Buch lesen: «Die Krone der Schöpfung»
Lukas Bärfuss
Die Krone
der Schöpfung
Essays
Inhalt
I
Storytelling
Wahrheit und Wirklichkeit
Das Ulmensterben
Alle lachen, niemand weiß, worüber Zu Anton Tschechows »Der Kirschgarten«
Die Leere Zu einigen Bildern von Shirana Shahbazi
Söckchen und Gamaschen Zu Tizians »Verkündigung«
II
Postdemokratie?
Identitätspolitik
Bona Fide
Die Rabenmutter
Asia Level
Komplizen der Korruption
Das Unglück der Kleinfamilie
Natural Selection
Dark Mode
Die Erlösung durch Dörrobst
Jeder liest für sich alleine
Von Ochsen und Pferden
Symmetrische Demobilisierung
Anarchy in Switzerland
III
Der Tausch
Birnen schütteln
Über dem Alpenraum vorläufig eine stabile Lage
Im Réduit
Ohne Vorbehalt
Die schweizerische Todesverachtung
Ein sehr politisches Gefühl
Anhang
Nachbemerkung
Nachweis der Erstdrucke
Anmerkungen
Impressum
I
Storytelling
Sie werden die Situation kennen: Ein erfolgreicher Autor wird gefragt, wo er seine Geschichten finde, und dieser gibt folgende Antwort: »Ich finde sie auf dem Markt, im Zug oder in der Kneipe. Geschichten gibt es überall. Man muss sie nur erkennen.«
Das klingt plausibel. Erlebt nicht jeder, ob Autor oder nicht, täglich seine Geschichte? Komische, seltsame, oft traurige Legenden, die man vielleicht gefunden, aber gewiss nicht gesucht hat? Die Antwort ist einleuchtend, weil sie sich mit unserer Erfahrung zu decken scheint. Trotzdem ist sie nicht korrekt. Sie ist falsch. Die richtige Antwort müsste lauten: »Geschichten sind künstliche Gebilde. Natürlicherweise kommen sie nicht vor. Sie gehören in die Kategorie der Ideen, in den Bereich des Imaginären. Geschichten finde ich ausschließlich an einem Ort – und zwar in meinem Kopf.«
Geschichten prägen unsere Kultur, unser Leben, die Art, wie wir die Welt erleben. Und trotzdem weiß man in der Regel kaum etwas über ihre Struktur. Die wenigsten Menschen stellen sich die Frage, wie Geschichten zustande kommen, wie sie wirken und warum sie erfunden werden. Das ist bedauerlich, denn die Fähigkeit, Geschichten erzählen zu können, hat die Entwicklung des Menschen mehr bestimmt als das Feuer oder die Erfindung des Rades.
Die Welt, die uns begegnet, ist die Gesamtheit der Tatsachen, wie es beim Philosophen Ludwig Wittgenstein heißt. Auf welche Weise diese Tatsachen verbunden sind, erklären sie nicht aus sich selbst heraus. Um zu verstehen, wie das eine mit dem anderen zusammenhängt, brauchen wir eine Geschichte, die darlegt, was Ursache und was Wirkung ist. Wir wissen, in welcher Weise der Stein mit den Scherben in Verbindung steht, obwohl wir ihn nicht durch die Fensterscheibe fliegen sahen. So weit, so logisch.
Doch verknüpfen wir auch Tatsachen zu Geschichten, die in keinem Ursache-Wirkung-Verhältnis stehen und zwischen denen es offensichtlich keine Verbindung gibt. Hier ein kleines Beispiel. »Ich schreibe. Draußen schneit es.« Beide Tatsachen (ich schreibe, es schneit) dieser Aussage könnte ich mit Hilfe der meteorologischen Daten, dem Nachweis meines Aufenthaltsortes und mit einer Fotografie beweisen. Die Tatsachen sind korrekt, aber mein Schreiben hat mit dem Schneefall nicht das Geringste zu tun. Es gibt außer ihrer Gleichzeitigkeit keinen Zusammenhang. Es würde auch schneien, wenn ich nicht schreiben würde, und würde ich meine Tätigkeit von der Witterung abhängig machen, wäre ich ein seltsamer und neurotischer Schriftsteller.
