte kaum ein Ohr für seine Mutter. »Alles kaputt.« Seine Stimme bibberte. »Der ganze Wald geplatzt.« Er machte ein Knallgeräusch und ließ die gespreizten Hände auseinanderschnellen. Ängstlich sah er sich um und flüsterte: »Da ist was abgestürzt oder so.«
»Und überall Minen, vom Krieg, weil sie noch nichts weggeräumt haben.« Mit festem Griff packte sie ihn an der Schulter, sodass der Junge den Druck deutlich spürte. »Man muss ein Stück wegbleiben.«
»Aua!« Der Junge befreite sich mit einer schnellen Drehung. »Und hier hast du das Moped, die NSU, gefunden?«
»Ja, dahinten, am anderen Ende. Und den Mantel auch. Ich hab ihn umgenäht, er war mir viel zu lang.«
»Von wem war der?«, fragte der Junge.
»Von einem Soldaten.« Beiläufig hob sie die Schultern. »Hat ihn wohl liegen gelassen.«
Der Junge griff kurz nach dem dunklen Trenchcoat, sah auf die geflickte Stelle in halber Höhe und nickte.
»Und dahinten wachsen auch die besten Pilze.« Sie lächelte gütig. »Also, mein Liebling, sei schön vorsichtig«, mahnte sie ein letztes Mal, »und bleib immer dicht bei mir, hörst du?«
Dienstag, 24. März –
53 Jahre später
Köln
Es war zu heiß an diesem Tag, dabei war es erst März. Frau weg, zu viel Bier im »Colonia« und jetzt dieser Taxifahrer! Erst mokierte sich der Kerl über das »fremde Gesocks«, das die Stadt unsicher mache, und als Straubinger ihn bat, ihn nur nach Hause zu fahren und die Klappe zu halten, meckerte er, dass die Bayern ja genauso eine Pest wären. Die Bayern, eine Pest. Er, Straubinger, eine Pest! Das war zu viel.
Straubinger herrschte ihn an, er wolle sofort aussteigen. Doch der Taxifahrer gab Gas, raste um die Ecke und machte erst am Parkplatz vor dem Kölner Zoo eine Vollbremsung. Er beschimpfte Straubinger als Scheißbayer, bezeichnete, noch frecher, das Münchner Bier als Kotzbrühe und wollte zehn Euro zusätzlich. Schmerzensgeld, weil Straubinger im Gegenzug Kölsch als Rollmopspiesel bezeichnet hatte, wegen Beleidigung und so.
»Ja geht’s no?«, lallte Straubinger in breitem Oberbayerisch den Taxilümmel an. »Schmerzensgeld? Ja, da brauchst erst mal a richt’ge Watschn, damit’s überhaupt schmerzen tut!« Straubinger holte aus und verpasste dem Taxifahrer eine, dass es knallte.
Der Taxifahrer hielt sich die Nase. Straubinger griff nach seinen Sandalen, die er zuvor ausgezogen hatte, riss die Tür auf und stieg aus. Er warf fünf Euro auf den Beifahrersitz und schlug die Tür zu. In dem Moment gab der Flegel Gas.
Verflucht! Was war das? War der Scheißkerl ihm tatsächlich über den Fuß gefahren? Straubinger kippte wie in Zeitlupe nach hinten und sah, wie der Taxifahrer mit blutiger Nase, zitternden Lippen und gehässigem Blick zweimal zum Abschied mit der Faust auf die Hupe schlug und weiterfuhr. Straubinger fiel zur Seite, der Mistkerl überrollte mit dem Hinterrad ein zweites Mal seinen nackten Fuß. Es krachte.
Straubinger schrie auf. »Na wart, wenn ich dich erwisch, du Sau!« Mit schmerzverzerrtem Gesicht starrte er ihm nach. Er merkte sich das Kennzeichen, legte sich auf den Rücken und rief die 112.
Fast zwei Monate hatte Straubinger damit verbracht, seinen Fuß zu kurieren. Drei Platten aus chirurgischem Stahl hatten sie ihm eingebaut. »Da nutzt Titan dir auch nix mehr«, hatte der Chirurg gesagt. Komplizierter Mittelfußbruch. »Da brauchen wir was, was nicht reißt!« Mannomann, sein Fuß auf dem Röntgenbild glich eher einem Schraubenregal im Baumarkt als einem menschlichen Körperteil.
Heute war sein Entlassungstag. Er ließ sich direkt zum Dienstgebäude der Kölner Polizei fahren. Als er seine 105 Kilo an zwei Krücken hineinschleppte, trug er immer noch diesen Aircast-Schuh, der ihn ans Skifahren erinnerte.
