Buch lesen: «Die medial-historische Entwicklung des Damen-Skispringens»
Luis Holuch
Die medial-historische Entwicklung des Damen-Skispringens
Medienberichterstattung und Historie im Fokus
Engelsdorfer Verlag
Leipzig
2017
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
Copyright (2017) Engelsdorfer Verlag Leipzig
Alle Rechte beim Autor
Titelbild: Sarah Hendrickson über dem Oslofjord © Bärbel Schulze
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2018
Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)
Inhalt
Cover
Titel
Impressum
1. Prolog
1.1 Einleitende Worte
2. Untersuchungsgegenstand: Damen-Skispringen
2.1 Der Ablauf eines Skisprungs und Wettkampfdurchführung
2.1.2 Spezifizierungen für den Skisprung-Weltcup der Damen
2.2 Die Geschichte des Damen-Skispringens und ihre Meilensteine
2.3 Wettkämpfe, Veranstaltungsorte, Schanzen, teilnehmende Nationen
2.3.1 Wettkämpfe
2.3.1.1 Ranghöchste Wettbewerbe: Weltmeisterschaften (WM), Olympische Winterspiele (OWG), Weltcup (WC) und Sommer Grand-Prix (SGP)
2.3.1.2 Continental Cup (COC), FIS-Cup und OPA Alpen Cup
2.3.1.3 Junioren-Weltmeisterschaften (JWM)
2.3.1.4 European Olympic Festival (EYOF) und Youth Olympic Games (YOG)
2.3.1.5 Studenten-WM (Universiade) und sonstige Wettkämpfe
2.3.2 Veranstaltungsorte und Nationen
3. Workflow in der Skisprung-Berichterstattung
3.1 Online-Berichterstattung über das Skispringen
3.2 Berufspraxis der TV-Journalisten on Site und im Studio
3.3 Konfliktäre Situationen und Qualität der Skisprungberichterstattung: Analysen von Ex-Skispringer und -TV-Experte Jens Weißflog
4. Befragungsergebnisse
4.1 Die befragten Personen
4.2 Die medial-historische Entwicklung des Damen-Skispringens aus Sicht der Skispringerinnen
4.3 Die medial-historische Entwicklung des Damen-Skispringens aus Sicht der Journalisten
4.4 Die medial-historische Entwicklung des Damen-Skispringens aus Sicht des Begründers des Damen-Skispringens Hans-Georg Schmidt
4.5 Die medial-historische Entwicklung des Damen-Skispringens aus Sicht von Fans und im Umfeld des Sports tätiger Personen
5. Die aktuelle Situation des Damen-Skispringens und Zukunftsaussichten
6. Zusätzliche Erläuterungen und Informationen
6.1 Steckbriefe der Gesprächspartner
6.2 Transkripte und Übersetzungen der Interviews
7. Danksagungen
8. Endnoten
Abbildungen
Tabellen
1. Prolog
Es ist der 23. Februar 2017. Gegen sieben Uhr abends. Soeben hatte sich mein Freund und Kollege Roman Knoblauch via Nachricht bei mir verabschiedet. Er gehe jetzt mit seinem kongenialen Co-Kommentator Hans-Peter Pohl zum Abendessen. Und ich? Ich sitze allein an einem Tisch des Braugasthofs Falkenstein in Pfronten im Ostallgäu, genehmige mir ein handgebrautes Bier und Pfrontener Liebstes (Schweinemedaillons mit buntem Gemüse, Champignons und Eierspätzle).
Könnte schlimmer sein, oder? Klar, schlimmer geht immer.
Doch nach den Erfahrungen des vergangenen Jahres werde ich das Gefühl weiterhin nicht los, dass es nicht wirklich läuft. Kann es ja auch nicht, nach fast zwei Dutzend Bewerbungen, die entweder im Sande oder in Absagen hinein verliefen.
Ich bin ambitioniert, ehrgeizig, habe eine Vision und sehe meinen Traumjob Sportkommentator als Berufung, nicht nur als Beruf. Doch, ist das schon zu viel? Ich bin knapp 22 Jahre alt, habe ein Bachelorstudium in der Tasche, aber keinen Einstiegsjob. Doch warum? Keine Ahnung. Im typischen Bewerbungskreislauf des zweiten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts dominieren in Antworten auf Bewerbungen Phrasen und vorformulierte Stehsätze.
