Der Mullah und das Paradies

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Der Mullah und das Paradies
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Inhalt

Titel

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Vorbemerkung

Erster Teil: Reisen durch die Islamische Republik Iran

Statt einer Einleitung: Azila

Der Ayatollah in der Einbahnstraße – Tage in Teheran

Liebespaare im Schatten der Burg – Kerman. Mahan. Bam

Die Türme des Schweigens sind leer – In der Oase Yazd

Rosen auf dem Dichtergrab – In Schiraz zeigt der Islam ganz unterschiedliche Gesichter

Das Schweigen der Jahrtausende – Eine Reise nach Parargade, Naqsch-e Rostam und Persepolis

Der steinerne Traum von Tausendundeiner Nacht – Isfahan

Zweiter Teil: Usbekisches Reisetagebuch

Soll man in den Zeiten des islamistischen Terrors in ein islamisches Land fahren?

Mit dem Präsidenten ist nicht zu spaßen – In Taschkent

Zankapfel der Völker – Das Ferghana-Tal

Tote Städte aus Lehm und Sand – Karakalpastan

Der inszenierte Orient – Die Stadt Chiwa

Der Bandwurm und der Frisör – Ansichten und Geschichten aus Buchara

Die Hauptstadt des Weltenzerstörers – Samarkand

Nachtrag – Das historische Rätsel

Anhang

Reisehinweise IRAN

Literaturhinweise

Foto- und Kartennachweis

Über den Autor

Ludwig Witzani

Der Mullah

und das

Paradies

Reisen

durch den Iran

und Usbekistan

Ludwig Witzani: Der Mullah und das Paradies

Reisen durch den Iran und Usbekistan

_____________________________________________

Reihe „Weltreisen“ Band VI

Lektorat: Tilman Griebenow

epubli Verlag, Berlin, 2016

für die Angehörigen

der Familie Yazdi,

ganz egal,

wie sie heute heißen mögen



Szenen aus der iranischen Stadt Schiraz


Vorbemerkung

Zum historischen Iran gehören neben der Islamischen Republik Iran auch Teile von Usbekistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Afghanistan, vor allem die Gebiete der nördlichen Seidenstraße mit den glanzvollen Städten Chiwa, Buchara und Samarkand. Zusammen gesehen bildet der iranische Raum eines der großen Kulturzentren der Welt.

Dabei scheint es das Schicksal des Iran zu sein, immer das ganz Andere darzustellen. Schon in der Morgendämmerung der Weltgeschichte bildete die Kultur der Elamiter eine eigenständige iranische Variante der altorientalischen Kultur. In der Antike agierten die iranischen Großreiche als Antagonisten der Griechen und Römer - das Reich der Achaimeniden stand gegen die Griechen, das Reich der Parther und Sassaniden gegen das römische Imperium. Vom Islam im siebten und achten Jahrhundert überwältigt, wurde die iranische Kultur revolutioniert, aber nicht, ohne dass sich auch der Islam unter dem iranischen Einfluss tiefgreifend veränderte. Die politische und theologische Revolution der Safaviden-Dynastie machte den Iran im 16. Jahrhundert zum Gegenpart der Osmanen und innerhalb der islamischen Welt zur schiitischen Opposition. Im 20. Jahrhundert wurde der Iran schließlich zum Schauplatz der Iranischen Revolution, wahrscheinlich der bedeutendsten politischen Bewegung des letzten Jahrhunderts, deren Ziel nicht mehr und nicht weniger als der Sturz der Moderne ist.

Eine Reise durch den iranischen Kulturraum erlaubt also nicht nur die Begegnung mit erstrangigen Zeugnissen der Geschichte, sondern auch einen Einblick in eine religiös und ästhetisch vollkommen andersartige Welt - namentlich wenn sie außerhalb eingetretener Pfade und selbstorganisiert unternommen wird. Gerade in diesen Jahren, in denen der Islam in seinen unterschiedlichen Ausprägungen die westliche Welt herausfordert, kann eine Reise in den Iran dazu dienen, jenseits oberflächlicher Verbrüderungen das Eigene und das Fremde genauer zu erkennen.

Das vorliegende Buch bündelt zwei Reisen, die ich im Abstand von gut einem Jahrzehnt unternommen habe - die erste vor den Anschlägen des 11. September 2001, die zweite unmittelbar nach dem Beginn der Terroroffensive des Islamischen Staates gegen unschuldige Touristen im Jahre 2015. Aus dieser zeitlichen Differenz erklären sich die unterschiedlichen Perspektiven im ersten und zweiten Teil.