Irgendwie hatte er sich auf die Kollegen gefreut.
»Zum Chef!«, schlug es ihm als Erstes entgegen. Kein »Wie geht es«, kein »Guten Morgen«, gar nichts.
Nanu, immerhin war er, Hauptkommissar Josef Straubinger, lange krank gewesen. Und er war im Gespräch als stellvertretender Leiter der Kölner Mordkommission. Kein freundliches Wort? »Auch einen schönen guten Morgen, Schmitz, heute eine Katze gefrühstückt?«
Kollege Schmitz reagierte nicht. Wie immer unfreundlich, übergriffig und dümmlich. Blöd wie ein Ochs am Spieß, dieser Kerl! Schmitz wartete nur darauf, Straubinger aus dem Weg zu räumen, denn er wollte seine Stelle haben.
Straubinger schnaubte. »Hey, Schmitz, ich rede mit dir!«
»Warst du Skifahren? Muss man auch können.« Schmitz hielt sich an seinem Kaffeebecher fest und sah auf Straubingers Fuß. »Aber schöner Schuh«, ließ er süffisant fallen.
Straubinger schüttelte den Kopf und humpelte den Flur entlang, klopfte an das Büro von Polizeirat Schmid. Er ging hinein, ohne abzuwarten. »Guten Morgen. Was gibt es denn so Dringendes?«
»Ah, Straubinger, wieder dienstfähig?«, fragte Schmid übertrieben höflich.
»Ich denk schon, wenn ich nicht grad einen Täter im Lauf überwältigen muss.« Er deutete mit dem Kopf auf sein Bein.
»Jaja, setzen Sie sich, Straubinger, setzen Sie sich!« Schmid nickte zu dem Stuhl vor seinem Schreibtisch. »Da denkt man, im Krankenhaus nimmt man ab, und dann … na ja.« Schmid lachte kurz und gequält und zeigte auf Straubingers Bauch. »Also, setzen.«
Straubinger blieb stehen.
Schmid warf ihm einen Aktendeckel hin. »Suspendiert. Bis auf Weiteres.«
»Was?« Straubingers Gesicht entgleiste.
Schmid lächelte und Straubinger hatte keinen Zweifel, dass sein Chef sich heimlich freute. In Köln waren sie gern unter sich, dachte Straubinger grimmig. Vielleicht war das der Grund, warum sie alle ähnliche Namen hatten. Schmitz, Schmid, Schmitt, Schmidt. Er war hier seit seiner Einstellung vor vier Jahren stets wie ein Gastarbeiter behandelt worden.
»Und, die Frau wieder zu Hause? Oder immer noch weg?« Schmid sah ihn an, als ob ihn das etwas anginge.
»Warum bin ich suspendiert?«
»Das mit dem Taxifahrer, das war zu viel.«
»Schmid, hören Sie, der Kerl war eine Zecke!«
Bevor Straubinger weiterreden konnte, fuhr Schmid ihn an. »Ja, und der Neffe des Herrn Staatssekretärs Schmied. Da haben Sie den Falschen erwischt mit Ihrem unnachahmlichen bayerischen Charme. Also! Einstweilen weg vom Dienst. Ich nehme an, Sie werden versetzt. Fällt Ihnen ja jetzt leichter, wo Sie wieder frei sind, also ohne Frau.« Schmid grinste dämlich.
Straubinger ließ sich auf den Stuhl fallen. »Versetzt? Wegen so einer Lappalie?«
»Lappalie?« Schmid schnauzte ihn an. »Der Mann hat einen Zahn verloren, seine Nase gebrochen, Blutverlust, psychisches Trauma!«
»Klar.« Straubinger blieb ruhig. »Und mein Bein hat nix.«
»Notwehr! Reine Notwehr, sagt der Taxifahrer! Und jetzt gehen Sie, Straubinger, bevor ich mich vergesse.«
Straubinger drehte sich weg und humpelte den Flur entlang. Scheißladen, dachte er. Irgendwie gut, dass er hier endlich rauskam.
Donnerstag, 11. Juni
Polizeihauptwache Süd, Stolberg
Die Inspektion 2 der Polizei Aachen lag auf einem Hügel oberhalb der Stadt Stolberg. »Polizeihauptwache Süd, Stolberg«, so lautete der Name der Dienststelle offiziell. Zuständig für die Eifelgemeinden und für Stolberg, die alte Kupferstadt mit der hell leuchtenden Burg im Zentrum.
