Wien

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Mir scheint, Sie sind ein bisschen enttäuscht. Na ja,besonders schöne und interessante Köpfe sind da nicht zu sehen. Vielleicht später, wenn Felix Dörmann kommt, die letzte Kaffeehaussäule des alten Jung-Wien. Oder haben Sie vielleicht erwartet, dass jeder der Wiener Autoren hier mit einem süßen Mädel im Arm sitzt? Dafür würden sich die süßen Mädel bedanken, aber auch die Wiener Autoren. Die sind gar nicht so für Liebe, denn das könnte sie nur stören, wenn sie Liebesromane schreiben. Aber es sitzen hier auch sehr begabte Leute: Leo Perutz, der prachtvolle Erzähler, Anton Kuh, der groteske Improvisator und der produktive Walter Angel, der Ihnen sofort erzählen wird: »Mein neuer Roman schreitet rüstig vorwärts.« Wer die anderen sind, weiß ich wirklich nicht. Ich bin nämlich ein so fleißiger Schriftsteller, dass ich nicht dazu gekommen bin, es im Literaturkaffeehaus zu etwas zu bringen: zum Literaten, zum Autor oder, Gott bewahre, gar zum Dichter. Ich wäre auch in der größten Verlegenheit, wenn ich da mitreden müsste, denn ich kann doch nicht gut über das letzte Feuilleton von Auernheimer oder Salten und über das Literaturblatt der Neuen Freien Presse mitschimpfen. Eher noch über meinen letzten Sonntagsartikel. Die Herren haben aber auch sonst beim Sprechen alle Hände voll zu tun: Feuilleton- und Verlegerhonorare in Wien und in Deutschland, Nachdrucke, Reklamenotizen, neue Adjektive und Zeitschriften. Und wenn sie so bis sieben, acht Uhr hier gesessen sind und vielleicht noch irgendeinen armen Teufel oder Narren aufgezogen haben, dann gehen sie nach Hause. Wahrscheinlich dichten. Auf jeden Fall aber sehr befriedigt, weil sie wieder einen ganzen Nachmittag aufeinander achtgegeben haben, damit es ja keiner zu weit bringt …

So leben wir alle Tage. Nämlich im Kaffeehaus. Von acht Uhr früh bis zwei Uhr nachts spielt sich hier ein wesentlicher Teil des Wiener Lebens ab. Hier werden die Meinungen gebildet, die Gemeinplätze und manchmal auch die Gemeinheiten. Hierher kommt man immer wieder und bei jedem Anlass: weil man verbittert oder glänzend gelaunt ist, weil’s einem schlecht oder zu gut geht, weil man Hunger hat oder zu satt ist. Das ist das Wiener Kaffeehaus: alles für alle. Rendezvousplatz für den Anfänger der Liebe, Klub für den Uneleganten, Geschäftslokal für den Mann ohne Bureau, Traumstätte für den Werdenden und Vergehenden, Wohnung für den Menschen ohne Heim und Anschluss für den Familienlosen. Und das alles, diese kleine eigentümliche Welt, in einen weichen, warmen Mokkaduft getaucht – sehen Sie: Das ist Kaffeehauskultur.

EIGENTÜMLICHKEITEN, AN DIE MAN SICH GEWÖHNEN MUSS

Die Taxis. – Das Telephon. – Linksgehen. – Straßenbahnsitten. – Der Breitner. – Die Politik.

Lesen Sie dieses Kapitel unbedingt als erstes. Es bildet die unerlässliche Voraussetzung zum richtigen Verständnis alles Vorhergehenden und Folgenden.

Bevor man sich auf einen näheren Umgang mit Wien einlässt, ist es nötig, seine Art und Weise kennenzulernen. Wahrscheinlich ist das in allen großen Städten nötig, in die man zum ersten Mal kommt. Jede Stadt hat ihren Hausbrauch, ihre Eigenart. Aber Wien hat außerdem noch eine Fülle von Eigentümlichkeiten: komische, seltsame Züge, Einrichtungen und Gewohnheiten, die häufig im krassen Gegensatz zu europäischen Normalbegriffen stehen. Oh, wir kennen unsere kleinen Fehler und Schwächen ganz genau. Darum gewöhnen wir sie uns auch nicht ab. Ja, wir schimpfen und raunzen gern darüber, wir machen uns leidenschaftlich über uns selbst lustig. Aber im Grunde sind wir auf unsere Eigentümlichkeiten stolz. Wir haben gar nichts dagegen, wenn der Fremde mitraunzt, mitwitzelt. Aber wenn er sich ernstlich entrüstet oder uns gar belehrend hofmeistern will, wenn er sagt: »Nehmen Sie sich an London, an Berlin ein Beispiel«, dann bekommt er sofort die entwaffnend apathische Antwort: »Tuans Ihna nix an!« Das heißt: So gescheit wie Sie sind wir schon lang. Regen Sie sich nicht auf, es nützt Ihnen ohnehin nichts … Und da Wien, so wie es ist, ganz reizend ist, kann ich Ihnen nur den Rat geben, sich über unsere Eigentümlichkeiten zu orientieren, sich an sie zu gewöhnen. Dann wird es Ihnen bald in Wien so gut gefallen, als ob Sie ein echter, unzufriedener Wiener wären …