Das komplette Gegenteil von mir und wie ich Sprache auffasse. Vor allem deshalb bin ich hin und wieder aufbrausend und harsch. Ich verstehe es einfach nicht. So werde ich nie herausfinden, was an meiner Persönlichkeit und meinem Lebenslauf falsch oder noch nicht ganz astrein ist. „Glaub mir Luis, du bist das größte Talent, das ich kenne. Und das in deinem Alter, da war meine Karriere eigentlich schon tot, bevor sie richtig begonnen hat. Irgendwann wirst du deine Chance kriegen“, wurde Roman im Laufe der Monate nicht müde zu betonen. Ich glaubte mich selber ja auch schon sehr weit zu sein und alle Anlagen zu besitzen, um es ganz nach oben zu schaffen. Doch ich hing fest und der Knoten wollte sich auch nicht lösen. Mehr noch: in diesem Moment war ich tieftraurig, nicht bei diesen Nordischen Ski-Weltmeisterschaften dabei zu sein. „Du hättest deine helle Freude hier“, sagte Roman, kurz bevor er ging.
Klar, ich war im Oktober schon in Lahti gewesen und es hatte mir auch ohne WM schon sehr gut dort gefallen. Doch auch diese Reise, ein unfassbares Erlebnis, schien an mir vorbeigezogen zu sein wie ein schlechter Film. Das galt ohnehin für das zweite Halbjahr 2016. Bis ich im Januar in Oberstdorf bei den ersten Großschanzenspringen der Damen so großartige Erlebnisse hatte und mich mit tollen Menschen austauschen durfte und nach den ganzen gesundheitlichen Hiobsbotschaften neuen Mut und neue Energie gefasst hatte. Doch irgendwie scheint sie wieder etwas verpufft zu sein. Und dennoch: ich setzte mir das Ziel, dass diese Nordische Ski-WM die letzte ist, bei der ich nicht vor Ort sein oder zumindest berichten würde.
1.1 Einleitende Worte
Grundsätzlich ist vorweg anzumerken, dass sich dieses Buch auf das Ressort Sport im Journalismus konzentriert. Dieser Schwerpunkt wird weiter eingegrenzt dadurch, dass es ausschließlich um die Sportart Skispringen und nur um den Skisprung der Damen gehen soll; also wird das Themenfeld weiter eingegrenzt.
Des Weiteren beschäftigt sich dieses Buch, wie im Titel schon erwähnt, mit zwei speziellen Gesichtspunkten des Damen-Skispringens: zum einen gibt es einen Fokus auf die Medienberichterstattung über die Sportart und zum anderen auf die historische Entwicklung dieser. Bei der ursprünglichen Bachelorarbeit handelte es sich um eine qualitative Untersuchung, Zahlen und Daten spielen also hauptsächlich bei der Betrachtung der historischen Entwicklung eine Rolle. Zudem soll klar gestellt werden, dass das Damen-Skispringen zwar als Sportart in den Medien jung sein mag, jedoch schon deutlich länger existiert, als in eben jenen Medien dargestellt oder abgebildet.
Das Damen-Skispringen als solches wird in Kapitel zwei detailliert vorgestellt. Dieses beschäftigt sich mit der Frage nach Ablauf und Regeln der Sportart Skispringen, der Geschichte und Entwicklung des Damen-Skispringens und bietet zudem noch einen Blick auf das aktuelle Wettkampfgeschehen (Stand: nach der Saison 2016/2017), sowie auf die erste Teilnahme der Skisprungdamen bei den Olympischen Winterspielen im russischen Sochi im Jahre 2014.
Im folgenden Kapitel wird der Workflow in der Skisprungberichterstattung dargestellt und erläutert. Dies soll die Frage, wie Journalisten arbeiten, konkret beantworten. Es werden Veränderungen in der Arbeitsweise und in der Qualität dargestellt. Das Kapitel beschäftigt sich zudem mit den Problemzonen in der Berichterstattung. Diese werden anhand von Schilderungen des Ex-Skispringers und ZDF-Experten Jens Weißflog beschrieben, welche aus seiner 2014 erschienenen Biografie stammen.
