Der Bote aus Frankreich

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Der Bote aus Frankreich
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Ludwig Harig

Der Bote aus Frankreich

Einladungen zu König Artus

und Ritter Lancelot

Mit Zeichnungen von Hans Dahlem


© 2007 zu Klampen Verlag · Röse 21 · D-31832 Springe

info@zuklampen.de · www.zuklampen.de

Umschlag: Matthias Vogel (paramikron), Hannover,

unter Verwendung eines Fotos von Ingolf Schulte

Satz: thielenVERLAGSBÜRO, Hannover

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014

ISBN 978-3-86674-386-1

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über ‹http://dnb.ddb.de› abrufbar.


Inhalt

Cover

Titel

Impressum

I

Der Bote aus Frankreich

Lancelot vom See

Lancelots Aufbruch zum Artushof

Lancelot begegnet Ginover

II

Am runden Tisch

König Artus und seine Ritter

Lancelot wird Ritter der Tafelrunde

III

Antiquar und Spitzenhäubchen

Im Tal ohne Wiederkehr

IV

Zwischen Klippen und Sprachklippen

Der Karrenritter

Die Eroberung der Dolorosen Garde

V

Suche nach dem Gral

Macht ist nicht Recht

Die letzte Schlacht

VI

Kleines Nachspiel

Quellenangaben


I

Der Bote aus Frankreich

Freitags nach der Schule schlenderte ich wie gewohnt zum Schaufenster von Herrn Heinrichs Buchhandlung und guckte mir die Neuerscheinungen an. Von all den vielen Titeln, die ich Woche für Woche in Augenschein nahm, ist mir am lebhaftesten ein fremdartig klingender Name in Erinnerung geblieben: Lancelot, und als Untertitel sein Beruf, wie es mir schien: Der Bote aus Frankreich. Über dem rätselhaften Namen prangte das Bild eines Ritters in blanker Rüstung, hoch zu Roß, mit Schwert an der Seite und aufflatternden Wimpeltüchern in der linken Hand.

Es war eine Zeitschrift, die mit Titel und Titelbild so anziehend auf mich wirkte, daß ich nicht widerstehen konnte und sie mir kaufte – für eine Reichsmark fünfzig, obwohl ich jeden Pfennig dreimal umdrehen mußte, bevor ich ihn aus der Hand gab. Ich war zwanzig, besuchte das Lehrerseminar von Saarbrücken, hatte den »Parzival« gelesen und Gedichte über Tristan und Isolde geschrieben, konnte aber nicht ahnen, daß der Name Lancelot mich in meinen Vorstellungen weiter führen würde als alle anderen Heldennamen des Mittelalters. Die Herkunft seines Namens konnte mich nicht verleiten, an grausames Töten zu denken, ich sah den Ritter im ehrbaren Lanzenspiel eines Turniers –, und wie sich später herausstellte, legte er im Turnier von Pomiglei die Lanze beiseite und zog den Helm aus, weil die Königin ihn gebeten hatte, sich im wüsten Ritterspiel zurückzuhalten. Bei der Heimfahrt von Saarbrücken fing ich in der Zeitschrift zu lesen an, erwischte den zweiten Teil eines Romans in Fortsetzungen, vergaß überm Schmökern in Sulzbach auszusteigen, überfuhr eine Station –, erst beim Erreichen des Tunnels zwischen Friedrichsthal und Bildstock war ich am Ende der Fortsetzung angekommen.