Seit Tagen hatte es nicht geregnet, ausgerechnet heute herrschte Sauwetter. Straubinger parkte seinen dunkelgrünen 74er-Volvo vor dem Gebäude der Wache und stieg aus. Der Himmel war schwarz, es hatte mächtig abgekühlt. Eine Böe packte ihn, bevor schwere Regentropfen auf das Dach seines Autos prasselten. Er schlug den Kragen seines englischen Tweedjacketts hoch und ging auf das Zweckgebäude zu, dessen trostlose Austauschbarkeit ein hohles Gefühl von Leere in seiner Magengrube auslöste.
Straubinger wurde gleich zum Dienststellenleiter geschickt. Der Erste Polizeihauptkommissar Dietmar Müller begrüßte ihn überschwänglich, doch sein von Falten durchzogenes Gesicht verwandelte sich im Nu in ein fast trauriges Antlitz. »Hauptkommissar Straubinger, ich weiß nicht, ob das wirklich so sein soll. Sie sind uns zugeteilt. Was haben Sie bloß angestellt? Sie müssen sich ja wirklich was Übles geleistet haben.«
»Inwiefern?« Straubinger prüfte Müller mit skeptischem Blick.
»Sind Sie nicht bei der Mordkommission gewesen?«
Straubinger nickte. »In der Tat.«
»Und nun hat man Sie hierhergeschickt, um Ordnung in unseren Keller zu bringen?« Müller, das erkannte Straubinger, war das alles sehr unangenehm. »Das ist wirklich eine Strafexpedition, HK Straubinger.«
Straubinger hörte ihm zu, ohne zu antworten.
»Eines muss klar sein! Sie machen keinen Außendienst. Ich brauch dringend jemanden, der das erledigt. Und Sie, so leid es mir tut, wurden nun mal zu uns geschickt.«
»Jaja, das ist in Ordnung. Ich beschwere mich nicht. Was also soll ich tun?«
Müller seufzte und lehnte sich zurück. »Wir haben vor einigen Jahren eine Kollegin zugeteilt bekommen. Hatte zwei Jahre Elternzeit hinter sich, und«, er beugte sich konspirativ nach vorn und hob die Hand an den Mund, »sie hatte, wie sich herausgestellt hat, keine Lust zu arbeiten. Nur ihr Kind im Kopf.« Er lehnte sich wieder zurück. »Kann man ja irgendwie verstehen. Und wissen Sie was, Kollege? Ich hab lange überlegt, was ich mit ihr machen soll. Dann kam aus Aachen die Anweisung, unseren Keller zur Verfügung zu stellen für jede Menge Akten.«
»Warum? Die lagern doch sicher zentral im Polizeipräsidium, oder?«
»Ja, das stimmt schon. Aber das Präsidium in Aachen platzt aus allen Nähten. Dabei ist es noch keine 30 Jahre alt, Fehlplanung, wenn Sie mich fragen. Da mussten die Sachen teilweise ausgelagert werden. Und man hat das Zeug in Lkw-Ladungen hierhertransportiert. Da hab ich mir gedacht, das ist was für die Kollegin, und hab sie drauf angesetzt, irgendwie für Ordnung zu sorgen. Das war ein Fehler.« Er seufzte nochmals.« Jetzt herrscht Chaos im Keller! Sie hat Fallakten und zugehörige Asservate wahllos in diese wunderschönen Regale gestopft, die man uns aus einem ausgemusterten Archiv, was weiß ich wo, hierhergebracht hat. Das Magazin ist sozusagen unbrauchbar.«
»Und sie hat nichts verzeichnet?«
»Den Eingang schon, aber den Lagerort hat sie nie festgehalten. Nix. Unauffindbar.« Er atmete tief durch, legte die Hände zusammen und sah Straubinger an. »Und jetzt haben wir jemanden beantragt, der System in das Durcheinander bringen soll. Jemanden mit Erfahrung in der Polizeiarbeit wollten wir haben. Und nun hat man Sie geschickt, einen Hauptkommissar! Was haben Sie bloß angestellt?«, fragte er erneut und raufte sich kurz die Haare. »Da werden Sie Monate dran knabbern, HK Straubinger.« Müller setzte eine Mitleidsmiene auf, als würde er ihn in die Unterwelt zur Reinigung der Abwasserkanalisation schicken.