Das vierte Kapitel enthält die Befragungsergebnisse der Leitfadeninterviews. Die zentralen Aussagen der Befragten werden hier dargestellt und näher erläutert und interpretiert. Zudem soll eine Gegenüberstellung unterschiedlicher Betrachtungsweisen und Bewertungen der Medienberichterstattung und der Entwicklung der Sportart erfolgen.
Das Fazit in Kapitel fünf enthält schließlich die wesentlichen Erkenntnisse der Abhandlung und leitet aus diesen eine Handlungsempfehlung ab. Diese konzentriert sich ebenfalls sowohl auf die sportliche Perspektive als auch auf die journalistische.
Im Anhang befinden sich neben den transkribierten Interviews sowie eine Übersetzung dieser, die nicht in deutscher Sprache geführt wurden, die verwendeten Literatur-, Web- und Buchquellen.
Als weiterführende Information befinden sich dort zudem Steckbriefe der Interviewpartner – (ehemalige) Skispringerinnen, Journalisten und befragte Personen aus der Aktivenszene des Damen-Skisprungs.
Das Ziel dieser Abhandlung ist es, einen detaillierten Überblick über die sportliche Entwicklung und Organisation des Damen-Skispringens zu bieten und diese, sowie den aktuellen Stand und Zukunftsperspektiven zu beleuchten. Zudem soll ein Eindruck über die mediale Darstellung des Damen-Skispringens – hauptsächlich qualitativ, aber auch quantitativ – vermittelt und bewertet werden.
2. Untersuchungsgegenstand: Damen-Skispringen
Dieses Kapitel beschäftigt sich mit der Vorstellung des Abhandlungsgegenstandes, nämlich der Sportart Damen-Skispringen. Zu diesem Zweck werden zunächst die Regeln der Sportart ganz allgemein und der Wettkampf erklärt. Darauf folgend wird auf Regelspezifizierungen für das Skispringen der Damen eingegangen.
Es folgen detaillierte Ausführungen über die Geschichte des Damen-Skispringens, welche eine zentrale Komponente dieser Abhandlung ist. Neben Erläuterungen der Wettkampfsaisons wird auch eine Auflistung von Meilensteinen für das Damen-Skispringen vorgenommen, um so die Entwicklungsschritte bis zum Jahr 2017 darzustellen. Des Weiteren werden die ausgetragenen Wettkämpfe vorgestellt, sowie Veranstaltungsorte und teilnehmende Nationen thematisiert.
2.1 Der Ablauf eines Skisprungs und Wettkampfdurchführung
Dieses Unterkapitel beginnt mit einer Erläuterung der allgemeinen Regeln in der Sportart Skispringen.
Dabei geht es um die Wettkampfdurchführung per se, sowie die wichtigsten Regeln in Bezug auf die Ausrüstung der Springer und Springerinnen und Regularien für Skisprungschanzen. Das Reglement für die jeweiligen Geschlechter ist jedoch nicht identisch, sodass die Spezifizierungen für den Damen-Weltcup in einem gesonderten Unterkapitel dargestellt werden.
2.1.1 Allgemeine Regeln und der Ablauf eines Skisprungs
Grundsätzlich beschreibt der Begriff Skispringen das Springen von einer Schanze mit Ski an den Füßen. Die Aufgabe eines Skispringers sei es „mit möglichst wenig Anlauf möglichst wie zu springen“, sagt der deutsche Bundestrainer der Männer, Werner Schuster, in der ServusTV-Dokumentation Überflieger – die Kunst des Skispringens.
Und er ergänzt „und das in einer Situation, wo es zählt“ – genau das gilt für die weltbesten Skispringer und Skispringerinnen.
Jeder Skisprung während eines Wettkampfes wird bewertet und am Ende mit denen der Konkurrenten verglichen, um einen Sieger zu ermitteln. Die konkrete Benotung wird am Ende dieses Unterkapitels anhand von Beispielen erläutert. Der Ablauf eines Skisprungs unterteilt sich in die folgenden fünf Phasen:
Abbildung 1: Flussdiagramm zum Ablauf eines Skisprungs (Eigene Darstellung)
Wichtig für die folgenden Erläuterungen ist zunächst, dass die letzten drei Phasen Flugphase, Landung und Ausfahrt von Kampfrichtern bewertet werden. Für diese werden Stilnoten vergeben. Die Kriterien für die Benotung dieser werden an den gegebenen Stellen erläutert.