»Links gehen!« Früher ist jeder in Wien auf der Straße so gegangen, wie er wollte und nach dieser einzigen, für uns geeigneten Vorschrift ging es meistens ganz gut. Sogar im Umsturzjahr, wo die Mehrheit von selbst »links ging«, nämlich ins Lager der Republik und der Sozialdemokratie. Bis vor einigen Jahren der Polizeipräsident Schober den Entschluss fasste, dass für den Wiener Verkehr etwas geschehen müsse, weshalb er den kategorischen Straßenimperativ erließ: Alles muss links gehen! Sofort gingen die bisher überzeugten Linksgeher rechts. Nach diesem verheißungsvollen Anfang trat der weiße Strich in seine Rechte. Bei der Opernkreuzung, wo mit Hilfe von Richtungslinien, Pfeilen und Strafmandaten die erste Wiener Gehschule etabliert wurde. Anfangs schien es, als ob das Ganze ein Einfall unserer Revue- und Coupletautoren wäre, die davon monatelang lebten. Der Erfolg war enorm. Die Menge staute sich bei der Opernkreuzung zum Verkehrshindernis, und ein Wiener sah dem anderen schadenfroh zu, wie er hinüberging. Aber es war tatsächlich ein Einfall der Wiener Polizeidirektion, wodurch die Sache bald den Reiz der Neuheit verlor. Seitdem man weiß, dass es bloß eine amtliche Vorschrift ist, geht wieder jeder über die Opernkreuzung nach seiner individuellen Richtung und so geht alles in Ordnung.

Zum Linksgehen gehört auch das Verbot des Wegwerfens von Papieren. Nicht etwa von entwerteten Börsenpapieren, sondern von sonstigen wertlosen Abfällen. Dafür gibt es an jeder dritten Laterne Behälter, sodass Wien jetzt im sinnigen amtlichen Zeichen des Papierkorbes steht. In den Flitterwochen der neuen Papierordnung gab es eine Hausse in Strafmandaten, die am Ort der Tat eingehoben wurden. Seitdem hat auch diese letzte Konjunktur stark nachgelassen. Angeblich erwägt die Polizei die Herabsetzung des Preises auf einen Schilling, um auch den Minderbemittelten das Wegwerfen von Papierln zu ermöglichen. Das freie Ausspucken und Ansprechen ist auf der Straße noch nicht verboten, wird aber trotzdem fleißig geübt.

»Bitte um Feuer!« Gewöhnen Sie sich rechtzeitig daran, diesem Wort Folge zu leisten, ohne mit der Wimper oder mit der Zigarette zu zucken. Eher können Sie sich gegen den Befehl »Im Namen des Gesetzes!« oder gegen den Räuberzuruf »Hände hoch!« mit Erfolg auflehnen, als gegen den Mann, der auf der Straße, in der Straßenbahn oder wo immer an Sie herantritt und mit hingehaltener, nichtbrennender Zigarette etwas drohend murmelt. Halten Sie still, auch wenn er dabei Ihre gute Zigarre misshandelt oder wenn er mit einem sichtlich unmanikürten kleinen Finger an dem Ihren zutraulich Anlehnung nimmt. Wenn Sie noch so eilig dahinstürmen, kann Sie dennoch jeder Passant mit der Bitte um Feuer anhalten. Sie gehört zu den verbrieften Wiener Menschenrechten und wer sie abschlagen wollte, würde interessante Vokabeln aus dem Wiener Schimpfwörterbuch zu hören bekommen.