Erster Teil:

Reisen durch die Islamische Republik Iran


Statt einer Einleitung:

Azila

Vor vielen Jahren, lange bevor ich meine Reisen begann, hatte ich eine kleine Freundin. Ihr Name war Azila, sie war jung und schön – und sie war Iranerin. Damals hatte das einen anderen Klang als heute, wo alles Mohammedanische schnell unter Generalverdacht gerät. Damals war der Orient noch der verträumte Bruder des Westens, jedenfalls erschien es mir so, als ich Azilas Elternhaus in Bonn betrat, in dem der gutmütige Vater Farid und seine deutsche Frau Sabine mich herzlich willkommen hießen. Da war nichts von der strengen Kontrolle zu spüren, der heute viele moslemische Töchter unterworfen sind - im Gegenteil: Farids drei Töchter Azila, Roxana und Rosa waren so deutsch, wie man es sich nur vorstellen konnte. Sie kicherten und lachten, wie es alle Backfische in ihrem Alter tun und wickelten ihren Vater um den Finger, wie sie nur wollten.

Vater Farid hatte ein gutmütiges Gesicht, dunkle Haut und die runden Augen eines Teddybären. Er war mittelgroß und kräftig, seine Stimme war tief und seine Umgangsformen besaßen etwas Vornehmes. Als iranischer Student in Deutschland hatte er noch in der Schah-Zeit die damals blutjunge Sabine kennengelernt, hatte um sie geworben und sie schließlich geheiratet. Solche deutsch-iranischen Ehen waren damals an der Tagesordnung gewesen, denn der Iran befand sich unter der Herrschaft Schah Muhammed Reza Pahlawis in stürmischem Aufbruch. Eine Landreform hatte den Ärmsten der Armen endlich eine Existenzgrundlage verschafft, die Frauen waren offiziell gleichberechtigt, und von außen betrachtet schien es so, als führe die Weisheit eines orientalischen Augustus den Iran in eine glorreiche Zukunft. So dachten wir damals, und keiner hätte sich ernsthaft vorstellen können, dass alles ganz anders kommen sollte.

 

Jedenfalls heirateten Farid und Sabine und zogen nach Teheran. Dort bekamen sie sehr zügig drei Töchter, Rosa, die Scheue, Azila, die Schöne und Roxana, die Fröhliche. So weit so gut, doch Sabine wurde im Iran nicht glücklich. Was genau damals in Teheran geschehen ist, weiß ich nicht, aber offenbar war das alltägliche Leben in den Vorstädten einer orientalischen Millionenstadt doch erheblich anders, als es sich Sabine vorgestellt hatte. Es kam zu Konflikten, und eines Tages nahm Sabine ihre drei Töchter und kehrte nach Deutschland zurück. Die Zeiten von „Nicht ohne meine Tochter“ befanden sich noch in weiter Ferne. Farid, der verlassene Ehemann, blieb in Teheran zurück. Erst als ihm vor Kummer alle Haare ausgefallen waren, reiste er Sabine hinterher und erklärte sich bereit, hinfort mit seiner Familie in Deutschland zu leben. Er fand eine gutbezahlte Stellung bei einem Exportunternehmen, man bezog eine geräumige Wohnung in einem Bonner Vorort, und die drei kleinen Töchter vergaßen bald in Kindergarten und Grundschule alles Iranische und wurden waschechte Deutsche.

Nur einmal noch, das habe ich aber erst später erfahren, entstand Unruhe in der Familie, als im Jahre 1979 der Schah stürzte. Zum Staunen der Welt erhoben sich die Mullahs und Bazaris, und die Millionen in Teheran, Isfahan, Schiraz und Maschad folgten ihnen. Der Schah floh aus dem Land, das Volk raste vor Glück, und plötzlich holte auch der freigeistige Farid seinen Gebetsteppich aus dem Schrank, entrollte ihn im heimischen Wohnzimmer, um gen Mekka zu beten. Aber gottlob war das nur eine Episode. Als die Mullahs die neue Freiheit brachial niederkartätschten, packte Farid den Gebetsteppich wieder in den Schrank und kehrte in seine aufgeklärt-liberale Existenzform zurück.

Inzwischen waren die Töchter groß geworden. Rosa, Azila und Roxana befanden sich mittlerweile auf dem Gymnasium und besuchten ein- oder zweimal in der Woche das Studentenreferat der Universität, wo jeden Abend ein massenhaftes Circuit-Training stattfand. Gut und gerne einhundert kräftige junge Männer nahmen an dieser Veranstaltung teil, wo zum brausenden Klang mitreißender Musik die männlichen Körper gedehnt, gebeugt, gekräftigt, aber vor allem so effektvoll zur Schau gestellt wurden, dass dieser Termin für die Oberstufenschülerinnen der Umgebung zur allerheißesten Anlaufadresse wurde.