Mit Ausnahme des Anlaufs (aber auch nur in kleinen Details) läuft ein Skisprung grundsätzlich an jedem Ort und in jeder Wettkampfform identisch ab. Unterschiede im Anlauf gibt es deshalb, weil in unterschiedlichen Wettkämpfen unterschiedliche Arten von Freizeichen gegeben werden.
In den Wettkämpfen auf internationaler Ebene läuft die Anlaufphase folgendermaßen ab: der Springer oder die Springerin wartet auf die Freigabe des Anlaufs. Diese wird mittels einer Startampel vorgenommen, welche wie die normale Verkehrsampel drei Farben besitzt. Bei rot ist der Anlauf gesperrt.
Es folgt die Gelbphase, welche 45 Sekunden dauert. In dieser entscheidet der Assistent des Renndirektors (Assistent des RD), ob die Freigabe des Anlaufs und damit die grüne Phase erfolgen. Diese ist abhängig von der Wind-Situation.
Befindet sich der Wind innerhalb des vorher festgelegten Windkorridors, hat der Assistent des Renndirektors den Anlauf freizugeben. Die Windwerte kann er an einem Windmonitor an seinem Arbeitsplatz im Sprungrichterturm ablesen. Befindet sich der Wind nicht im festgelegten Korridor und der Assistent des RD schaltet die Ampel nicht auf grün, so schaltet sie nach 45 Sekunden automatisch auf Rot. Dabei handelt es sich um einen Sicherheitsmechanismus, bei dessen Eintreten der Springer oder die Springerin den Anlaufbalken zu verlassen hat. Schaltet der Assistent des RD die Ampel auf Grün, so hat der verantwortliche Trainer zehn Sekunden Zeit, seinen Athlet oder seine Athletin, den Anlauf hinunterzuschicken. Dies kann er mittels akustischen Signalen oder mittels Winken (mit Gegenständen, den Händen oder einer Fahne) tun. Begibt sich der Springer oder die Springerin innerhalb dieser zehn Sekunden den Anlauf nicht hinunter, so wird er oder sie augenblicklich disqualifiziert. Bei Springen, bei denen es eine solche Startampel nicht gibt, wird der Trainer damit betraut, die Athleten den Anlauf hinunterzuschicken. Dort gibt es diese zehn-Sekunden-Regel nicht.1
Der Springer oder die Springerin begibt sich dann in seine oder ihre individuelle Anfahrtshocke und fährt den Anlauf der Schanze hinunter. Dabei hat der Athlet vor allem ein Ziel: das Erreichen einer möglichst hohen Anfahrtsgeschwindigkeit.
Der ehemalige deutsche Skispringer Sven Hannawald beschreibt die Vorgänge in seiner Biographie wie folgt: „Dabei ist wiederum die Anfahrtsposition ein entscheidender Faktor. Um den Luftwiderstand gering zu halten, solltest du eine möglichst kleine Angriffsfläche bieten. Dabei spielt eine möglichst geringe Hockhöhe eine wichtige Rolle. Die Arme sollten nahezu parallel zum Oberkörper nach hinten angelegt sein. Während der Anfahrt wirken die Schwerkraft, in diesem Fall die Hangabtriebskraft, die dich beschleunigt; der Luftwiderstand und die Reibungskraft – zwei Widerstandskräfte, die wiederum deine Beschleunigung verringern. Deswegen ist eine stabile Anfahrt so wichtig, du solltest keinesfalls mit den Armen pendeln. Kurz vorm Schanzentisch solltest du den Körperschwerpunkt stabil halten, um beim Absprung ein vorwärts gerichtetes Drehmoment erzeugen zu können. Auf keinen Fall noch versuchen, Schwung zu holen oder vermehrt Druck auf die Zehen zu geben.“2
Die Anlauflänge und -neigung variiert von Schanze zu Schanze. Je nach Größe der Schanze resultieren daraus unterschiedlich hohe durchschnittliche Anlaufgeschwindigkeiten. Eine vermeintlich logische Regel gilt jedoch nicht: der Anlauf einer Skiflugschanze (ab HS 185) ist nicht zwingend länger als der einer Großschanze.
Der Anlauf der Paul-Außerleitner-Schanze in Bischofshofen (HS 140) ist beispielsweise länger als der der Kulm-Skiflugschanze in Bad Mitterndorf (HS 225).3
Was alle Schanzen jedoch gemeinsam haben, ist der Schanzentisch, an welchem die zweite Phase eingeleitet wird. Beim Absprung versucht der Athlet die Schanzentischkante mit den Füßen exakt zu erwischen, um dort maximale Kraft anbringen zu können.