»Bitte vorgehen!« Dieser Imperativ ist die abgekürzte Formel für unsere Straßenbahnkonfusion, die sich auf alte Traditionen gründet, zu deren Erhaltung Straßenbahndirektion und Bevölkerung aufopfernd das ihre beitragen: Die eine durch Vorschriften, die andere durch pflichtgetreue Nichtbeachtung. Verboten ist unter anderem: das Auf- und Abspringen, bei der »Ein«-Stiege auszusteigen und bei der »Aus«-Stiege einzusteigen, bei der Wagentür stehen zu bleiben, mit dem Fahrer zu sprechen und frei auszuspucken. Folglich müssen Sie, wie alle Fahrgäste, das Gegenteil davon tun, sonst machen Sie sich lächerlich und unbeliebt und jeder wird sich sofort geringschätzig denken: Wahrscheinlich ein Fremder. Ferner wollen Sie folgende Regeln beachten: In der Straßenbahn fahren durchweg Menschen, die »eh« gleich aussteigen, nämlich bei der nächsten oder bei der fünfzehnten Haltestelle. Wenn Sie daher auf den klagenden Schaffnerruf: »Bitte vorgehen!« wirklich vorgehen, wird dieses seltsame Vorgehen allgemeines Befremden erregen und die größte Konfusion, wie immer, wenn einer hier ganz korrekt vorgeht. Wollen Sie die Wiener Volksseele restlos kennenlernen, dann fahren Sie einmal im Beiwagen der O-Linie. Angesichts dieser Überfüllung werden Sie Ihren Hühneraugen nicht trauen und Sie werden staunen, wie leidenschaftlich Wäschekörbe, Nähmaschinen, Bilderrahmen und sonstiges Hausgerät in der Straßenbahn fahren. Bewahren Sie kaltes Blut, wenn jemand eine vertraulich alkoholische Ansprache an Sie richtet oder Ihnen herzlich ins Genick niest oder hustet. Er könnte es ja auch mit demselben Recht von vorn tun. Erheben Sie dagegen um Gottes willen keinen Einspruch, denn je gesitteter und gebildeter Sie es tun, desto gröber fällt die Antwort aus. Meistens gipfelt Sie in dem wohlmeinenden Rat: »Wann Ihna was net recht is, nehmens Ihna an Auto!«

»Wie viel Uhr ist es?« Nicht nur die Wiener Menschen, auch die leblosen Wiener Dinge haben ihre Eigentümlichkeiten. In dieser Stadt der kleineren und größeren Ungenauigkeiten haben sich sogar die öffentlichen Uhren dem Rhythmus der Schlamperei angepasst. In Salzburg wussten Sie noch genau, wie viel Uhr es ist, vielleicht noch in St. Pölten, aber in Wien wissen Sie es nach einigen Tagen nicht mehr. So wie die Bevölkerung alles partei- und klassenmäßig beurteilt, sind auch die Uhren hinsichtlich der Zeit, die sie anzuzeigen haben, ganz verschiedener Ansicht. Die einen sind reaktionär und bleiben täglich zurück, die anderen gehen radikal vor. Die Rathausuhr ist anderer Meinung als die bei der Opernkreuzung, und die Kontrolluhren bei den Straßenbahnhaltestellen haben wieder ihre eigene, kommunale Zeit, die aber mit der Rathauszeit nicht übereinstimmt. Verlässlich ist nur die Uraniazeit, aber wer kann immer zur Urania bei der Aspernbrücke fahren. Am schwankendsten ist der Zeitpunkt auf den Wiener Bahnhöfen, wo es oft unten im Vestibül um fünf Minuten später ist als oben in der Abfahrtshalle. Angeblich über höheren amtlichen Auftrag, damit sich die Reisenden unten hetzen und sich dann oben freuen, dass sie noch Zeit haben … So gehört zu den vielen Fragen, auf die Sie im heutigen Wien keine genaue Antwort bekommen, auch die: »Wie viel Uhr ist es?« Aber dafür weiß man wenigstens in den meisten Fällen, wie viel es geschlagen hat.

 