Dort habe ich Azila kennengelernt. Sie war ein prachtvolles junges Mädchen mit den pechschwarzen langen Haaren einer orientalischen Prinzessin, mit bronzefarbener Haut und dunklen Augen, die mir viel älter vorkamen als der Rest ihres Gesichtes. Die Einzelheiten, wie wir zusammenkamen, tun hier nichts zur Sache, allerdings verwunderte mich, wie direkt und gezielt sie mich erwählte. Alles vollzog sich schnell und unkompliziert, und obwohl ich ein gutes Stück älter war als sie, scheute sie sich nicht, mich ihren Eltern vorzustellen. Womit ich wieder beim Anfang bin und bei dem, was ich eigentlich erzählen wollte.

Denn jeden Sonntag, wenn ich mich am Vormittag bis zur Erschöpfung auf dem Fußballplatz verausgabt hatte, war ich Gast am Mittagstisch der Familie Katami. Das war zweifellos ein Privileg, denn der Sonntagstisch der Katamis war das üppige Zentrum des allwöchentlichen Familienlebens, bei dem aufgetragen wurde, was immer Wochenmarkt und Kühlschrank hergaben. Töpfe voller Reis, Gemüse, verschiedene Fleischsorten auf unterschiedlichen Platten, kleine Vorspeisenteller und jede Menge Knabberzeug standen zum Verzehr bereit, und als Konzession an Farids Heimweh nach dem Iran erklangen die melancholischen Töne einer iranischen Zitter über eine gediegene Stereoanlage. Das Gespräch bei Tisch hatte nichts Rituelles, nichts Weihevolles, alles plapperte durcheinander, und Azila, die sich in der Gegenwart meiner älteren Freunde oft um Stil und Ernsthaftigkeit bemühte, kreischte und lachte mit ihren Schwestern wie ein ausgelassenes Kind. Vater Farid saß derweil wie ein gütiger, glatzköpfiger Buddha am Kopfende des Tisches und nickte freundlich zu allem, was die Töchter über Schule und Leben so von sich gaben. Auch ich beschränkte mich überwiegend aufs Zuhören, denn ich war in erster Linie damit beschäftigt, den Speisen zuzusprechen, die Mutter Sabine auf den Tisch des Hauses gezaubert hatte.

Nach dem Essen aber kam das Tollste. Farid und mich überkam eine wohlige Müdigkeit, der Verdauungsvorgang setzte ein, und ehe wir uns versahen, waren wir bereits von den Mädchen in Wolldecken eingewickelt und wie zwei dicke Würste auf den beiden Diwanen des Wohnzimmers zum Mittagsschlaf abgelegt worden. Sabine und ihre Töchter räumten in Windeseile den Tisch ab, ich hörte noch ihr Lachen und das Klimpern des Geschirrs in der Küche, dann schlief ich ein.

Wenn ich es genau bedenke, kann ich mich an nur ganz wenige Momente meines Lebens erinnern, in denen mich eine derartige Entspannung bis in die letzten Fasern meines Wesens erfüllte, wie allsonntäglich auf dem Katami´schen Sofa im ersten Stock eines Wohnhauses in Bonn-Beuel. Jedes Mal versank ich übergangslos in einen tiefen Schlaf, in dem sich alle Verspannungen lösten und aus dem ich nach einer Stunde rundumerquickt und wie neu geboren erwachte. Inzwischen hatten Sabine und ihre Töchter den Samowar auf den Wohnzimmertisch gestellt und die Tschai-Gläser aus dem Schrank geholt. Farid und ich wurden aus den Wolldecken wieder herausgepult, nahmen eine ordentliche Sitzhaltung ein und tranken den Tee, der uns vor die Nase gesetzt wurde. Nun war die Zeit gekommen, in der der Hausherr und ich über die Lage der Welt diskutierten, was meistens so ablief, dass mir Farid seine Meinung zu den aktuellen Geschehnissen im In- und Ausland darlegte und ich nur hier und da leicht paraphrasierte, nicht zu viel, um nicht vorwitzig zu erscheinen, und nicht zu wenig, um nicht in den Ruf einer tauben Nuss zu kommen, die nur an dem Lammfleisch auf seinem Teller interessiert war. Ich weiß noch, wie kritisch Farid die Politik der Amerikaner und Briten beurteilte, verstand aber damals nicht die Berechtigung dieser Position, weil mir die Geschichte des Irans ein Buch mit sieben Siegeln war. Diese amerikakritische Haltung war im Hause Katami übrigens sakrosant, und selbst die Töchter schwiegen, wenn der Vater von dem Unrecht erzählte, dass die Briten den Iranern bei der Ausbeutung der Ölfelder angetan hatten. Vielleicht interessierte es sie aber auch gar nicht, denn Azila, Rosa und Roxana saßen nebeneinander auf dem Sofa und strickten an Shwals, Handschuhen oder Pullovern, was heute kaum glaublich erscheint, aber damals unter jungen Mädchen gang und gäbe war. Azila strickte für mich einen Pullover, von dem ich ahnte, dass er an meinem Körper wie ein Sack herunterhängen würde, den ich aber als Ausfluss ihrer Liebe in allerhöchsten Ehren halten würde. Ich habe ihn später in kalten Nächten schätzen gelernt und irgendwann in der Mongolei verloren.