Trotzdem sind diese beiden Tatsachen in Ihrem Kopf nun verbunden. Sie haben als Bild Gestalt angenommen, ein Bild, das nicht falsch ist. Doch die Tatsachen sind sehr willkürlich gewählt. Während ich schreibe, ereignen sich gleichzeitig viele andere Tatsachen. Schon die Zahl jener, die in meinem Erfahrungshorizont liegen, übersteigt die Menge derer, die ich sinnvollerweise aufschreiben kann, um ein Vielfaches. Dazu kommt die unendliche Anzahl aller Tatsachen, die sich ebenfalls ereignen, von denen ich jedoch keine Ahnung habe.
Eine Geschichte ist eine willkürliche Auswahl verknüpfter Tatsachen. In unserem Beispiel geschieht die Verknüpfung durch die Reihung, doch die Sprache kennt Möglichkeiten der direkteren, engeren Verbindung. In der Grammatik nennt man diese Verbindungen Konjunktionen. Dazu gehören Worte wie »und« oder »dass«. Es gibt eine Theorie über die Konjunktionen, hier soll uns nur genügen, dass der Zusammenhang, den sie zwischen Tatsachen herstellen, nicht überprüfbar sein muss, um akzeptiert zu werden.
Natürlich ist es wichtig, Geschichten kritisch zu hinterfragen – aber das ist äußerst schwierig, um nicht zu sagen unmöglich. Sie konnten sich nicht gegen die Verbindung Schnee-Schreiben wehren. Geschichten sind mächtiger als unser kritisches Bewusstsein. Und das hat evolutionäre Gründe.
Jenseits der Instinkte, die wir mit den Tieren teilen, sind es die Geschichten, die uns als Menschen das Überleben garantieren. Um einer Gefahr zu entgehen, muss ich Tatsachen verknüpfen, und die Art und Weise, wie ich das tue, entnehme ich den Geschichten, die ich über diese Tatsachen kenne. Die Gefahr des Straßenverkehrs begreife ich, weil meine Eltern und der Dorfpolizist Tatsachen verknüpft haben und die Medien mir täglich solche Geschichten erzählen. Ich muss niemals einen Verkehrsunfall erlebt haben, um zu begreifen, wie ich die Tatsache »Ich stehe an der Straße« mit der Tatsache »Ein Lastwagen nähert sich« verknüpfen muss: Ich sollte besser warten, bis der Sattelschlepper vorbei ist.
Und jetzt kennen Sie auch die einfachste Art, eine Geschichte zu beginnen. Man nimmt eine Tatsache und stellt eine zweite dazu. Die Geschichte ist dann zu Ende, wenn ich eine dritte Tatsache liefere, die die Verknüpfung der beiden klärt. »Die Frau steht in der Küche. Auf dem Tisch liegt eine Pistole.« Die Spannung wird aufrechterhalten, bis der Leser weiß, ob und auf welche Weise diese beiden Tatsachen verbunden sind. Hat die Frau die Pistole gesehen? Wird sie die Pistole nehmen? Was wird sie anstellen?
Diese Methode ist ein alter Hut, wenigstens für jene, die professionell Geschichten erzählen. Daneben gibt es eine Reihe anderer Techniken, um den Leser an den Haken zu bekommen. Ankündigungen etwa sind sehr wirksam, oder wenn man die Erwartungen des Lesers bricht. Die Erforschung, wie Geschichten beschaffen sein müssen, damit Menschen sich mit ihnen beschäftigen, hat in den letzten hundert Jahren große Fortschritte gemacht.
Im neunzehnten Jahrhundert waren die Dramaturgien der Werkstruktur verpflichtet, sie begriffen Geschichten von ihrem Aufbau her. Beispielhaft dafür ist »Die Technik des Dramas« von Gustav Freytag aus dem Jahr 1863.[1] Wie seine Vorgänger, von denen Aristoteles der berühmteste ist, verstand auch Freytag viel von der Struktur, allerdings wenig darüber, wie Geschichten auf den Leser oder Zuschauer wirken.