»Hallo, ich versteh’ Sie nicht!« Das Wiener Telephon ist nicht schlecht. Auf jeden Fall ist es besser als die Mehrheit der telephonierenden Wiener Menschheit. Fürchterlich rächt sich da unsere Eigenart, dass jeder durchaus nach seiner Fasson unselig und schlampig sein will. Seit dem Übergang zum Millionensystem mit den den Nummern vorangesetzten Buchstaben kennt sich niemand mehr aus. Kein Mensch hält sich an die gedruckten Vorschriften. Der Anrufende stellt sich prinzipiell nicht vor, sondern fragt herausfordernd: »Wer spricht dort?« Und wenn man unschuldigerweise falsch verbunden ist, da kann man die ganze Skala menschlichen Hochmutes und schroffer Geringschätzigkeit kennenlernen. Ganz speziell möchte ich Sie vor dem »Fräulein Momenterl« warnen. Das ist die Telephondame in Banken, größeren Geschäften, Kanzleien, die für jemanden anderen anruft, dessen Namen sie aber um keinen Preis verrät. Sie fragt nur: »Haben Sie die Nr. 92210? Ja? Momenterl!« Worauf sie verschwindet, Sie fünf, zehn Minuten beim Apparat warten lässt, bis Sie wütend auflegen, ohne eine Ahnung zu haben, wer sich hinter dem Pseudonym »Momenterl« eigentlich verbirgt. Eine der merkwürdigsten Erscheinungen der Wiener Literatur ist das Telephonbuch. Im Hotelzimmer, bei öffentlichen Sprechstellen finden Sie meistens eine veraltete Ausgabe. Die großen Hotels scheinen unter schweren Opfern eigens alte Telephonbücher aufzukaufen. Aber die neueste Ausgabe ist auch nicht viel mehr wert. Namentlich das Fachregister ist eine Sehenswürdigkeit. In diesem amtlichen Verzeichnis stehen nämlich nur jene Unternehmungen und Firmen, die ihre Aufnahme bezahlt haben, also ein kleines Vorstadttheater, zwei Kinos, drei Apotheken. Man kriegt hilflose Wutanfälle. In diesem Fachregister fehlt die wichtigste Angabe: dass es nur benutzbar ist, wenn man Lehmanns Wohnungsanzeiger neben sich liegen hat. Es würde mich sehr interessieren, ob Ihnen die genaue Befolgung aller dieser Telephonratschläge irgendwie genützt hat. Vielleicht rufen Sie mich an. Ich werde es also nie erfahren …

»Ist er ein Jud?« Sie werden sagen: Auch anderswo gibt es Juden. Möglich. Auch anderswo sind die Juden nicht beliebt und es fällt mir auch gar nicht ein, hier plötzlich eine Debatte über die Judenfrage eröffnen zu wollen. Ich möchte Sie nur auf die spezifisch wienerische Judenfrage aufmerksam machen. Sie hat gar nichts mit Politik und Rassenantisemitismus zu tun, denn diese Frage wird hier von allen, ohne Unterschied der Konfession, gestellt, von Hakenkreuzlern wie von Juden: »Ist er ein Jud?« Alle anderen Fragen kommen nachher: Ob der Komponist, der Schriftsteller wirklich Talent hat, ob der berühmte Arzt schon viele Patienten geheilt, der Fußballchampion schon viele Goals geschossen hat. Die primäre Frage lautet: »Ist er ein Jud?« Erst wenn sie beantwortet ist, dann stellt man sich zu der Leistung des Schriftstellers, des Universitätsprofessors entsprechend ein. In jedem Gespräch wird man Ihnen damit aufwarten. Wenn Sie Ihrer Verwunderung Ausdruck geben, dass unser größter Gelehrter, Professor Sigmund Freud, der Schöpfer der Psychoanalyse, ein Mann von europäischer Geltung, noch nicht Ordinarius an der Wiener Universität ist – Antwort: Er ist doch ein Jud.


Professor Sigmund Freud

Es mag auch daran liegen, dass so viele interessante und originelle Köpfe Juden sind: Egon Friedell, der raffiniert gescheite Polyhistor, Philosoph und Amateurschauspieler, Raphael Schermann, der Schriftendeuter. Deshalb gebe ich Ihnen den guten Rat: Seien Sie während Ihres Wiener Aufenthaltes nicht zu interessant und originell, sonst sind Sie hinter Ihrem Rücken plötzlich ein Jud …

Jetzt bin ich beinah in die Politik hineingeraten. Aufrichtig gesagt: Ich kenne mich auf diesem Gebiet nicht besonders aus. Aber wer kennt sich denn in der österreichischen Politik wirklich aus? Vielleicht unser verehrtes Staatsoberhaupt, Bundespräsident Dr. Michael Hainisch, der die nicht immer leichte Aufgabe, Österreich zu repräsentieren, mit echter bürgerlicher Würde und vollendetem Takt erfüllt. Dieser Gelehrte und Landwirt ist als Staatsoberhaupt wirklich populär. Heute vielleicht populärer als der Prälat Dr. Ignaz Seipel, dessen große Zeit die Sanierungsjahre seiner ersten Kanzlerschaft waren. Die interessantesten und populärsten Männer gibt es in der sozialdemokratischen Partei, die in Wien die unerbittlichste Regierungspartei und im Staat die frondierende Opposition ist. Sie hat interessante Köpfe, wie den Bürgermeister Karl Seitz, dessen abgeklärt diplomatischem und leutseligem Wesen man den kleinen Turnlehrer nicht mehr anmerkt, den temperamentvollen Dr. Karl Renner, ein Volkswirtschaftler und Poet, denn er hat die Bezeichnung »Burgenland« ersonnen und den Text der neuen Bundeshymne*.