Heute lebt Azila schon längst in einer anderen Stadt, ist glücklich mit einem guten Mann verheiratet – und hat wieder drei Töchter! Ich habe längst den Kontakt zu ihr verloren, doch geblieben ist mir die Erinnerung an die Sonntagnachmittage im Hause Katami, an ein merkwürdig wesenloses Glück, wie ich es nachher nie wieder in dieser Intensität empfunden habe. Auch wenn es im Hause Katami alles andere als traditionell-moslemisch oder iranisch zuging, auch wenn die sonntägliche Diaspora von allen Bedrängtheiten des Alltags als eine deutsch-iranische Melange daherkam, blieb die Erinnerung an diese paradiesische Behaglichkeit für mich immer mit dem Begriff des Irans verbunden. Essen, Trinken, Schlafen, Geborgenheit, Austausch und Liebe bildeten in ihrer Gesamtheit eine iranisch getönte Reminiszenz, die ich nicht mehr vergaß und die bei mir war, als ich Jahre später endlich den Iran bereiste.


Der Ayatollah

in der Einbahnstraße

Tage in Teheran

Als ich in den Iran aufbrach, stand die Welt an der Schwelle des dritten Jahrtausends. Die Erinnerung an den Sieg der Freiheit über den totalitären Sozialismus in Osteuropa war noch frisch, und noch vermochte sich niemand vorzustellen, welche Blutspur der Islamismus, diese Geißel des 21. Jahrhunderts, in den nächsten Jahren durch die ganze Welt ziehen würde. Der Islam war noch nicht der ungebärdige Aufwühler der Welt, sondern erschien dem oberflächlichen Blick noch immer als der milde, pittoreske Bruder des Okzidents, in dessen Städten sich der Reisende aus den kalten Gesellschaften des Westens eine Zeitlang an den Wonnen der Gemeinschaftlichkeit laben konnte. Selbst im Iran, der jahrzehntelang unter Revolution und Krieg gelitten hatte, schienen sich die Verhältnisse zu beruhigen. Eines der prachtvollsten und interessantesten Länder der Erde öffnete seine Pforten für die, die es sehen wollten. Ich besorgte mir ein Visum, packte meinen Rucksack, verstaute meine Kaffeevorräte und meine Bücher und brach auf.

*

Ich fuhr alleine zum Köln-Bonner Flughafen und checkte mein Gepäck am Schalter der Turkish Airlines ein. Zur Zeit gab es keine preisgünstigere Verbindung nach Teheran als einen Flug mit Turkish Airlines und einem Zwischenstop in Istanbul. Es war Wochenende, die Maschine war heftig überbucht, und es dauerte fast eine Stunde, ehe die Mitarbeiter der Fluggesellschaft genügend Passagiere überreden konnten, gegen üppige Kompensationen zurückzutreten.

Im Unterschied zu anderen Großraumflugzeugen war der Innenraum des Airbusses nicht unterteilt, so dass der gesamte Passagierraum von hinten nach vorne übersehbar war. Einen Moment lang erschienen mir die etwa dreihundert Passagiere, die vor mir saßen, wie die Besucher eines altertümlichen Kinos, die alle gebannt nach vorne starrten, obwohl es keine Leinwand gab. Bizarr wurde es, als die Maschine der Turkish Airlines beim Aufsteigen erschreckend ins Trudeln geriet und die Hinterköpfe der Passagiere allesamt in gleichen Takt hin- und her wackelten. Jeder Flug ist eine kleine Anfrage an den Tod, die gottlob meistens abschlägig beschieden wird.