Das änderte sich erst zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, und der Grund dafür waren die Produktionsbedingungen einer neuen Kunst, die dreißig Jahre nach Freytags Werk in einer chemischen Fabrik am Rande der französischen Stadt Lyon von den Gebrüdern Lumière erfunden wurde. Im Gegensatz zur Literatur und zum Theater wurden Filme industriell hergestellt. Der finanzielle Einsatz war hoch, und die Besitzer des Studios hatten alles Interesse daran, ihr Risiko zu minimieren. Sie wollten wissen, weshalb bestimmte Geschichten von den Menschen geliebt, andere aber abgelehnt werden. Eigentlich ist es ganz einfach, wie Billy Wilder, einer der erfolgreichsten Regisseure des klassischen Hollywoods, festhielt: »Pack die Zuschauer bei der Gurgel und lass sie nicht mehr los.« Aber wie soll das geschehen? Mit welchen Mitteln? Man brauchte verlässliche Methoden.
Eine der erfolgreichsten wurde 1946 entwickelt, von einem gewissen Lajos Egri, ein Ungar, der als Kind in die USA emigriert war, sich als Gewerkschafter engagierte und daneben einige mäßig erfolgreiche Stücke schrieb, bis er sich auf das Unterrichten verlegte. Sein Buch »The Art of Dramatic Writing«,[2] zum ersten Mal 1946 erschienen, legte den Fokus auf das Betriebssystem einer Geschichte. Für Egri war nicht mehr die Struktur entscheidend, sondern das, was er Prämisse nannte. Darunter verstand er den Zweck, den er jedem Moment, dem Leben und deshalb auch einer guten Geschichte unterstellte. Für »König Lear« definierte er die Prämisse: »Blindes Vertrauen führt in den Untergang«, für »Romeo und Julia« dagegen »Liebe trotzt dem Tod«. Egris Dramaturgie ist zweifellos von der Prüderie und vom Moralismus seiner Zeit geprägt, gleichwohl hatte er den Schlüssel gefunden. Es ist nicht die äußere Struktur, die Geschichten erfolgreich macht, sondern das behauptete, aber ungeklärte Verhältnis zwischen den Tatsachen. Das ist es, was uns gefangen nimmt.
Egri wird bis heute gelesen und wurde zum Vorbild für eine unüberschaubare Zahl an Büchern, die dem Wesen der Geschichte auf die Spur kommen wollen, jene von Syd Field,[3] Sol Stein[4] und Robert McKee[5] sind darunter nur die berühmtesten. Heute hat die Frage, wie es narrativen Strategien gelingt, uns in ihren Bann zu schlagen, schon längst die Erforschung der menschlichen Hirnstrukturen und der kognitiven Prozesse erreicht. Man ist sehr erfolgreich darin. Wenn Sie also das nächste Mal wissen wollen, warum Sie nicht von einer Netflix-Serie lassen können, sollten Sie etwas aus dem Gebiet der Neurophysiologie lesen.
Das Wissen über die Art, wie Geschichten funktionieren, blieb jedoch nicht in der Filmindustrie. Es wurde von der Literatur übernommen, die Wirtschaft wandte es an, die Politik und schließlich auch der Journalismus. Dort nennt man diese Disziplin »Storytelling«, und sie wird an den einschlägigen Schulen intensiv unterrichtet. Dieses Interesse ist nachvollziehbar – doch ist es für einen Journalisten auch legitim? Die Antwort eines Medienschaffenden lautet: gewiss, solange sich die Geschichten an die Tatsachen halten. Aber wie wir gesehen haben, beginnt eine Geschichte nicht mit den Tatsachen, sondern mit ihren Verknüpfungen, und diese sind zu guten Teilen eine Erfindung, die nur einen einzigen Zweck verfolgt: den Leser bei der Gurgel packen, wie Billy Wilder gesagt hätte.