„Der Absprung ist die wichtigste, aber zugleich auch schwierigste Phase beim Skispringen. Du bist jetzt über 90 Kilometer pro Stunde schnell, manchmal noch schneller. Für die eigentliche Absprungbewegung bleibt allerdings nur ein winziges Zeitfenster von gerade einmal 0,3 Sekunden. Das ist ungefähr die Zeitspanne, in der du „Ooohhh“ oder „Mist“ sagen kannst.
In einem [fünf] Meter engen Korridor auf dem Schanzentisch entscheidet sich, ob der Sprung gelingt – oder nicht. Ein optimales Timing ist also alles entscheidend.“4 Aus seiner persönlichen Sicht spielen sich die fünf Phasen (die Hannawald jedoch etwas anders benennt) folgendermaßen ab:
„1. Die Vorbereitung: In spätestens 20 Sekunden muss ich vom Absprungbalken losfahren. Ich greife noch mal zum Schuh, um zu kontrollieren, ob alles fixiert ist. Noch ein letzter Blick auf die Bindung vorn – und ab geht’s.
2. Die Anfahrt: Wenn ich mich vom Balken abstoße, gleicht mein innerer Computer noch mal alle wichtigen Details vom Ablauf des Sprungs ab. Anfahrtshockenhöhe, Schwerpunkt, Armhaltung, Kopfhaltung. Nach 3 bis 4 Sekunden visiere ich den Schanzentisch an.
3. Der Absprung: Meine Augen haben mit den Jahren gelernt, die aktuelle Anfahrtsgeschwindigkeit und den Weg, den ich für meine Absprungbewegung brauche, so zu berechnen, dass ich weiß, wann der richtige Moment des Absprungs da ist.
4. Der Flug: Nach dem Absprung fühle ich bis ins Kleinste nach, wie der Ski mir „entgegenkommt“. Der Drehimpuls, der nach dem Absprung aus den Beinen kommt, lässt dich „auf den Ski legen“. Du ahnst schon, ob es weit geht – oder nicht.
5. Die Landung: Ich hatte (hoffentlich) reichliche Sekunden Zeit, den Flug zu genießen. Jetzt gilt es: volle Konzentration auf die Telemark-Landung. Linker Fuß vor und beim Aufsetzen Gleichgewicht halten.“5
Mittels Bildmaterial wird nun zunächst der Absprungvorgang illustriert und erläutert. Zur Vereinfachung der Darstellung wurde hier eine Aufnahme eines Absprungs der Slowenischen Springerin Špela Rogelj verwendet und die einzelnen Phasen anschließend mittels Screenshots festgehalten.
Abbildung 2a) und b): Die Slowenin Špela Rogelj bei der Absprungbewegung während des Sommer Grand-Prix‘ 2015 in Courchevel (Frankreich) (© Ursprüngliches Videomaterial: Stane Baloh / Bearbeitung vom Autor).
In Bild 2a) sitzt die Slowenin in in ihrer Anfahrtshocke, welche sie in Bild 2b) langsam auflöst. Sie bereitet den Absprung vor, in dem sie Gesäß und Oberkörper beginnt aufzurichten und die Arme von ihrem Körper löst.
Abbildung 2c) und d): Die Slowenin Špela Rogelj bei der Absprungbewegung während des Sommer Grand-Prix‘ 2015 in Courchevel (Frankreich) (© Ursprüngliches Videomaterial: Stane Baloh / Bearbeitung vom Autor).
Rogelj hebt den Oberkörper parallel zur Hocke der Beine an. Langsam löst sich bei ihr der 90-Grad-Winkel der Schenkel auf. Sie versucht so, die Kniespitze auf Höhe der Schanzentischkante zu bringen. Ihr Körper formt in Abbildung 2d) eine Art Sigma. Die Arme werden nach hinten abgespreizt, damit diese den kurzmöglichsten Weg neben den Körper finden. Die Armhaltung ist während des Absprungs und dann auch während der Flughaltung von Bedeutung. Ein Rudern beim Absprung sollte tunlichst vermieden werden, ebenso wie in der Luft.