Das Umsteigen in Istanbul ging problemlos vonstatten. Die Bombenanschläge späterer Jahre lagen noch weit in der Zukunft. Unbewacht lag das Gepäck in den Gängen, nirgendwo war Flughafenpolizei zu sehen. Auch der Anschlussflug von Istanbul nach Teheran war ruhig. Tief unter mir erkannte ich die Umrisse des Van Sees, aus der Höhe wirkte er wie ein seifiges Auge in einem zerklüfteten Gesicht. Heute tobt dort der türkisch-kurdische Bürgerkrieg. Es folgten die schneebedeckten Gipfel des türkisch-iranischen Grenzgebietes, schließlich die grünen Felder Iranisch-Aserbeidschans, dann Berge und Wüsten. Der größte Teil des Irans mit seinen immerhin 1,6 Millionen Quadratkilometern Fläche besteht aus Wüsten, Sandwüsten, Geröllwüsten, Steinwüsten, dann und wann einmal eine Oase, ein Bergzug, bis die nächste Wüste kommt. Kaum zu glauben, dass fast achtzig Millionen Menschen im Iran leben, wenngleich die überwiegende Mehrheit in den städtischen Ballungsräumen, deren größter die Hauptstadt Teheran ist. Ich schloss die Augen und versuchte mir vorzustellen, was mich erwartete. Auf jeden Fall ein lebhaftes Straßenbild, denn wenn man den Statistiken glauben durfte, lag das Durchschnittsalter der Bevölkerung inzwischen unter zwanzig Jahren, und unglaubliche vierzig Prozent der Iraner waren nicht einmal 14 Jahre alt. Kein Land für flächendeckende Kita-Betreuung.

Kaum war das Flugzeug auf dem Ajatollah Chomeini Airport in Teheran gelandet, griffen alle weiblichen Passagiere wie auf Kommando zum Tschador. Graue, schwarze, blondierte, rote, lange oder kurze Haare verschwanden unter dunklen Tüchern. Bildschöne Iranerinnen, die soeben noch mit dem Steward geflirtet hatten, junge Mädchen und ehrwürdige Großmütter, sogar die Touristinnen legten Kopftücher an und traten sorgfältig verschleiert vor die Passkontrolle als näherten sie sich einem Beichtstuhl. Doch die Einreisekontrollen verliefen locker und entspannt. Wo man Horden schiefmäuliger Tugendwächter erwartet hatte, die nur darauf warteten, jeden Ungläubigen bei der Einreise zu drangsalieren, knallte mir ein freundlicher Beamter ohne große Umstände den Stempel in den Pass. Lässig an seinem Tee nippend, winkte mich der Zollbeamte durch. Ich war im Iran.

Vor dem Flughafen stürzte sofort ein halbes Dutzend Taxifahrer auf mich ein. Alle bestürmten mich mit den unterschiedlichsten Angeboten, denen nur eines gemeinsam war, ein unglaublich niedriger Preis. Der fortdauernde Wirtschaftsboykott der westlichen Staaten gegen den Iran hatte dem Rial, der iranischen Währung, übel mitgespielt, so dass die Kaufkraft von Euro und Dollar innerhalb des Irans geradezu unglaublich war. Ich wählte den zurückhaltendsten Anbieter, verfrachtete mein Gepäck im Kofferraum und nannte den Namen meines Hotels. Der Taxifahrer war tadellos gekleidet, duftete nach einem dezenten Herrenparfum und trug seinen pechschwarzen Haare wie angeklebt an seinem langgezogenen Kopf. Ich notierte: Der Iraner als Angehöriger eines alten Kulturvolkes zeigt seinen Rang in der Akkuratesse seiner Frisur. Aber welcher Bevölkerungsgruppe mochte er angehören? Nur die Hälfte der Iraner waren ethnische Perser. Etwa ein Fünftel der Bevölkerung waren türkischstämmige Aserbaidschaner, knapp zehn Prozent Kurden, und der Rest teilte sich auf in Araber, Tadschiken, Belutschistanis und andere Minderheiten. Die Gesichtszüge des Taxifahrers waren europid, er besaß einen messerscharfen Nasenrücken, einen geschmäcklerischen Mund und dunkle, ausdrucksstarke Augen unter dichten Augenbrauen. Wahrscheinlich war er ein Perser.

 

Auf halber Strecke zwischen Flughafen und Innenstadt stoppte der Taxifahrer am Straßenrand und verwies auf einen großflächigen Kreisverkehr, in dessen Mitte sich ein riesenhaftes Steingebilde auf einer weitflächigen Verkehrsinsel befand. Es handelte sich um das sogenannte Azadi-Monument, ein 45 Meter hohes altorientalisches Portal, das so weiß und vereinzelt in der Mitte des Kreisverkehrs stand, als sei es geradewegs aus dem Reich der Achaimeniden in die Gegenwart geflogen. In seiner Größe und mit seiner breiten Basis glich es einem überdimensionalen Christbaumständer ohne Baum. Niemand geringeres als Schah Muhammed Reza Pahlavi hatte das Azadi-Riesentor im Jahre 1971 zur Erinnerung an die Gründung des persischen Weltreiches vor 2500 Jahren errichten lassen, ein beachtliches Jubiläum, das nicht nur weit hinter die Entstehung des Islams, sondern auch bis hinter die Anfänge Europas zurückging. Schah Reza Pahlavi griff wahrscheinlich deswegen so weit in die Vergangenheit zurück, um dazulegen, dass der Islam nur eine Episode in der Jahrtausende langen Geschichte des Irans gewesen sei. Ich rechnete zweieinhalbtausend Jahre zurück und kam auf das Jahr 529 vor der Zeitrechnung, auf das Jahr, in dem Kyros der Große, der Gründer des persischen Weltreiches, in Zentralasien im Kampf gegen die Skythen den Tod gefunden hatte. Ein schlechtes Omen für das Monument, wie sich bald zeigen sollte, denn der moderne, verwestlichte Iran mit seinen Jahrtausende alten Wurzeln in der vorislamischen Zeit erwies sich als eine Schimäre. Nur acht Jahre nach der Fertigstellung des Azadi-Monuments erhoben sich die verarmten Massen in der Teheraner Südstadt unter der Führung der Mullahs gegen den Schah und fegten sein modernistisches Regiment hinweg.