Wie dieses Wissen angewendet wird, zeigt sich jeden Tag in Dutzenden, wenn nicht Hunderten Zeitungsartikeln. Nehmen wir ein beliebiges, nicht weit hergeholtes Beispiel: eine Reportage, die in der Online-Zeitung »Die Republik« erschienen ist und von einer Radrennfahrerin handelt. Im Einführungstext steht zu lesen: »Nicole Reist gewann das Race Across America – und sah um sich herum nur Leere.«
Die Autorin hat ihre Lektion in Storytelling gut gelernt. Wie beim Beispiel mit der Frau und der Pistole weiß sie, dass ich mit großer Wahrscheinlichkeit weiterlesen werde, weil ich wissen muss, in welcher Weise diese beiden Tatsachen miteinander in Verbindung stehen. Aus evolutionären Gründen will mein Hirn nicht ausschließen, dass auch ich eines Tages das Race Across America bestreiten könnte, und dann wäre es besser, etwas über diese Leere zu wissen. Also: Sah Nicole Reist die Leere, weil sie am Race Across America teilgenommen hatte? Oder weil sie als Siegerin durchs Ziel fuhr? Hätte sie die Leere nicht gesehen, wenn sie den zweiten Platz gemacht hätte? So lange ich das nicht überprüfen kann, bin ich gezwungen weiterzulesen. Das Raffinierte dabei: Auch die Reportage wird diese Frage nicht beantworten, denn dazu müsste sie die Situation reproduzieren können. Das funktioniert nur im wissenschaftlichen Modell. Im Experiment kann man eine Situation mit sämtlichen relevanten Parametern reproduzieren. Doch in der Wirklichkeit funktioniert das nicht. Das strebt die Autorin aber auch gar nicht an, im Gegenteil: Die Tatsachen sollen unüberprüfbar bleiben, damit sie meine Aufmerksamkeit erzwingen. Nur so packt mich eine Geschichte. Nur so lässt sie mir im Grunde keine Wahl, keine Freiheit. Denn wie nennt man eine Geschichte, die besonders mächtig ist, die mich keinen Augenblick loslässt? Man nennt sie fesselnd.
Was sind die Gründe für das schwindende Vertrauen in den Journalismus? Für viele Medienschaffende liegt die Antwort auf der Hand: Politische Kräfte attackieren die Glaubwürdigkeit, um ihre Unabhängigkeit zu beschneiden. Das ist zweifellos richtig – und das ist zweifellos der Fall, seit es die Presse gibt. Die Mächtigen mögen keine Zeitung, die sie nicht selbst kontrollieren.
Ein Teil der Verantwortung für den Vertrauensverlust fällt allerdings auf die Medien selbst zurück. Die Macht der Geschichten ist groß, und Dramaturgie ist eine wirkungsvolle Droge. Der Journalismus hat sie in den letzten Jahren in gewaltigen Schlucken getrunken, er ist davon süchtig und krank geworden. Die Medien meinten, mit ihrem Storytelling die Aufmerksamkeit der Leser gewinnen zu können, aber sie haben sich den Methoden des Marketings übergeben. Der Fall um Claas Relotius, ein Reporter beim Nachrichten-Magazin DER SPIEGEL, der über Jahre Geschichten erfand und sie Reportagen nannte, ist die Nemesis dieser Entwicklung. Sein ausgezeichnetes Storytelling vernebelte selbst in der legendären Dokumentation, die jeden Bericht auf Herz und Nieren prüft, den Blick auf die Prämisse des Journalismus: Er soll keine Geschichten erzählen. Er soll Tatsachen berichten.
Aber sind schlichte Tatsachen nicht langweilig? Nur wenn es bekannte Tatsachen sind. Unbekannte Tatsachen haben die Kraft, die Welt von Grund auf zu verändern, und die Nachricht, die als erste vermeldet, dass außerirdisches Leben existiert, braucht kein Storytelling. Leider ist es viel teurer und aufwändiger, unbekannte Tatsachen zu beschaffen, als eine Geschichte zu erzählen. Der Kostendruck hat die unheilvolle Entwicklung zu immer mehr Storytelling angeheizt.