»Machen Sie sich keine Sorgen. Ich wurde vorgewarnt. Es muss Ihnen nicht peinlich sein. Ich hab schon ganz andere Sachen machen müssen. Zeigen Sie mir, wo ich hinsoll. Den Rest schaffe ich schon. Und was meine Untaten betrifft, ich hab bloß einen Taxifahrer vermöbelt. Der hatte es verdient. Aber er hatte die falsche Verwandtschaft.«
»Sieht ja eigentlich ganz ordentlich aus.« Straubinger schaute sich in dem fensterlosen Raum mit den Archivregalen um, auf denen jede Menge abgelegte Gegenstände und Akten herumlagen.
Die junge Polizistin, die zuvor die feuerfeste Stahltür geöffnet hatte, grinste. »Na ja, versuchen Sie mal, hier was zu finden.« Für einige Sekunden starrte sie in seine tiefbraunen Augen und schien kurz in seinem Blick gefangen zu sein.
Straubinger streckte sich und fuhr sich durch die schwarzen lockigen Haare. Prüfend ließ er seinen Blick zwei Sekunden auf ihr ruhen, woraufhin sie rot anlief. Er schlug die Augen nieder und sah zu dem großen Metallschrank am Ende des Raums. »Was ist da drin?«
»Ach, das ist ein alter verstaubter Schrank, der stand schon immer hier. Waren früher Kisten mit Lampen, altes Schreibtischzeugs, Schreibmaschinen und so drin.« Verschwörerisch beugte sie sich vor und flüsterte: »Der Chef, der schmeißt nicht gern was weg, verstehen Sie?«
Straubinger nickte und setzte eine konspirative Miene auf.
»Jetzt hat die Kollegin erst mal die alten Fälle reingepackt … äh … soweit ich weiß«, stammelte sie. »Aus den eingemeindeten Gebieten.«
»Aha, eingemeindete Gebiete.« Straubinger sah sie erneut an. »Was ist das?«
Mit beiden Händen rückte sie ihren Gürtel zurecht. »Na ja, all das, was in den Stadtteilen passiert ist, die damals noch eigenständige Gemeinden waren, Breinig, Venwegen oder Gressenich.«
»Gemeinde Gressenich, aha. Hört sich geheimnisvoll an.«
»Ist es auch irgendwie. Dörfer rund um Stolberg, die in den 70er-Jahren der Stadt zugeschlagen wurden. Damals hatte fast jedes Dorf eine eigene Polizeiwache. Mit einem Polizisten, den jeder kannte, und so.« Sie sah auf die Wanduhr. »Ich muss leider …«
»Nur noch eine Frage. Müssen die Akten in dem Schrank auch neu sortiert werden?«
»Nee, da ist ja in den letzten Jahren niemand rangegangen. Nicht so wichtig. Aber so genau weiß ich das nicht.« Sie lachte. »Will eigentlich keiner wissen.« Dann tippte sie auf ihre Armbanduhr, hob verlegen die Schultern, wandte sich zum Gehen und winkte zum Abschied. »Viel Spaß hier unten.«
»Jaja, klar. War schön, Sie kennenzulernen. Und lassen Sie die Tür bitte offen.«
»Gemeinde Gressenich«, murmelte Straubinger leise, als sie den Raum verließ. »Was für ein klingender Name.«
Fünf Stunden lang hatte Straubinger Akten gesichtet, ihre Registriernummern herausgesucht und mit der Datei abgeglichen, die seine Vorgängerin so unfachmännisch angelegt hatte, dass er für jedes Stück beinahe eine halbe Stunde brauchte. Des Öfteren blätterte er in den Fällen und versuchte, sich nebenbei ein Bild über die Menschen dieser Stadt zu machen. Diebstahl, Kneipenschlägereien, Rauschgiftdelikte, Autoknacker, Sexualstraftaten, Neonazis, Brandstiftung, zwei Banküberfälle, schwere Körperverletzung. Eine Stadt wie viele andere. Eigentlich nichts Außergewöhnliches.
Immer wieder fiel sein Blick auf diesen Metallschrank am Ende des Raums. In dem Schrank gab es für ihn eigentlich nichts zu tun, Altfälle, bei denen davon auszugehen war, das sie sauber geordnet und abgelegt waren. Doch allein die Tatsache, dass der Schrank dort hinten stand, abgesperrt und lange unberührt, reizte ihn so, dass er sich irgendwann erhob und im Gehen an dem Schlüsselbund, den die Kollegin ihm übergeben hatte, nach dem passenden Schlüssel suchte. Er fand ihn, testete ihn vorsichtig und öffnete den Schrank. Staub wirbelte auf, den er zur Seite wedelte. Im Innern roch es muffig. Stehordner, Hängeordner und stapelweise verschnürte Aktendeckel. Alle zugebunden, mit einer Archivnummer versehen und anscheinend in der richtigen Reihenfolge abgelegt. Die älteste Akte, die er fand, war aus dem Jahr 1968. Schlägerei in einer Gastwirtshaft in Mausbach, Gemeinde Gressenich.