In diesem Roman tritt ein kleiner Junge auf, der an einem Goldteich lebt, wo er die seltsamsten Abenteuer besteht, die er selbst erzählt. Ich wollte unbedingt wissen, was es mit diesem Jungen auf sich hatte. Sollte es etwa der junge Ritter Lancelot sein, der ja auch von einem Teich herstammt und sich jetzt in voller Rüstung auf dem Titelblatt einer Zeitschrift präsentiert? Dieser Ritter Lancelot mußte etwas ganz Besonderes gewesen sein: schon sein Name ist ja kein gebräuchlicher Vor- oder Familienname. Bevor ich die Aufsätze und Gedichte der Zeitschrift zu lesen begann, schlug ich im Duden nach. Ich fand nichts als den Namen, dahinter in Klammern eine Abkürzung, die so viel wie Familienname bedeutet. Erst der Volks-Brockhaus meiner Freundin Brigitte klärte mich auf: Lancelot vom See, Held des Sagenkreises von König Artus, einem anglo-normannischen Heerführer aus dem sechsten Jahrhundert. Zwölf der tapfersten Ritter saßen bei König Artus an der runden Tafel, außer Lancelot auch Parzival und Tristan, Erik und Iwein, speisten, tranken und redeten miteinander –, wie es der Dichter Chrétien de Troyes in seinem Buch über Lancelot erzählt.

Doch ist dieser Lancelot auch wirklich der kleine Junge vom Goldteich, fragte ich mich, las den Fortsetzungsroman noch einmal und wünschte mir, daß es so wäre. »Die Küste vom Grand-Travers war ein goldener Strich«, las ich, »ich ließ mich nach Westen treiben im vollen Bewußtsein meines Glücks. Ich fuhr den Ufern entlang, alles war für mich Erforschung, Entdeckung.« Demzufolge wähnte ich die Lagunen von Aigues-Mortes und die Dächer von Pérols hinter den bretonischen Wäldern an der Nordküste Frankreichs. Dort war nämlich König Artus von England her an Land gegangen, um ganz Europa zu erobern. Mich kümmerten keine geographischen Fakten, keine historischen Tatsachen, ich folgte der Erzählung des Dichters, der ja dem Leben seiner Wörter den Vorrang vor allen schon längst bekannten und benannten Dingen gibt, vertraute dem Wortlaut seiner Geschichte und spielte unbedenklich mit. Die Vorstellung, es könnte der kleine Lancelot vom See ebensogut wie der Junge vom Goldteich sein, ließ keine Zweifel aufkommen. Ich sah sie beide, einmal den einen, einmal den anderen bei den Fischern, den Jägern, den Hüttenleuten, in deren Gesellschaft sie sich wohlfühlten, so daß sie schließlich für mich ein und derselbe waren. Den einfachen Nachbarn vertraute er sich ohne Zögern an, sie versuchten nicht, in sein Leben einzudringen. Er teilte mit ihnen seine Ansichten über die Natur, über das Leben, über den Teich. »Bei ihnen schämte ich mich weder meiner dunklen Gefühle, noch meiner dunklen Hautfarbe«, erzählte er, »nur einen Winkel, nur einen Namen hielt ich geheim.« Noch machte ich mir keine Gedanken über den Namen, den er verschwieg, über die Hautfarbe, die ihn zum Außenseiter werden ließ.

Es war das Jahr 1947, der Hunger groß, nicht nur nach Brot und Kartoffeln. Da kam dieser Lancelot im rechten Augenblick und stillte meinen Appetit auf Ungenossenes, das mir bislang fremdgeblieben war. Lancelot, der Bote aus Frankreich, brachte mir Nachrichten aus einem Land, mit dem wir viele Male verfeindet und in schreckliche Kriege verwickelt waren. Obwohl bis an die Zähne bewaffnet, kam dieser junge Ritter in friedlicher Absicht dahergesprengt, stieg von seinem Roß, schlüpfte in die Haut eines kleinen Jungen und war der Bote jener Erzählung vom Goldteich, war der Bote anregender Aufsätze über die Logik der Begriffe und die Logik der Symbole, über die wohlbedachte Eintracht von Vernunft und Phantasie.