Azadi-Monument / Teheran

Die Dämmerung brach über Teheran herein, als wir weiterfuhren, und als mich der Taxifahrer vor dem Hotel absetzte, war es schon dunkel. An der Rezeption erfuhr ich, dass mein Zimmer nicht frei war. Der Gast, der heute morgen hatte auschecken sollen, war einfach im Zimmer geblieben, weil er erst in der Nacht weiterfliegen würde. „Aber das macht doch nichts“, versicherte mir der Empfangschef in gutturalem Englisch, ein gertenschlanker Iraner mit einer langen Hakennase, die ihm wie eine immerwährende Verneinung im Gesicht stand. Er führte mich in einen Nebenraum, in dem zwei Sofas standen. „Hier können Sie sich ausruhen, bis ihr Zimmer frei wird“. Ich tat, wie mir geheißen und schlief sofort ein. Mitten in der Nacht wurde ich geweckt, mein Vormieter war endlich ausgezogen. Ich stolperte ins Zimmer, knallte meinen Rucksack in die Ecke und schlief wieder ein.

*

Am nächsten Morgen lag über Teheran der milde Glanz einer herbstlichen Sonne. Was sie beschien, war weniger erbaulich. Vom sechsten Stock meines Hotels aus überblickte ich ein graubraunes Häusermeer ohne jede markante Silhouette, eine fragmentierte Steppdecke aus Beton, die sich bis zum Horizont erstreckte. Es war gerade Frühstückszeit, doch schon drang der Verkehrslärm wie eine Heimsuchung in mein Zimmer, eine kakofone Morgensinfonie aus Hupen, Bremsen, Quietschen und dem eigentümlichen Rauschen, das die Fortbewegung abertausender Fahrzeuge erzeugt. Teheran, eine Stadt, mehrfach so groß wie München mit einem Straßennetz, das kleiner ist als das von Köln und der zehnfachen Menge an Autos. Das konnte heiter werden.

Der Frühstücksraum befand sich im ersten Stock des Hotels. Es war ein langgezogener, schmuckloser Saal mit hässlichen Gardinen vor einer trüben Fensterfront. Etwa ein Dutzend Iraner saßen an Tischen ohne Tischdecken, tranken Tschai und aßen Fladenbrot mit Konfitüre und Ziegenkäse. Die Männer sahen aus wie orientalische Scheichs, die man in zu enge Anzüge gesteckt hatte, ihre Bewegungen waren langsam und würdevoll, selbst wenn sie zum Fladenbrot griffen. Die Frauen trugen körperverhüllende Kleider und schwarze Kopftücher, hatten aber jede Menge Rouge aufgelegt. Ich setzte mich zu zwei deutschen Touristen an den Tisch. Sie stellten sich als Johannes und Lothar aus dem Rheinland vor und waren natürlich Lehrer, was mich nicht überraschte, weil man kein asiatisches Land bereisen kann, ohne nicht auf Schritt und Tritt auf Lehrer zu treffen. Johannes hatte große, kreisrunde Augen, die nicht zu seinem wetterzerfurchten Gesicht passen wollten, er war eine offenherzige und freundliche Natur, die mich gleich in das Gespräch einbezog. Lothar schien etwas jünger zu sein, ein Schlaumeier mit Pausbacken, der sich gerade über asiatische Hauptstädte ausließ. „Denk doch mal, welch traditionsreiche Städte Indien besaß, doch die Briten machten das geschichtslose Kalkutta zu ihrer Hauptstadt. Und in Thailand war es ganz ähnlich. Bangkok ist gerade mal erst zweihundert Jahre alt. Und genauso verhält es sich auch im Iran. Isfahan, Schiras, Maschad, alles ehrwürdige Städte, aber die Hauptstadt des Landes wurde Teheran, ein unscheinbarer Ort am Rande des Landes.“

Sprach´s und biss in sein Fladenbrot und blickte fragend in die Runde, als hätte er ein Rätsel formuliert, das sofort gelöst werden musste.