Abbildung 2e): Die Slowenin Špela Rogelj bei der Absprungbewegung während des Sommer Grand-Prix‘ 2015 in Courchevel (Frankreich).
Die Skispitzen haben die Schanzentischkante nun bereits passiert. Rogelj bewegt das Gesäß nach vorne, ebenso wie die Oberschenkel. Diese sollen beim Absprung die Unterschenkel überholen und den größten Kraftimpuls beim Absprung leisten. Der Kopf wird nach vorne in den Wind gestreckt, er gibt die Richtung des Absprungs und den Absprungwinkel vor.
Der Athlet steht beim Absprung gewissermaßen aus der Hocke auf, um in den Flug zu gelangen. Dabei ist es ratsam, den Oberkörper und den Ski möglichst flach und plan nach oben und vorne laufen zu lassen, um so geringstmöglichen Luftwiderstand zu bieten. Denn dieser kostet Geschwindigkeit und schlussendlich auch Weite.
„Alles ist perfekt, wenn es beim Absprung gelingt, eine möglichst große vertikale Absprunggeschwindigkeit mitzunehmen und den Körperschwerpunkt [KSP] und damit auch die folgende translatorische Flugbahn anzuheben, sowie einen möglichst großen, senkrecht zum Schanzentisch orientierten Kraftstoß zu erzielen.“6 Translation bezeichnet in der Physik indes eine „geradlinig fortschreitende Bewegung eines Körpers, bei der alle seine Punkte parallele Bahnen in gleicher Richtung durchlaufen“7.
„Dies erreichen die Springer durch eine explosive Streckung der Sprung-, Knie- und Hüftgelenke. Zugleich wird der Oberkörper nach vorne geschoben, um den KSP zu verlagern und das erforderliche Drehmoment vorwärts, bzw. auch den vorwärts gerichteten Drehimpuls erzeugen zu können (Schwameder 2008). Dies ermöglicht wiederum eine schnelle Einnahme der aerodynamisch günstigen Flughaltung der Flugphase. Generell kann man annehmen, dass ein höherer Drehimpuls eine schnellere Einnahme der optimalen Flughaltung begünstigt.8“
Hannawald bezieht sich in seinen Ausführungen auf die Studienarbeit „Biomechanik – Skispringen“ der Studentin Isabelle Glauner von der Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg.
Glauner beschreibt in dieser Studienarbeit den Ablauf eines Skisprungs aus wissenschaftlicher (physikalischer) Sicht und erhielt dafür die Note 1,0 9.
Oder, wie Hannawald schreibt: „Sie erklärt wissenschaftlich, was wir Springer von den Trainern in jeder Trainingseinheit mit einfachen Worten auf den Weg bekommen und intuitiv längst wissen.10
Doch was ist die Folge, wenn der Athlet dieses optimale Timing nicht hat und deshalb zu früh oder zu spät – mehr Möglichkeiten gibt es ja nicht – abspringt? Auch diese Frage beantwortet Hannawald mit seinem Erfahrungsschatz aus zwölf Jahren Weltcup-Erfahrung11:
„Wenn du zu spät abspringst, ist das eine kleine Katastrophe, denn deine Kraft beim Absprung stößt ins Leere und der nach unten gerichtete Kraftstoß kann keine Gegenkraft erzeugen. Deine Flugkurve fällt flacher aus. Wenn du aber zu früh abspringst, ist das noch schlimmer. Der Ski bekommt im ersten Moment keine Anströmung. Du musst kurz warten, bis der Ski trägt. Dieser winzige Moment kann dich zig Meter kosten. Weltklasse oder Bruchlandung? Dies entscheidet sich am Schanzentisch. Wenn du deine Skier zu steil in den Wind stellst, raubt der größere Luftwiderstand zunehmend Weite. Wenn du die Skier zu flach in den Wind stellst, werden die „Tragflügel“, die der Körper und die Skier im Idealfall bilden, zerstört. Auch das kostet Meter.“12
Kurzum lautet „[d]ie Erfolgsformel für einen konkurrenzfähigen Skisprung […] also: hohe Absprunggeschwindigkeit plus optimaler Drehimpuls gleich große Weite.13“
Und wenn einer weiß, wie es geht, dann jemand wie Hannawald, schließlich ist die Liste seiner Erfolge lang. Da wären 18 Einzelsiegen im Weltcup14, der Team-Olympiasieg 2002 und eine Silbermedaille im Einzel im selben Jahr und Silber mit dem Team 1998 in Nagano15, zwei Weltmeistertitel mit dem Team, sowie einmal Silber und Bronze16 und der Sieg bei der Skiflug-Weltmeisterschaft 2000 im Norwegischen Vikersund und die folgenden Titelverteidigung im Tschechischen Harrachov zwei Jahre später17.