Hier schien nichts in Unordnung zu sein. Alles war sauber gekennzeichnet und sortiert. Als er gerade den Schrank schließen wollte, fiel ihm ganz unten am Boden, eingeklemmt zwischen Hängeordnern und Rückwand, etwas auf, was das ordentliche Gefüge zu stören schien. Ein verloren wirkender Aktendeckel, auf der Spitze stehend, irgendwie aus der Ordnung gefallen. Straubinger bückte sich, griff nach der ausgeblichenen grauen Pappe und zog sie vorsichtig heraus. Die Akte war sehr dünn. Merkwürdig, dachte Straubinger. Ein Aktenzeichen aus dem Jahr 1956. Ein Todesfall! Vorn auf dem Deckel stand mit Bleistift geschrieben: »Akte Hürtgenwald«.
Seine Neugier war geweckt. Ohne den Schrank zu schließen, begab er sich zurück zu seinem Tisch. Er zog an dem Knoten des Stoffbands und öffnete den Aktendeckel. Die Akte enthielt wenige Schriftstücke und zwei Fotos. An einem am Rand des vergilbten Papiers war das Porträt eines Mannes festgesteckt, helles Haar, bereits deutlich ausgedünnt, Seitenscheitel. Straubinger erschrak. Dieses Gesicht, es erinnerte ihn an jemanden. Aber an wen?
Auf der ersten Seite ein Name: »Heinrich III. Vandenberg, geboren am 13. Januar 1919 in Stolberg, gestorben am 21. Mai 1956, Gressenicher Wald, südlich ›Buche 19‹, Gemeinde Gressenich.«
Gemeinde Gressenich. Schon wieder dieser Name. Straubinger gab das Aktenzeichen in den Computer ein. Nichts. Dann »Akte Hürtgenwald«, wieder nichts, anschließend suchte er nach Vandenberg. Auch nichts. Entweder war die Mappe nach einer amtlichen Aktenvernichtungsaktion im Schrank vergessen worden oder jemand hatte sie versteckt, um sie vor der Vernichtung zu bewahren.
Er blätterte weiter. Die Buchstaben auf den dünnen Durchschlagpapieren waren kaum lesbar, die Typendurchschläge des Kohlepapiers hatten sich in dem Trägerpapier mit den Jahren ausgebreitet und waren verschwommen.
Auf der zweiten Seite stand noch einmal der Name Heinrich Vandenberg, wohnhaft im Kupferhof Blumenthal in Stolberg. Tod bei Waldarbeiten zwischen »Buche 19« und »Pflanzgarten«, durch eine Landmine. Wurde 37 Jahre alt. Dann standen dort der Name des Försters und der Name des Polizisten, die den Toten im Wald gefunden hatten, und der Name eines Mannes, der den beiden den Fund am 22. Mai gemeldet hatte.
Straubinger sah sich das Schwarz-Weiß-Foto des Mannes noch mal an. Ein gut geschnittenes Gesicht, dunkle Augen. Ein anmutiges, fast verstecktes Lächeln umspielte seine vollen Lippen, Falten entlang der Wangen, zweifellos ein Frauenschwarm seiner Zeit. Diese funkelnden, warmen Augen. Das Gesicht des Mannes strahlte neben der herben Männlichkeit auch etwas Gütiges aus. Vor mehr als 50 Jahren von einer Mine getötet. Ein weiteres Foto, das in einer flachen angeleimten Leinentasche am hinteren Deckel steckte, zeigte die Leiche, wie sie mit verdrehten Armen auf dem Waldboden lag, ein Bein komplett abgerissen, das andere Bein zerfetzt. Das abgerissene Bein hing hinter ihm in einem Baum. Sein Gesicht war deutlich zu erkennen. Er wollte das Foto gerade wieder zurückstecken, als ihm etwas auffiel. Im Vordergrund am unteren Bildrand erschien der Waldboden ungewöhnlich ebenmäßig. Straubinger öffnete mehrere Schubladen des Schreibtischcontainers und fand schließlich, wonach er suchte, eine große Lupe. Ein sehr schmaler Zipfel im Bildvordergrund hob sich ab vom umgebenden Waldboden. Allerdings war der Bildbereich äußerst unscharf, sodass man nicht erkennen konnte, was es war. Ein Stück Stoff vielleicht?