Und er war der Bote eines Gedichts, wie ich es nur von deutschen Barockdichtern in Erinnerung hatte, eines feierlichen Liedes, wie es nicht nur in dieser Zeitschrift zu lesen war, sondern auch in meinem Lesebuch hätte stehen können. Es ist ein Sonett, in französischer Sprache und deutscher Übersetzung, das in festgefügten Versen »das große Menschenmorden in der Völkerherde« beschwört. Ich dachte sogleich an den gerade zu Ende gegangenen Krieg, noch tönten mir Sirenengeheul und Bombenhagel in den Ohren. Da es aber ein Gedicht von Jean-François Sarrazin aus dem Dreißigjährigen Krieg war, rief es mir die »Trauerklage« und die »Tränen des Vaterlandes« von Andreas Gryphius in Erinnerung, die das gleiche Leid besingen. Gleiche Sorgen, gleicher Trauergesang: zum erstenmal bedeutete mir diese Botschaft aus Frankreich mehr als nur eine flüchtige Nachricht aus einem anderen Land –, und ich schaute mir den Ritter Lancelot auf dem Zeitschriftendeckel ganz genau und mit staunenden Augen an.

 

Bevor ich zu dem kleinen Jungen an den Goldteich zurückkehrte, las ich einen Aufsatz von Pierre Emmanuel: »Dichtung als glühende Vernunft«. Und wieder war ich überrascht; ich wehrte mich, in Bezirke entführt zu werden, in denen ein anderer Wind weht als hierzulande. Dichtung als glühende Vernunft! Damit stieß mir der Bote aus Frankreich gewaltig vor den Kopf. In der Schule hatte ich gelernt, daß die Vernunft wenig mit der Dichtung zu tun habe und die gemütvolle Dichtung ihrerseits zu schade sei, sich in die herzlose Vernunft zu verstricken. »Eine wohlbedachte Übereinkunft mit der Phantasie«, las ich bei Pierre Emmanuel, darin bezeuge sich die dichterische Gewissenhaftigkeit. Ich lernte, meine Phantasie zu belauschen, das Spiel der Träumereien zu bespitzeln, denn nichts sei ärgerlicher als jenes Vorurteil, das die Dichter ausschalte, sobald man Angelegenheiten der Vernunft berühre, schreibt Pierre Emmanuel. Glühende Vernunft, gewissenhafte Phantasie! Schon spielte ich mit den Begriffen und brachte sie in meinem Kopf zusammen: Energie und Form, vereinigt in einer und derselben Wirklichkeit der Poesie.

Von Anfang an herrschte dieses eigentümliche Zusammenspiel in der Geschichte vom Goldteich, der ebensogut hinter den Lagunen des Mittelmeers liegen konnte wie hinter den Klippen des Nordmeers. Nun waren der junge Lancelot vom See und der Knabe vom Goldteich untrennbar ineinander verwandelt. Das Mittelalter war unbemerkt in die Neuzeit übergewechselt: hier wie dort musizierten die Rohrdommeln ungestört im Schilf, spazierten die Schafe unbekümmert über die Weiden, verknorzte Ölbäume ächzten unter den Äxten und verrostete Wasserwinden knirschten an den Brunnensteinen. Wie zu König Artus’ Zeit beschimpften sich gegenseitig Weiße und Rote, »manche haben, ach und weh, den ritterlichen Tugendeid vergessen«, klagt Lancelot vom See; »man hätte meinen können, es gäbe auf dem Teich Vergewaltigungen und Massenertränkungen«, jammert der Junge vom Goldteich –, und ich erkannte nach und nach, daß ich mich sowohl in einem klassischen wie in einem modernen Roman befand. Ich las eine Geschichte, in der ein Junge zum citoyen heranwächst, von einem Jüngling, der zum Ritter erzogen wird. Ein festliches Ritual beschließt den Austritt aus der Kinderwelt. Flageolett und Saxophon spielen zur Farandole auf, es wird getanzt und getrunken, doch wer ist es, der des Guten zuviel tut und erschöpft das Fest verläßt? Ist es der Junge vom Goldteich, oder ist es Lancelot vom See, der gekräftigt zurückkehrt und die Polonaise fortsetzt?