„Ist wie bei meinem Nachbarn“, meinte Johannes und grinste, „Der hat seine altehrwürdige Gattin auch in die Wüste geschickt und sich was Frisches genommen.“

Ich hatte mir inzwischen einen Tschai besorgt und trank einen Schluck. Der Tee war stark, mit einer Spur Ingwer gewürzt und vorgezuckert. Ich fragte die beiden, wie lange sie schon in der Stadt seien.

„Viel zu lange“, antwortete Lothar, „denn in Teheran gibt es kaum was zu sehen.“

Zwei junge westliche Frauen betraten den Raum. Man erkannte sie an der legeren Kleidung, auch wenn beide ein Kopftuch trugen, allerdings weniger als Verhüllung, sondern als modisches Accessoire. Dass sie in dem gleichen Raum wie die Männer frühstücken durften, wollte ich als Zeichen des liberalen Wandels deuten, von dem überall behauptet wurde, dass er im Iran in vollem Gange sei. Doch als die beiden jungen Frauen zu uns kommen wollten, verwies der Ober sie rigoros die Ecke des Raumes, die für allein reisende Frauen vorgesehen war. Die beiden nahmen es mit Humor, winkten kurz zu uns herüber und gingen ans Buffet.

„Kennt ihr die?“ fragte ich.

„Nein“, gab Johannes zurück. „Alleinreisende Frauen kennenzulernen ist im Iran etwas schwierig.“

„Wieso das?“

„Du wirst schon sehen.“

Da das Hotel relativ zentral lag, verzichtete ich auf ein Taxi und lief nach dem Frühstück zu Fuß durch die Stadt. Viel langsamer als die Fahrzeuge war ich auch nicht, denn überall verstopften regelrechte Blechlawinen Straßen und Kreuzungen. Es gab zwar Ampelanlagen und jede Menge Einbahnstraßen, doch die Befolgung der Verkehrsregeln schien Ansichtssache zu sein. Ampeln bei rot zu überfahren– die normalste Sache der Welt, in die Einbahnstraße verkehrt herum hineinzufahren – offenbar kein großes Ding. Selbst die Abbilder grimmig dreinblickender Ajatollahs, oft direkt neben den Verkehrsschildern postiert, vermochten nur wenige Verkehrssünder abzuschrecken. Auch auf den Bürgersteigen herrschte Hektik. Im Unterschied zu Karachi oder Marrakesch, wo sich die meisten Fußgänger im Slow-Motion-Modus über die Straßen bewegen, schien an diesem Morgen in Teheran jedermann etwas Dringliches vorzuhaben. Armeschlenkern, Tunnelblick, scharfe Kurven und immer wieder ein „Bebakhshid“ (Entschuldigung) wenn sich jemand an mir vorbeidrängte. Ich befand mich in einer merkwürdig unprägnanten orientalischen Metropole - ohne das malerische Ambiente von Kairo oder Istanbul, aber mit erheblich mehr Verkehr und einer Bevölkerung, deren männliche Hälfte in Turnschuhen und Jeans durch die Gegend lief, während der weibliche Teil sich komplett verschleiert durch die Straßen bewegte. „Wenn eine Iranerin in den Raum kommt, kann man die Lichter löschen“ hatte der persische Dichter Hafiz geschwärmt – eine charmante Lobpreisung vergangener Tage, die in der frommen Gegenwart allerdings bedeutete, dass man sich noch eine Zeitlang mit der Zimmerbeleuchtung würde behelfen müssen. Immerhin konnte man auf der Motahhari-Avenue oder der Teleghani-Street beobachten, dass auch bei den Damen die Dinge in Bewegung gerieten. Rot wie die Rosen von Schiras leuchteten die Lippen mancher Iranerinnen, die mir entgegenkamen, immer mehr kesse Locken lugten unter den Kopftüchern der jungen Frauen scheinbar beiläufig hervor, und sogar die langen schwarzen Umhänge, ursprünglich zur ästhetischen Nivellierung alles Weiblichen entworfen, hatten sich zu Ausgangspunkten modischer Gestaltung entwickelt. Kein Wunder, dass ich bei diesen Begegnungen an Azila denken musste, an ihre tiefdunklen Augen, die bronzefarbene Haut, das üppige, schwarze Haar und ihre blitzweißen Zähne. Hier in Teheran würde man von Azilas Reizen nichts sehen, sie wären verhüllt unter schwarzem Tuch, und nur der Ehemann würde sich, wann immer es ihn danach verlangte, an ihnen laben dürfen. Die andere, die männliche Hälfte der Bevölkerung, kam in trister Maskulinität daher. Die Polizisten liefen über die Straßen, als hätten sie ein Brett im Kreuz, die jungen Männer präsentierten ihre blanken Oberarme in gefaketen westlichen Muskel-Shirts, und die älteren Herren bewegten sich mit ihren Bäuchen wie mobile Schaukelstühle über die Straße.