Abbildung 2f) und g): Die Slowenin Špela Rogelj bei der Absprungbewegung während des Sommer Grand-Prix‘ 2015 in Courchevel (Frankreich).
Im Standbild 2f) sieht man, wie exakt Rogelj den Absprung trifft. Die Fußspitzen sind exakt auf Schanzentischkantenhöhe, die Knie leicht versetzt dahinter. Sie hat demnach nur Zentimeter zu spät die Kante erwischt, aber dies ist naturwissenschaftlich in Bezug auf die Flugkurve kaum nachweisbar. Athleten merken oft nur bei deutlich zu späten oder zu frühen Absprüngen einen Unterschied im Gefühl. Mit ihrem Körper bietet Rogelj nur eine geringe Fläche und damit wenig Luftwiderstand. Die Arme schwingen weiter in Richtung Gesäß, welches sie sanft mit dem Rest des Oberkörpers nach vorne bewegt. Den Kopf bewegt sie langsam nach oben, um so Platz für den Oberkörper zu machen. Dieser richtet sich im Folgebild 2g) weiter auf und bewegt sich nach vorne, schräg hoch von der Schanzentischkante weg. Der Winkel in Lundbys Schenkel ist nun nahezu nicht mehr vorhanden. Ebenso wie die Beine sind nun auch die Arme nahezu gestreckt.
Zu erkennen ist auch, dass Rogelj bereits Absprungkraft hat anbringen können, denn die Ski und damit auch alles darüber befindet sich ein gutes Stück oberhalb des Schanzentischs.
In den Bildern auf dieser Seite ist schließlich das zu sehen, was Glauner und Hannawald als Drehimpuls bezeichnet haben: die Bewegungen gehen nun vermehrt nach vorne. Rogelj befördert den Oberkörper schräg nach vorne – er überholt ihre Beine. Der Kopf ist weiterhin leicht gebeugt, um weniger Luftwiderstand zu erzeugen. Dass Rogelj leicht zu spät abgesprungen ist, lässt sich an ihren Ski erkennen. Diese biegen sich nämlich leicht nach unten. Das spricht dafür, dass der letzte Kraftimpuls „ins Leere“ gegangen ist. Grundsätzlich ist ihr der Absprung jedoch sehr gelungen.
Das folgende Bild 2i) zeigt Rogelj etwa fünf bis zehn Meter nach dem Absprung. Der Kopf ist nun in der Verlängerung der Wirbelsäule, also gestreckt.
Der Oberkörper bewegt sich unterdessen weiter nach vorne und bildet nun bereits eine schöne Rundung im Bereich Hüfte bis Oberschenkel, unter der sich die Luft sammeln kann. Ähnlich wie bei einem großen Flugzeug (nähere Details zum Verhalten während des Fluges folgen). Das Gesäß bewegt sich ebenfalls weiter nach vorne, die Arme nähern sich der Hüfte nun an. Es ist bereits jetzt zu erkennen, dass die Füße und der unterste Teil der Unterschenkel die Körperteile sind, die sich während des Fluges am nächsten zu Schanzentischkante befinden. Zudem gehen die Beine auseinander, die V-Stellung ist bereits angedeutet.
Abbildung 2h) und i): Die Slowenin Špela Rogelj bei der Absprungbewegung während des Sommer Grand-Prix‘ 2015 in Courchevel (Frankreich) (© Ursprüngliches Videomaterial: Stane Baloh / Bearbeitung vom Autor).
Auf den Normal-, Groß- und Flugschanzen sollte der Athlet etwa zehn bis 15 Meter nach der Schanzentischkante idealerweise die optimale Flugposition erreicht haben und die Ski zu einem V geformt haben.