Meine Besessenheit, das Mögliche mit dem Unmöglichen auf Teufel komm raus zusammenzubringen, brachte meinen Freund Walter, der sonst der ruhigste Mensch der Welt ist, fast aus der Fassung: er fürchtete, ich könne das Wirkliche aus den Augen verlieren. Ingrimmig versuchte er, mich von meinem Wahn zu heilen. Auch er hatte im Boten aus Frankreich die Geschichte vom Goldteich gelesen, auch ihm waren die Legenden um König Artus und seinen Ritter Lancelot vertraut. »Wenn du unbedingt wissen willst, worum’s tatsächlich geht, dann mach dich auf die Socken und reise nach Frankreich«, riet er mir, »ob du allerdings diesen provenzalischen Jungen an seinem Goldteich finden wirst, ist sehr fraglich, eher findest du den braven Lancelot an seinem See.« Tatsächlich dauerte es nur noch kurze Zeit, bis sich die Fremdenwerbung der Bretagne um die touristische Vermarktung dieses Wassers stritt.

Walter gelang es, mir die Nase lang zu machen. Bald roch ich den salzigen Dunst des Wassers, sah Hahnenfuß fluten und Seerosen flirren, sah in bunten Wunschbildern einen geheimnisvollen See vor meinen Augen. Ich durchstreifte in Gedanken Schluchten mit unzugänglichen Weihern, steuerte Schlösser an, deren Mauern von verwunschenen Teichen gesäumt sind. Schließlich machte ich mich auf den Weg, damit ich davon erzählen könne. In den kommenden Jahren stellte ich die ganze Bretagne auf den Kopf, von oben nach unten, von rechts nach links, kehrte das Hinterste nach vorn, lockte meine Reisebegleiter in das arkadische Wäldchen von Beg-Meil, folgte ihnen zu den Steinalleen von Carnac, verschwand mit meinem Freund Hans in Gauguins Zauberwald von Pont-Aven. Doch nirgends schlug sich ein Lancelot durch die Büsche, sprang hinter einem Felsblock hervor, tauchte aus dem Meerwasser auf und stand urplötzlich vor uns. Was tun?

Als Sohn des in der Schlacht getöteten Königs Ban geraubt, entführt und zu einem wundersamen Leben erweckt von der Fee Viviane, wächst Lancelot in der Tiefe eines Sees auf, erzählt der Dichter Chrétien de Troyes –, ohne den See beim Namen zu nennen. Ich spitzte die Ohren und lauschte der Lebensgeschichte eines Waisenknaben. Chrétien erzählt so spannend und so anschaulich, daß ich mir einbilde, seine Stimme zu hören. Über viele hundert Seiten erzählt er von Liebe und Treue, aber auch von Haß und Verrat. In sportlichen Ritterspielen, aber auch im todbringenden Schlachtengetümmel reiten Lancelots Kampfgenossen gegeneinander an wie die Landsknechte in Sarrazins Gedicht aus dem Dreißigjährigen Krieg. Ich war erstaunt, wie einfach es ist, schwere Schuld und alle Sünden loszuwerden, man müsse nur ein langes Bittgebet, mit Herzblut erfüllt und fehlerfrei formuliert zum Himmel senden wie der zu Tode getroffene König Ban.

Ich las nicht mehr, als wäre ich noch der kleine, von Märchen verzückte Junge. Im Gegenteil: mir kribbelte es in den Fingerspitzen, denn was ich da las, hätte ich gern selbst geschrieben und nach eigenen Vorstellungen weitererfunden. Doch ich beherrschte mich und ließ mich in die Geschichte ein, die ich mir nach meinen verrückten Ideen fortspann. Es drängte mich, mehr von diesem Lancelot zu erfahren, und bald wußte ich, daß mir nichts anderes übrigbleiben würde, als mich auf seine Fersen zu setzen. Ich freute mich auf Reisen zu ihm in ein mir noch unbekanntes Land.

Lancelot vom See

Als der König Ban sein Bittgebet zuendegesprochen hatte, sah er zum Himmel auf, schlug sich vor die Brust, beweinte seine Sünden vor Gott unserem Herrn und brach drei Grashalme zu Ehren der heiligen Dreifaltigkeit unseres Herrn des heiligen Christus.