»Der Breitner.« Das ist das Wort, das jetzt am Anfang und am Ende aller Wiener Gespräche und Debatten steht: der Breitner. Breitner ist der Name, den Sie in Wien überhaupt am öftesten hören. Was war die Popularität Girardis, was die Luegers gegen die Unbeliebtheit, deren sich der Stadtrat Breitner, der Finanzreferent der Stadt Wien, in den weitesten Kreisen erfreut. An allen Leiden und Schmerzen dieser Stadt ist er schuld, zu allen Särgen liefert er die Nägel, jeder schlechte Geschäftsgang, jede Misere hat nur ihn zur Ursache. Er ist die große, oft begründete, noch öfter übertriebene Generalausrede für alles, was die Stadt auf ihrem Passionswege vom Inflationsreichtum zur reellen Armut durchmessen muss. Wer ist schuld? Chor: DER BREITNER!

* Deutschösterreich, du herrliches Land, auch Renner-Kienzl-Hymne genannt, wurde, wenngleich nie offiziell zur Hymne erhoben, zwischen 1920 und 1929 als Nationalhymne der Ersten Österreichischen Republik angesehen.

KLEINSTADTKORSO IN DER GROßSTADT

Mittags zwischen 12 und 2. – Wo man geht und wen man sieht. – Rendezvous beim Gerstner. – Eiskorso.– Lusthaus-Romantik.

Heute, gnädige Frau, ist ein so schöner Tag, dass wir ruhig ein bisschen spazieren gehen können. Was, Sie staunen, dass es so etwas bei uns noch gibt? Oh, wir gehen sehr gerne spazieren. Spazierengehen ist geradezu eine spezifisch wienerische Bewegung: eine von den wenigen Leidenschaften, die wir uns noch leisten können. Erinnern Sie sich nicht an die farbigen Lithographien aus dem alten Wien, die wir neulich in der Auslage bei ARTARIA gesehen haben? Auch auf diesen Bildern, die das Glacis zeigen, den Augarten, das Kärntner Tor, die Stubenbastei, sind die Korsoplätze der Vergangenheit von fröhlichen Spaziergängern belebt. Die Straße spielte bei uns immer eine große Rolle, das Aneinandervorbeigehen macht einem Spaß, das Grüßen und Gegrüßtwerden: eine liebenswürdige Manier, seinen Mitmenschen lästig zu fallen, und so ist Wien heute vielleicht die einzige Großstadt, wo es noch die kleinstädtische Einrichtung eines ständigen Korsos gibt. Zu bestimmten Stunden und auf bestimmten Plätzen, je nach der Jahreszeit, finden sich fast immer dieselben Leute gewissenhaft ein und erledigen ein, zwei Stunden lang ihre Korsopflicht.

Natürlich hat auch das Spazierengehen auf dem Korso seine eigenen ungeschriebenen Gesetze, gegen die man nicht verstoßen darf, will man den Genuss dieses Auf und Ab der Wiener Straße ganz auskosten. Um 11 Uhr vormittags zum Beispiel ist in Wien auf der Straße noch keine mondäne Dame zu sehen, denn es ist selbstverständlich, dass sie um diese Zeit noch mit ihrem Lever beschäftigt ist. Die Wiener Nobelpromenade spielt sich in der Zeit von 12 bis 2 Uhr ab. Hauptsächlich in der Kärntner Straße und am Graben, eventuell noch auf dem Kohlmarkt und auf der anderen Seite des Rings, von der Oper bis zum Schwarzenbergplatz. Sie müssen natürlich genau aufpassen, wo Sie zu gehen haben. Diese Verkehrsordnung bestimmt aber nicht die Polizei, sondern die Gesellschaft hat ein privates Übereinkommen getroffen, das stillschweigend eingehalten wird. Das Wichtigste ist, dass Sie von der Oper aus immer nur auf der linken Seite der Kärntner Straße gehen. Um Gottes willen nicht rechts. Sollten Sie dort auch Einkäufe zu besorgen haben, Sie müssen doch immer schön links gehen, auch in der Fortsetzung auf dem Graben und immer langsam, schlendernden, gemächlichen Schrittes. Nur auf der linken Seite sehen Sie Wien, drüben ist gar nichts. Wenn Sie noch so viel zu tun haben, müssen Sie so tun, als hätten Sie gar keine anderen Sorgen, als sich hier von der Sonne bescheinen zu lassen und mit einem nachlässigen, unendlich vornehmen Kopfnicken allen jenen zu danken, die einen besonderen Stolz dreinsetzen, Sie zu grüßen. Es gibt hier unentwegte Grüßer, wie es unentwegte Danker gibt. Gut angezogene, junge Leute, die vor jeder Dame, die ihnen gefällt, den Hut ziehen, gleichgültig, ob sie sie kennen oder nicht. Manchmal dankt die Dame für den Gruß, manchmal übersieht sie ihn, aber wenn man ihn mit Beharrlichkeit jeden Tag von Neuem wiederholt, akzeptiert sie ihn schließlich und man steht mit ihr zumindest auf Grußfuß, was ja auch eine ganz angenehme Art der Bekanntschaft ist. Auf die Weise kann man zwischen 12 und 1 in Wien mit der Zeit eine ganze Menge Bekannter akquirieren. Man grüßt Männer mit Verbindungen, junge Mädchen mit Familie, Ehepaare mit großem Freundeskreis und schafft sich in der u. a. Gesellschaft Wiens einen hervorragenden Platz. Viele junge Männer haben auf diese Art schon Karriere gemacht und eines Tages Damen geheiratet, die sie eigentlich nur vom Grüßen kennen.