Straubinger war wie elektrisiert. Dieser Mann, einerseits hart und andererseits sensibel, wie er auf dem Foto wirkte, hatte Holzarbeiten im Wald gemacht? Irgendwas sagte ihm, dass das nicht alles war.
Er drehte das Foto um. Auf der Rückseite waren ein blauer Stempel, ein handgeschriebenes Datum und eine Unterschrift zu sehen. Der Stempel des Fotografen, die Stempeltusche mit den Jahren verlaufen. Karl Königforst, Mausbach, 22. Mai 1956. Das Foto war also einen Tag nach dem angegebenen Todesdatum des Heinrich Vandenberg entwickelt worden.
Ein letztes Mal betrachtete Straubinger das Foto der Leiche des Mannes. Es blieb die Frage: Was war das dort im Vordergrund? Er bewegte den Kopf langsam vor, blinzelte und schien nochmals in das Foto einzudringen. Als er es in die Leinentasche zurückstecken wollte, fand er darin einen kleinen Zettel und las.
»Na, HK Straubinger«, Straubinger erschrak, »haben Sie sich gut eingearbeitet?«
»Danke, ja, danke.« Straubinger steckte den Zettel zurück und legte Akte und Lupe beiläufig zur Seite. »Ganz schöner Wust hier.«
»Sie machen das schon.« Der EPHK Müller klang jovial wie ein liebevoller Patriarch. »Ab morgen bekommen Sie dann eine Assistenz.«
»Oh, die kann ich brauchen.«
»Warum steht die Tür offen?« Müllers Blick fiel auf den Stahlschrank am Ende des Raums.
»Hab mal reingesehen. Ich muss ja wissen, was überall herumliegt.«
»Da brauchen Sie nix zu machen. Altes Zeug aus den alten Gemeinden, braucht keiner mehr. Manche Akten aus den ehemaligen Polizeiwachen sind irgendwann bei uns gelandet, manche in der einzigen Wache, die heute noch existiert, in Vicht.«
Straubinger sah ihn fragend an. »Vicht? Heißt so nicht der Fluss, der durch Stolberg fließt? Der mit den alten Hammerwerken? Hab da was gelesen.«
»Ja, die Vicht ist ein Bach«, erklärte Müller. »Aber so heißt eben auch ’n Dorf.«
»Und da ist die letzte verbliebene Land-Polizeiwache?«
Müller nickte. »Nur eine einzige Wache mit zwei Kollegen für 17.000 Leute, die neun eingemeindeten Dörfer von Stolberg. Und den Schrank da, den können Sie wieder zumachen. Lassen Sie das Zeug außen vor.«
»Und wenn ein ungeklärter Fall wieder aufgerollt werden soll?«, fragte Straubinger. »Dann sollte man doch wissen, wo was zu finden ist.«
»Ungeklärter Fall? Fällt mir nichts ein.« Müllers Züge wurden nachdenklich, bevor er sich zum Gehen wandte.
»EPHK Müller?«
»Was denn, Kollege?«
»Ich hab eine Akte gefunden, ganz hinten, versteckt hinter den anderen Akten.« Er nahm das Schriftstück in die Hand und wedelte damit. »Ein Todesfall von 1956. Den würde ich mir gern mal näher ansehen. Die ›Akte Hürtgenwald‹.«
»1956?« Müller verzog das Gesicht und kratzte sein Kinn. »Ach das, ja. Der Fall Vandenberg, oder?«, fragte er und zeigte auf den Aktendeckel.
Straubinger nickte. »Ja, das ist der Fall.«
»Das war ich. Die hab ich dahinten hingesteckt. Die Akte hab ich vom ehemaligen Dorfpolizisten von Schevenhütte, Polizeiobermeister Matthes Wolfberg, ein guter Mann. Er hat den Fall damals intern ›Akte Hürtgenwald‹ genannt.« Müller deutete auf die Bleistiftschrift. »Er hat mich zur Polizei gebracht, alter Freund meines Vaters. Als er starb, ein paar Jahre nach seiner Pensionierung, hat seine Frau mir die Akte vertraulich übergeben. Sie erzählte mir, dass er sie stets gehütet hatte und davor bewahren wollte, vernichtet zu werden.«
»Und das hatte sicher einen Grund, nehme ich an.«