Da wurde ihm das Herz so schwer um seiner Frau und seines Kindes willen, daß er nicht mehr sprechen konnte und ihn alle Kräfte verließen. Er streckte sich so sehr, daß ihm alle Adern im Leib zerplatzten; sein Herz brach vor Schmerz und er starb, die Hände in Kreuzform über die Brust gelegt, die eine über der anderen, die Augen zum Himmel und den Kopf nach Osten gewendet, wie ein Toter von rechtswegen liegen soll. Sein Pferd hatte bei dem Sturz gescheut, den er tat, und war von der Höhe ins Tal hinab zu den anderen Pferden gelaufen. Als die Königin es herankommen sah, bat sie den Schildknappen, der sie begleitet hatte, es einzufangen. Der Schildknappe fing das Pferd ein und lief rasch auf die Höhe und fand den König tot auf der Erde liegen. Als er sah, daß sein Herr und König tot lag, stieß er einen solchen Schrei aus, daß die Königin ihn hörte und so sehr erschrak, daß sie das Kind vor den Pferden liegen ließ, ihre Kleider schürzte und zum Gipfel lief. Sie fand den Knappen über dem König liegen und so jammervoll klagen, wie man es nur je gehört hat. Als die Königin sah, daß ihr Mann tot war, fiel sie ohnmächtig über ihn und jammerte und klagte in tiefem Schmerz. Sie raufte ihr schönes langes blondes Haar, zerriß ihre Kleider und warf sie von sich, zerkrallte und zerkratzte ihr schönes Gesicht, daß ihr das Blut den schneeweißen Hals hinablief. Sie gedachteder edlen Tugenden ihres Herrn und seiner Hochherzigkeit und schrie so laut, daß Berg und Tal und Fels davon widerhallten.

Die Königin weinte so sehr, daß ihr die Kräfte schwanden, und sie war so erschöpft von ihrem großen Schmerz, daß sie nicht mehr sprechen konnte und immer wieder in eine lange Ohnmacht fiel. Als sie wieder zu sich kam, jammerte sie und gedachte immer aufs neue der Unerschrockenheit ihres Mannes und seines edlen Herzens. Dann beweinte sie ihren großen Verlust und klagte und weinte grenzenlos und sagte, der Tod wäre ihr lieber als das Leben, und sie schalt den Tod, daß er sie so lange verschonte. Als sie lange so gejammert hatte, fiel ihr wieder ein, wie ihr Kind vor den Hufen der Pferde liegengeblieben war, und sie stellte sich vor, die Pferde hätten es zu Tode getrampelt. Sie stieß einen Schrei aus, so laut sie konnte, sprang auf wie jemand, der von Sinnen ist, und lief dahin, wo sie das Kind gelassen hatte. Sie hatte solche Angst, es könnte tot sein, daß sie wieder in Ohnmacht fiel, ehe sie noch von der Anhöhe hinabfand. Nach einer langen Weile kam sie zu sich, sprang auf und rannte den Abhang hinunter, das schöne Haar ganz zerrissen und zerrauft. Als sie zu den Pferden kam, die am Ufer des Sees geblieben waren, sah sie, daß ihr Sohn aus der Wiege losgebunden war, und sie sah, wie eine junge Frau ihn nackt auf dem Schoß hatte und ihn immer wieder zärtlich zwischen ihre Brüste drückte und auf den Mund und die Augen küßte. Das tat sie nicht ohne Grund, denn er war das schönste Kind, das je ein Mensch mit Augen gesehen hatte.