Es gibt eine ganze Reihe pünktlicher Spaziergänger, bei denen man, wenn sie einmal nicht da sind, annehmen muss, dass sie verreist, schwerkrank oder anderswie verhindert sind. Zwischen 12 und 2 kann man Alfons und Louis Rothschild sehen, die Grafen Wilczek, die Hohenlohe, die Schwarzenberg, die gerade in Wien sind, Mizzi Günther, die erste »lustige Witwe«, mit ihrem jüngsten Gatten, dem schönen, eleganten Fred Hennings vom Burgtheater, den dicklichen Baron Königswarter, den berühmten Siegfried der Wiener Hofoper Erik Schmedes, die schöne Frau Elias, die jüngste der Rybicka-Mädeln, die in Wien ziemlich populär waren. Hier begegnen Sie dem Schwiegersohn Kaiser Franz Josephs, dem ehemaligen Erzherzog Franz Salvator, dem eleganten Erzherzog Max, natürlich in Zivil, dem Baron Kis, das ist der Sohn der berühmten Künstlerin Katharina Schratt, Sie sehen Camillo Castiglioni im Auto vorüberfahren – die Autos fahren in der Kärntner Straße unwillkürlich langsamer, als führen sie auch nur spazieren und betrachteten einander –, die Vogelsilhouette des Komponisten Oscar Straus wandelt vorüber, Franz Molnars schöner grauer Kopf taucht auf, Graf Adalbert Sternberg promeniert meist ohne Überrock und Hut, wenn er zu zweit ist, stets in lebhafter Debatte. Lilian Marischka, die Gattin des Theaterdirektors, Tenors und Frauenlieblings Hubert Marischka steigt sehr vornehm und apathisch aus ihrem Wagen, der große schlanke Graf Schall-Biancour, ehemals Vortänzer beim Hofball, heute in irgendeiner Industrie, eilt vorüber. Louise Kartousch, noch immer die beliebteste Soubrette Wiens, steuert ihren amerikanischen Wagen, der kleine Graf Dietrichstein biegt um die Ecke mit Herrn Minkus, das ist ein eleganter Mensch, immer in Gesellschaft von Aristokraten, Sohn eines zu seinen Lebzeiten mächtigen Bankmagnaten, zwischen Paris und Wien lebend, stets vergnügt, stets mit hübschen Frauen. Dort die hübsche dunkle Frau ist die Baronin Dirsztay, Gattin eines ungarischen Barons, einst eine gefeierte Tänzerin des Opernballetts als Olga Berger, und da kommt Lili Marberg, Salondame des Burgtheaters mit ihrem Gatten, dem Architekten Jaray, der aus einer bekannten Wiener Architektengeneration her ist … Die gut gewachsene Dame dort drüben? Rita Georg, Star des Theaters an der Wien. Der große mächtige Herr? Wissen Sie, wer das ist? Der Graf Lanckoronsky, ein polnischer Edelmann, der zur Zeit der Monarchie in allen Fragen der Kunst viel Einfluss hatte. Der mit dem breiten Hut, der fortwährend grüßt, das ist der Hofrat Fischl, ehemals im bosnischen Ministerium. Und das dort ist die Gräfin Esterházy, ja, die schlanke, sehr vornehme Dame mit den auffallend kleinen Füßen. Der kleine komisch wackelnde Mann ist der Souffleur Max Blau von der Oper, ein lustiges Original, der beste Witzerzähler. Der alles überragende Spaziergeher ist der ehemalige Minister Heinl. Dort beim Bristol steht Alfred Piccaver, der große Tenor unserer Oper. Der kleine rötliche Mann neben ihm, das ist der Direktor Langstein von der Creditanstalt, ein in Künstlerkreisen sehr versierter Mann, der alte Herr mit dem Spitzbart ist der berühmte Verteidiger Regierungsrat Dr. Steger und der Herr mit der Brille ist der Rittmeister a. D. Hugo Lustig, dessen Namen Sie gewiss schon gehört haben. Er lebt in Berlin, ist aber oft zu Besuch in Wien, teils mit Grund, teils mit Gründungen. Die Dame im Fehmantel, die kenne ich nicht. Aber ich glaube, sie in Gesellschaft der Baronin Marietta Styrcea gesehen zu haben. Ich glaube, es ist Miss Davis aus London. Das … das sind zwei Amerikanerinnen, die seit Monaten in einer vornehmen Pension wohnen. Die pompös Angezogene? Das ist Madame Benesch, eine Dame, die zwischen Biarritz, Monte Carlo und Ostende schwankt. Die Konstantin chauffiert vorüber, an der Seite ihres Gatten, des ungarischen Publizisten Ministerialrat Geza Herczeg. Lili Darvas, sehen Sie sie? Die bezauberndste unter den jungen Wiener Schauspielerinnen, eine Ungarin, die Gattin Franz Molnars. Sie sehen, die Korsogesellschaft ist ganz interessant gemischt.