Viele Menschen glauben, Geschichten seien harmlos, sonst würde man sie Kindern nicht vor dem Schlafengehen erzählen. Häufig nehmen wir Geschichten nicht ganz ernst. Das zeigt sich in den Eigenschaftswörtern, die wir dem Begriff beistellen. Wir sagen: eine kleine Geschichte, eine lustige Geschichte, eine blöde, vielleicht auch eine traurige Geschichte. Das alles können Geschichten sein, vor allem aber sind sie mächtig. Nichts beherrscht und formt den Menschen wie seine Geschichten. Der Mensch kennt Geschichten, die viele tausend Jahre alt sind. Jede Macht trägt eine Gefahr in sich, und tatsächlich gibt es sehr gefährliche Geschichten. Jede politische Idee, jede Religion, jede Sekte, jede soziale Struktur, die Menschen beherrscht, erfindet für ihre Mitglieder zuerst eine Geschichte. Sie halten Nationen zusammen, lassen sie Kriege führen, machen Gläubige friedlich oder fanatisch.
Deshalb hat jeder, der Geschichten erfindet, eine große Verantwortung. Die Welt ist die Summe der Tatsachen, wie gesagt, und hier nun eine Sache, die sich jeder Journalist über den Schreibtisch hängen sollte: Eine Geschichte, die in der Welt ist, wird selbst zur Tatsache. Das ist das Gefährliche an ihr. Die Geschichte über die Radrennfahrerin gehört dazu, und es wird nun immer die Verbindung hergestellt werden zwischen dem Sieg und der Leere. Obwohl das eine mit dem anderen möglicherweise nichts zu tun hat.
In den letzten Jahren wurde viel über Fake News gestritten. Aber das ist die falsche Diskussion. Die menschliche Vorstellungskraft unterscheidet nicht nach Wahrheit oder Lüge. Sie urteilt nach anderen Kategorien: Anschaulichkeit und Grad affektiver Beteiligung. Geschichten, die einmal den Weg in unser Bewusstsein gefunden haben, ob Lüge oder nicht, bleiben darin, sofern sie nicht vergessen werden. Auch darum hat man ihre Macht eingehegt und ihnen bestimmte Räume zugewiesen, im Theater, im Roman, im Kino. Die Religionen, die die Macht der Geschichten am stärksten ausgenutzt haben, hat man in ihre Schranken gewiesen, aber wir leben in einer Zeit, in der viele Geschichten entwichen sind und sich in Gebieten ausbreiten, wo sie Schaden anrichten. Das Storytelling macht den Journalismus unsicher, die Politik und sogar die Universitäten richten Abteilungen für Storytelling ein. Es wäre an der Zeit, sich zu überlegen, wie man diese wilden Rosse wieder einfängt, bevor sie alle Zäune niedergerissen haben.
Wahrheit und Wirklichkeit
1.
Die Wahrheit ist in vieler Munde. Es sollte uns beunruhigen, denn es bedeutet, dass sie in umso weniger Herzen ist.
2.
In der ersten Ausgabe von »Historische Urteilskraft«, dem Magazin des Deutschen Historischen Museums Berlin, setzt Daniel Kehlmann in einem Text mit dem Titel »Geschichten erzählen, Geschichte erzählen«[6] seine Arbeit als Schriftsteller der Arbeit eines Historikers gegenüber und zieht eine deutliche Grenze. Während der Historiker herausfinden solle und wolle, was geschehen sei, würde er, der Dichter, lügen und erfinden. Trotzdem sei auch er auf der Suche nach der Wahrheit. Die entscheidende Frage, die Kehlmann selbst stellt, aber nicht beantwortet, lautet: Gibt es verschiedene Wahrheiten, wovon eine nur dem Lügner, also dem Schriftsteller, zugänglich ist? Weil Kehlmann einer Antwort ausweicht, stellen sich plötzlich weitere Fragen: Warum, zum Beispiel, verspürt der Schriftsteller die Notwendigkeit, diese Unterscheidung zu treffen? Will er die Reputation der Geschichtswissenschaft retten, indem er das Feld der einen Disziplin, die Fakten, von jenem der anderen, die Fiktion, sauber trennt? Oder sucht er für sich selbst, als Schriftsteller, einen Raum, wo er seine Literatur vor weltanschaulichen Anwürfen in Sicherheit bringen kann? Aber die Probleme des einen Gewerbes können ebenfalls und gleichzeitig die Probleme des anderen darstellen, und es müsste mittlerweile deutlich sein, dass die ideologischen Kämpfe im Nachgang der Postmoderne nicht befriedet werden können, wenn wir einfach die Felder der Disziplinen abstecken und hoffen, dass niemand die Grenzen verletzt und Konterbande betreibt.