Dies geschah in der Morgenstunde, es war sehr kalt und noch nicht lange Tag. Da sagte die Königin zu der jungen Frau: Edles Fräulein, um Gottes willen, laßt mir mein Kind. Denn von heute an wird es große Armut und viel Leid zu tragen haben, weil es heute seinen Vater und seinen ganzen Besitz verloren hat. Es ist heute um alle Freude und alles Glück gebracht worden.«

Was die Königin auch sagte, die junge Frau sprach kein Wort. Und als sie sah, daß die Königin auf sie zukam, stand sie mit dem Kind auf, ging zum See, stellte die Füße zusammen und sprang mit dem Kind hinein. Als die Königin ihr Kind im See sah, fiel sie in Ohnmacht. Und als sie wieder zu sich kam, sah und hörte sie nichts mehr von ihm. Da jammerte sie so, daß niemand je größeren Jammer hat erleben müssen. Sie wäre ihm in den See nachgesprungen, wenn der Knappe sie nicht mit Gewalt gehalten hätte, der den König tot auf dem Berg zurückgelassen hatte und mit ihr gekommen war. Er hatte sehr wohl gesehen, daß sie sich vor Schmerz töten wollte.

Als die junge Frau Lancelot drei Jahre in ihrer Obhut im See gehabt hatte, hätte jeder, der ihn sah, geglaubt, er sei dreimal so alt, wie er wirklich war. Er war noch jung, aber über sein Alter hinaus klug und verständig, höfisch gebildet und in allen Dingen geschickt. Die Frau hatte ihm einen Lehrmeister gegeben, der ihn ausbilden und ihn höfisches Wesen lehren sollte, wie es sich für den Sohn einer Königin gehört. Damals wußte aus ihrer Umgebung aber außer ihr selbst und einer ihrer Vertrauten niemand, wer er war. Die Historie erzählt uns, daß ihr Hof und die einfachen Leute ihn ›schöner Knabe‹ nannten; die junge Frau nannte ihn ›Königskind‹ und manchmal ›edles Waisenkind‹. Als er stark genug war, machte sein Lehrer ihm einen Bogen, der seiner Kraft entsprach, und dazu passende Pfeile und brachte ihm zuerst bei, auf eine Scheibe zu schießen und dann auf kleine Vögel im Wald. Als er größer wurde, verstärkte er ihm auch den Bogen und die Pfeile. Er erlegte nun Hasen, Niederwild und große Vögel, wo er sie fand. Als er reiten konnte, schenkte die Frau ihm ein schönes Pferd, schnell und kräftig und mit Zaum und Sattel wohl ausgerüstet, dazu Sporen und Schwert. Er ritt jeden Tag um den See, und solange er noch lernte, begleitete ihn ein Knappe. Als er heranwuchs und stärker wurde, ritt er täglich in großer Begleitung von jungen Herren und Edelleuten. Er wußte sich so vollendet zu betragen, daß alle, die ihn kannten, meinten, er sei der edelste junge Mann, den sie je gesehen hätten. Er lernte so gut Schach und Tric-Trac und allerlei Fingerspiele, daß er alle besiegte, mit denen er spielte. Die Historie erzählt uns, daß er von Wuchs und Gebaren – und, so erinnert sie uns, nicht zu vergessen von Angesicht – der schönste junge Herr war, den man je gesehen hat. Nun will ich allen, die gern von schönen Menschen erzählen hören, schildern, wie schön er war. Er war unter den Kleidern von sehr heller Hautfarbe, nicht zu hell, auch nicht zu dunkel, sondern aus beidem gemischt, was man hellbraun nennt, das Gesicht in schönen Farben leuchtend, so wohlabgewogen, daß Gott im Himmel nie schönere gemischt hat als die, die sich in Lancelots Antlitz vermengten, aus Weiß und Braun und Rot, so daß die rote Farbe die anderen, die zwischen weiß und braun spielten, im ganzen Gesicht hell leuchten ließ. Sein Mund war klein, lachend und rot wie eine Rose, mit ein wenig vollen Lippen, die Zähne klein und regelmäßig. Das Kinn stand ihm gut, es hatte ein Grübchen. Die Nase war nicht zu lang und in der Mitte etwas gewölbt, die Augen grau und hell strahlend, wenn er bei guter Laune war; wenn er aber zornig war, glühten sie wie das Feuer im Ofen, so daß alle, die ihn sahen, meinten, ihm kämen Blutstropfen aus den Augäpfeln geschossen, und die Nasenflügel bebten ihm wie die eines Pferdes nach scharfem Galopp, und er biß die Zähne aufeinander, daß sie knirschten. Der Atem, der ihm aus dem Mund kam, schien dann rot wie Blut, und er schrie so laut und durchdringend wie eine Trompete, und was ihm in die Finger fiel, das zerriß er mit Zähnen und Händen. Wenn sein Zorn heftig war, vergaß er alles, was er sich vorgenommen hatte und was um ihn vorging, nur das nicht, worüber er sich erregt hatte: das hat sich später bei vielen Gelegenheiten gezeigt. Die Stirn war von der richtigen Höhe, die Brauen blond, das Haar fein und rötlich, solange er Kind war. Als er ins waffenfähige Alter kam, wurde es braun, aber stets blieb es hell und ein wenig gelockt. Der Hals war lang und weiß. Die Schultern waren gerade und breit nach Maß, der Körper wohlgestalt, von angemessener Größe und weder zu schlank noch zu schwer. Seine Brust war sehr groß, breit und kräftig, das störte als einziges an seiner Gestalt, und alle, die ihn sahen, sagten, wenn nur seine Brust ein wenig schmaler gewesen wäre, hätten sie nie einen so wohlgestalteten und schönen Menschen gesehen. Die Königin Ginover, die ihn mehr als jeder andere betrachtet hat, sagte aber, seine Brust sei nicht zu groß, denn das Herz, das darin schlug, entspreche in seiner Größe dem Maß dieser Brust. Und sie fügte hinzu, wäre sein großes Herz in einer kleinen Brust gewesen, hätte sie zerreißen und bersten müssen, weil das Herz nicht genug Raum gefunden hätte, um bequem und angemessen darin zu liegen. »Wenn ich Gott wäre«, sagte sie, »ich hätte Lancelot weder größer noch kleiner geschaffen, als er ist.« Seine Arme waren gerade und genau lang genug, die Hände schmal und gestreckt, beinahe wie die eines Mädchens, wenn die Finger ein wenig zarter gewesen wären. Die Hüften waren von der rechten Länge. Die Beine waren gerade und lang genug, die Füße gerade, lang und hochgewölbt. Er konnte über alle Maßen schön singen, wenn ihm danach zumute war. Ungezügelt lustig war er selten, denn er verstand sich auf die rechte Art der Freude. So hat es nie einen Menschen gegeben, der Damen und Rittern soviel Anlaß gab, sich zu freuen, wie er.