Eine weitere Besonderheit des Straßenbildes, das ich in dieser Form noch nirgendwo gesehen hatte, bestand in der flächendeckenden Plakatierung des öffentlichen Raumes mit den Konterfeis von Märtyrern oder heiligen Männern. Wo in unseren Breitengraden Figuren mit lachenden Gesichtern für Automobile oder Handys werben, blickten in Teheran an jeder Ecke Krieger oder Ayatollahs mit Leichenbittermienen auf das Volk hernieder, allen voran natürlich Ayatollah Chomeini, der Revolutionsführer und Staatsgründer, der auf der nach oben offenen Verehrungsskala des Normaliraners gleich hinter dem Propheten rangiert. So viele Haken ich auch auf den Straßen schlug, so viele öffentliche Plätze und Parks ich auch besuchte, immer begrüßte mich ein Bild des großen Ayatollahs, der mit einem solchen Trauerblick auf die Angehörigen seines Volkes nieder blickte, dass ich mich unwillkürlich fragte, ob die Iraner darüber nicht depressiv werden müssten. So mein erster Eindruck, der sich bald als falsch herausstellen sollte. Denn im weiteren Verlauf meiner Reise sollte ich lernen, dass sich der grimmige Gesichtsausdruck des Ayatollahs und das Lebensgefühl des Iraners ebenso umgekehrt proportional zueinander verhielten wie die öffentliche Parteipropaganda der SED und das alltägliche Leben der Menschen in der ehemaligen DDR. Während die flächendeckend eingesetzten kommunistischen Mobilisierungsparolen in Berlin oder Leipzig den Eindruck erweckten, das Volk hätte nichts anderes zu tun als 24 Stunden am Tag für das Gemeinwohl zu rackern, ließ es sich, wie man heute weiß, im Schatten dieser Parolen recht gemütlich leben. Mit der Leichenbittermiene des Ayatollahs und der Befindlichkeit seines Volkes verhielt es sich ebenso. Würde man im Angesicht der Trauerfalten des hochverehrten Staatsgründers mutmaßen, das ganze Volk greine von morgens bis abends, wurde unterhalb der großen Chomeini-Plakate genauso gelacht wie anderswo. Spricht man die Iraner direkt an (natürlich nur die Männer) erwiesen sie sich als freundlich und hilfsbereit, waren aber nicht immer in der Lage, mir bei der Orientierung in Teheran weiterzuhelfen. Denn die siegreichen Revolutionäre hatten mit der Umbenennung von Straßen und Plätzen derart vollständige Arbeit geleistet, dass selbst die Einheimischen ins Schleudern gerieten. Auch die Namen der Sehenswürdigkeiten waren verändert worden, von der Tendenz der Präsentationen ganz zu schweigen. Die Paläste des Schah waren längst in „Museen des Despotismus“ umfunktioniert worden, und die ehemalige amerikanische Botschaft, die während der Geiselnahme im Jahre 1979 im Blickpunkt der Weltöffentlichkeit gestanden hatte, firmierte heute als „Museum der US-Spionage“. Nur das Iranische Nationalmuseum hatte seinen Namen behalten, war aber wegen Umbauten geschlossen. Das war ärgerlich, denn es handelte sich zweifellos um die größte kulturelle Attraktion, die die Stadt zu bieten hatte. Die Exponate des Museums deckten einen Zeitraum von über achttausend Jahren ab, und sie waren in zwei Hauptgebäuden, je einem für die vorislamische und die islamischen Periode, untergebracht. Das hörte sich nicht besonders aufregend an, und doch waren diese Exponate Zeugnisse einer Hochkultur, die vom Anfang der Zeiten an in der allerersten Liga der Weltgeschichte mitgespielt hatte. Selbst innerhalb der altorientalischen Geschichte war der Iran mit dem Reich Elam bereits mit von der Partie gewesen, das hätte ich mir im Museum gerne angeschaut. Wie stellte sich die Überwindung der altiranischen Hochkultur durch die arabischen Eroberer im Spiegel der Baukunst dar? Und vor allem: wie wurde dieser Wandel von den neuen Herren präsentiert? In der Kulturgeschichte hieß es, dass der Iran durch den Einfall der Seldschuken und Mongolen zwischen dem zehnten bis fünfzehnten Jahrhundert rebarbarisiert worden war. Konnte man das an den Exponaten sehen?