 

Graf Adalbert Sternberg

Die Vormittagspromenade wird nicht selten durch kleine Menscheninseln unterbrochen, die sich mitten im Korso gebildet haben und sich unentwegt vergrößern. Es zeugt aber keineswegs von schlechten Manieren, auf dem Trottoir längere Zeit stehen zu bleiben und eifrigst miteinander zu debattieren. Die Aristokraten tun das sogar sehr gern, sie haben im Korsogewimmel ihre eigenen Standplätze, von denen der vor dem Hotel Sacher vielleicht der wichtigste ist. Im Sommer gibt es dort Korbsessel, auf denen meist Personen sitzen, die nicht im Hotel wohnen. Die im Hotel wohnen, finden gewöhnlich keinen Platz, denn die Korbsessel sind schon von Mitgliedern des Adels okkupiert, und lange in Wien ansässige Ungarn finden meist nur nach langem Warten für eine Viertelstunde Platz. Manchmal steht Frau Anna Sacher mit ihren weltberühmten Bullis beim Hotel und macht mit dem höchsten Adel Österreichs Konversation, bei der es jedes Mal sehr kritisch zugeht. Vor dem Sacher haben schon Vitriol-Attentate und Ohrfeigenszenen gespielt, aber immer zwischen den Mitgliedern der feudalsten Gesellschaft, sodass sich ernsthaft kein Mensch darüber aufgeregt hat und man es nur als Genugtuung empfand, dass die elegante Welt sich für ihre Ohrfeigen die elegantesten Plätze aussucht. Der Jockeyklub ist nur ein paar Schritte weit vom Hotel Sacher entfernt, sodass es zwischen dem nobelsten Hotel Wiens und dem nobelsten Klub fortwährend Kontakt gibt.