 

Oft, wenn Lancelot glücklich war, sagte er, sein Herz könne sich nichts ausdenken, was er nicht auch wirklich zu vollbringen wüßte, wenn er es ernstlich versuchte. So sehr überließ er sich seiner frohen Stimmung, wenn er sich recht freuen wollte. Das ließ ihn später viele schwere Aventüren bestehen und in Ehren zuendebringen. Viele, die ihn so hochfliegend sprechen hörten, glaubten, er wolle sich rühmen, doch das tat er nicht. Er äußerte das alles aus der reichen Freude, die er im Herzen trug.

Lancelot war schön und wohlgeschaffen, und entsprechend gewandt und wohlerzogen war sein Betragen. Er war der edelste und freigebigste Knabe, wo das angebracht war. Was er bekam, verteilte er so gern unter seine Freunde, wie sie es annahmen. Stets strebte er danach, Freien und Edlen Ehre zu erweisen. Niemals hatte man ein Kind von solchem Wesen gesehen. Niemand sah ihn aus freien Stücken etwas Gemeines tun. Wenn er aber dazu gebracht wurde, in Zorn zu geraten, war er nur mit Mühe und Not wieder zu besänftigen. Mit zehn Jahren war er so verständig und klug geworden, daß man ihn keine kindischen Possen mehr treiben sah: so edel und wohlerzogen war er. Wenn er sich etwas Gutes vorgenommen hatte, hätte man ihn nicht leicht davon abhalten können, es auch zu vollbringen, und er ließ dann weder um seines Lehrmeisters noch um sonst jemandes willen davon ab.

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