3.
Vor einiger Zeit behauptete eine Philosophin im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, dass es den Zweiten Weltkrieg nicht gegeben habe. Was wir unter diesem Begriff zusammenfassten, so meinte sie, zerfalle in unzählige Einzelereignisse. Es sei eine unzulässige Verkürzung, die Komplexität der Wirklichkeit in einen einzigen Begriff zu fassen. Ferner habe kaum ein Zeitgenosse dieses Wort damals verwendet. Und schließlich würde der Zweite Weltkrieg in anderen Kulturen anders genannt, so heiße der Deutsch-Sowjetische Krieg in Russland »Der Große Vaterländische Krieg«.
Es handelt sich dabei nicht um eine Sophisterei unter Akademikern, vielmehr um einen Ausläufer der Turbulenzen, die den Menschen des einundzwanzigsten Jahrhunderts aus dem Gleichgewicht bringen. Nach wie vor finden sich Trümmer des zwanzigsten Jahrhunderts, die man sich bei Gelegenheit an den Kopf wirft, und man fürchtet, die Kontrahenten in der Auseinandersetzung um die kulturelle Hegemonie könnten irgendwann zu wirkungsvolleren Flugobjekten greifen.
4.
Einerlei, ob sich jemand Schriftsteller oder Historiker nennt, und gleichgültig, welche Mittel und Instrumente er bei der Ausübung seiner Tätigkeit benutzt, ob sie nun Quellenkritik oder erlebte Rede heißen, die Vergangenheit ist niemandem zugänglich. Aus dieser Verschlossenheit definiert sie sich. Sie ist das, was war, in Abgrenzung dessen, was ist und was sein wird. Diese allgemeine, alltägliche Erfahrung verdeckt nur eine grundsätzlichere Tatsache: Was sich uns durch das Wissen tatsächlich nicht erschließt, ist die Wirklichkeit als solche, gerade auch jene, die sich in der Gegenwart vollzieht. Dies beweist der Umstand, dass sich die Vergangenheit auch dann nicht erschlösse, wenn wir sie auf die gleiche Weise erfahren könnten wie die Gegenwart. Sie wäre nur eine weitere Gegenwart und die Gleichzeitigkeit unzähliger Ereignisse, deren Zusammenhänge uns zum überwiegenden Teil verborgen blieben. Und weiter: Selbst wenn sich sämtliche dieser Ursachen einem bestimmten Bewusstsein erschlössen, könnte ich sie nicht darstellen, denn das wäre gleichbedeutend mit einem totalen Abbild der Wirklichkeit, das dann, per definitionem, von dieser Wirklichkeit ununterscheidbar wäre. Ein absurder Gedanke, gleichwohl wurde und wird dieses totale Abbild versucht. Es gibt eine beinahe kindliche Sehnsucht, eine Vorstellung, dass man sich der Vergangenheit nähern könne, indem man den Aufwand und die Zahl der dargestellten Ereignisse erhöht. Hollywood erliegt ihr immer wieder. Aber nur, weil man Kriegsschiffe in den Ärmelkanal bringt und mit Tausenden von Komparsen den 6. Juni 1944 darstellt, versteht man den D-Day nicht besser. Aber die Entwicklung der technologischen Illusionsmöglichkeiten hat zu einem Verlust dieser lapidaren Einsicht geführt.