Auch hier versucht man, die Ski in einem möglichst geringen Anstellwinkel in der Luft zu transportieren, um dadurch aerodynamischer zu sein. Während des Fluges sollte der Abstand zwischen Ski und Körper so gering wie möglich, dabei aber trotzdem parallel, gehalten werden, damit Fliehkräfte eine möglichst geringe Angriffsfläche haben. Ratsam ist jedoch bei Aufwind (Wind von unten), dem Wind möglichst viel Fläche zu bieten, um so ein größeres Luftpolster zu erzeugen.
Bis 1992 war dieser so genannte V-Stil bei den Kampfrichtern absolut verpönt. Der prägende Mann für diesen neuen Stil, der Schwede Jan Boklöv, und seine Nacheiferer wurden für diese Art zu springen mit deftigen Punktabzügen bestraft18. Man sah darin die Ästhetik des Skispringens, das bis dato im Parallelstil ausgeübt wurde, gefährdet. Obwohl sich der V-Stil als effektiveres System erwies. Bis die Regelhüter schließlich ein Einsehen hatten und den V-Stil offiziell erlaubten. Das nutze Boklöv selbst schließlich nicht mehr allzu viel. Nachdem er 1988/1989 den Gesamtweltcup für sich entschied19, zogen seine Konkurrenten nach und schon in der Folgesaison war er nicht mehr in den Top 10 zu finden. Er beendete seiner Karriere nach der Saison 1992/1993, in der er lediglich vier Zähler im Gesamtweltcup sammeln konnte.
Doch warum war und ist der V-Stil dem Parallelstil (beide Ski werden parallel in die Luft gehalten) derart überlegen? Auch diese Frage kann mit physikalischen Erkenntnissen beantwortet werden. „Der V-Stil bietet dem Wind mehr Angriffsfläche und sorgt für mehr Auftriebskraft als der Parallelsprung. Um wie viel, berechnete der Biomechanik-Professor Gert-Peter Brüggemann von der Deutschen Sporthochschule Köln bei den Olympischen Winterspielen in Lillehammer (1994) anhand von dreidimensionalen Sprungaufnahmen. Sein erstaunliches Ergebnis: Das Luftpolster beim V-Stil trägt um satte 35 Prozent besser, verglichen mit der alten Technik. Je stärker du deine Ski nach außen drücken kannst, ohne sie übermäßig zu verkanten, umso größer wird die Spannweite. Und ähnlich wie bei einem Segelflugzeug verbessert sich so die Gleitfähigkeit, weil sich ein großes Luftpolster bildet – das dich trägt und das „Fliegen“ unterstützt.20“
Hinzu kommen verstärkend die Eigenschaften der Sprunganzüge, welche die Springerinnen und Springer bei jedem Sprung tragen: „Zusätzlich wird dieses Luftpolster durch den Balloneffekt der Sprunganzüge verstärkt. Diese sind an ihrer Vorderseite luftdurchlässig, wohingegen die Rückseite aus luftundurchlässigem Material besteht.21„
Ein Skisprung (allein vom Beginn der Anfahrt bis zum Erreichen der V-Position) ist also ein ungemein komplexer Ablauf, welcher sich innerhalb kürzester Zeit abspielt. Schon kleinste Fehler oder Verzögerungen können fatale Folgen haben und zu einem Sturz und in der Folge Verletzungen oder gar Schlimmerem führen. Nichtsdestotrotz ist die Zahl der Stürze und Verletzungen weitaus geringer als angenommen.
Dies spricht zum einen dafür, dass die Springerinnen und Springer ihren Sport beherrschen und, dass die Wettkampfleiter sehr vorsichtig beim Bewerten der Wetterverhältnisse sind. Schließlich ist ein Skispringer oder eine Skispringerin bei dieser Freiluftsportart Wind und Wetter mehr oder weniger ausgesetzt.
Abbildung 4j) und k): Die Norwegerin Špela Rogelj bei der Absprungbewegung während des Weltcup-Finals 2014 in Planica (Slowenien).
Mit diesen beiden Bildern von Špela Rogeljs Sprung beenden wir die Besprechung der Absprung- und Flugphase. Im linken Bild ist zu sehen, dass ihre Arme nun fast unmittelbar neben ihrem Körper gelangt sind. Mit dem Oberkörper nähert sie sich ihren Ski weiter an. Es ist schön zu erkennen, wie sie die Rundung zwischen Oberkörper, Hüfte und Oberschenkel ausprägt, damit sich darunter die Luft sammeln kann.