Beliebte Unterbrechungen dos Korsos bilden auch der GERSTNER in der Kärntner Straße, der DEMEL am Kohlmarkt und die ZWIEBACKKONDITOREI. Zum STIEBITZ in der Bognergasse geht man und zum ZYKAN am Kohlmarkt, das sind zwei beliebte weinstubenartige Lokale, der Zykan mehr für Sandwiche mit Flirt geeignet, während beim STIEBITZ die Herren zusammensitzen, die sich auch vormittags ein paar gute Glas Wein oder Schnaps leisten können mit dem dazugehörigen Kaviar, der Portion Gansleberpastete oder der Schinkensemmel. Beim GERSTNER aber geht es hoch her. Das ist eine Wiener Konditorei, die an der Kärntner Straße liegt, gerade dort, wo die Promenade am dichtesten ist. In langer Reihe stehen die Privatautomobile, meist auf die Damen wartend, die in der Kärntner Straße unterwegs sind und dem Chauffeur gesagt haben: »Beim Gerstner warten S’ auf mich.« Der Gerstner ist ihre letzte Station. Wenn sie schon alle Bekannten sechs bis siebenmal begrüßt hat und sämtliche Freundinnen über das neue Trotteur bereits zersprungen sind, geht sie zum Gerstner, um dort zur Beruhigung ein Mayonaiseei, ein paar Sandwiches, Marons glacés oder ein Glas Malaga zu nehmen. Die Medisance der Straße findet hier ihre Fortsetzung. Man redet ziemlich laut und ungeniert, es gehört direkt zum guten Ton, sich so zu benehmen, als wäre der andere, den es etwa stören könnte, nicht vorhanden. Und wenn es ihn stört, dann soll er sich eben ein anderes, weniger vornehmes Lokal aussuchen. Viel Fremde sieht man hier nicht. Kein Fremder, den nicht ein Wiener Bekannter hierherführt, würde von selbst auf den Einfall kommen, zu Gerstner zu gehen. Denn das Lokal hat weder eine große Auslage noch sonst ein besonderes markantes oder einladendes Firmenschild. Es gehört zu jenen vornehmen Lokalen der Wiener Vergangenheit, die einen besonderen Stolz dreinsetzen, ein möglichst unauffälliges Dasein zu führen. Hier wird nur auf die Gäste reflektiert, die von selber kommen, und die Damen und Herren vom Kärntner Ring sind so ziemlich unter sich. Der Herr Graf kennt die kleine Komtesse, der Herr Baron den Herrn Doktor und die Frau Sektionsrat ist mit der Schauspielerin vom Burgtheater seit Langem aufs Innigste befreundet. Die zierliche Trixi verlobte sich hier mit dem Direktor der Bank, die längst in den Ausgleich gegangen ist und hier, vor Baisers, Indianerkrapfen, Nougats und Schokoladeweichseln, nahm die Liebesaffaire ihren Anfang, derentwegen sich der Rennstallbesitzer Herr von S. später erschießen musste. Die meisten setzen sich erst gar nicht nieder, sondern löffeln ihr Eis, ihre Creme stehend. Die ganz feine Gesellschaft setzt sich überhaupt nicht, sie isst nur einen Bissen und geht dann wieder. Viel essen gehört zum schlechten Benehmen, und verzehrt man mehr als vier Sandwiches, wird man bereits mit einem mitleidigen Lächeln betrachtet und gilt so ziemlich als erledigt.

Über den Wiener Korso von 12 bis 2, einen der bestgekleideten der ganzen Welt, schwebt noch immer eine Wolke von Noblesse und guter Haltung, von Liebenswürdigkeit, gutem Parfum, guter Laune und gutem Zynismus … Zu den Korsoeinrichtungen gehört auch der Stock im Eisen an der Ecke am Graben und Kärntner Straße. Dieses Wiener Wahrzeichen wurde im 14. bis 16. Jahrhundert eigens für die Volksschullehrbücher errichtet und für die Damen als beliebtes Mittagsrendezvous. Und gegenüber ist der großmächtige Stephansdom – aber ein noch größerer Koloss verdeckt ihn: Leo Slezak, der Kammersänger, der in keiner Kammer Platz findet, groß als Sänger, Mensch, Esser und Witzerzähler.


Leo Slezak

Am Sonntag geht niemand, der etwas auf sich hält, über die Kärntner Straße. Der Korso tagt zwischen 12 und 2 an den großen Hotels entlang mit den zwei Endpunkten: Oper und Schwarzenbergplatz. Da gehen die Leute spazieren, die eben nur sonntags zu derlei Vergnügen Zeit haben, und das sind natürlich nicht so vornehme Menschen wie die, die auch an Wochentagen nichts tun. Der Korso ist gemischt: die jungen Mädchen aus den bürgerlichen Häusern des ersten, zweiten, neunten und sechsten Bezirkes mit den Fremden, die im Bristol, im Grand Hotel und im Imperial wohnen und des Mittags, wenn sie ihre Hotels verlassen, in ein dichtes Menschengewühl stoßen. Die Kontoristen gehen frisch rasiert, mit neuen Handschuhen und neuen Krawatten hier spazieren, mit einem Don-Juan-Lächeln, den Hut keck aus dem Gesicht gerückt. Hier begegnet man den Anatols von heute, die sonst das Kontokorrent führen mit ihren Ilonas, Annies, Mizzis, Loras, die heute auch nicht viel anders heißen. Hier sieht man vom Eintänzertyp bis zum Herrn der guten Gesellschaft alle Zwischenstufen vertreten, den Charakterliebhaber, den Bonvivant, den Schüchternen, den Komiker. Ganze Familien, Papa, Mama mit zwei Töchtern und in dem Sortiment Tochter und Sohn gehen hier spazieren, teils, um Leute zu sehen, teils um sich, wie sie sagen, Appetit zu holen.

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