Jan und Jutta

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Bei Tagesgrauen mußten sich die Freundinnen trennen. Emmi fuhr zuerst ab.

Drei Stunden später, im nebligen Wintermorgen, kam Marie an einer kleinen Station an und machte sich mit ihrem Köfferchen auf den Weg nach Estebrügge, das keinen Bahnanschluß hatte. Das Land rings kam ihr fremd vor, und sie wurde sich ihrer Verlassenheit so recht bewußt. Der Weg führte auf einem hohen Deich entlang. Links des Deichs standen kahle verschneite Kirschbäume und Apfelbäume. Es waren alte, hohe Bäume mit weit ausladenden Ästen, Zeugen für die Fruchtbarkeit des Marschbodens. Die Bäume standen in verschneiten Wiesen, zwischen vereisten Wassergräben und Teichen. Inmitten der Obstbaumpflanzungen tauchten Bauernhäuser und Obstscheunen auf. Die Häuser und die Scheunen waren kaum zu unterscheiden, so gut waren auch die Scheunen gebaut und instand gehalten. Die Baulichkeiten waren alle aus roten Backsteinen, mit weiß gestrichenem Fachwerk errichtet und mit dicken Strohlagen gedeckt. Überall waren die gleichen kleinen Fenster eingelassen, an deren Scheiben jetzt die Frostblumen wuchsen. Alle diese Gebäude waren einstöckig, langgestreckt, und wie der Wuchs der Bäume für die Fruchtbarkeit des Bodens, so zeugten die Häuser und Scheunen für den Reichtum der großen Marschbauern. Aus einigen Kaminen stieg Rauch auf.

Marie entnahm einem Schild an der Deichstraße, daß sie in Estebrügge angekommen war. Sie schaute sich um. Ein Pfad führte sie vom Deich hinunter zur Dorfstraße. Sie ging langsam an einem Haus vorüber bis zum nächsten. Als sie einen kleinen Laden fand, trat sie ein und fragte schüchtern nach Wilhelmine Kieck.

Sie bekam eine Antwort in einer Sprache, die sie nicht verstehen konnte, das ängstigte und verwirrte sie, aber es nahm sie gar nicht wunder, denn in einem so fremdartig aussehenden Lande mußte gewiß auch eine fremde Sprache gesprochen werden. Marie war so müde, so hungrig und so aufgeregt, daß ihr die Tränen kamen, aber sie nahm sich zusammen, schluckte und stellte ihre Frage noch einmal.

Die Frauen im Laden lachten ein wenig, nicht laut, sondern gemessen und geziemend. Der Name Wilhelmine Kieck stand offenbar in gutem Ansehen. Eine der älteren Frauen führte Marie aus dem Laden hinaus und erklärte ihr auf der Dorfstraße mit Worten und Gesten, wohin sie sich zu wenden habe.

Das dritte Haus links.

Marie nickte. Sie machte sich wieder auf den Weg und zählte die großen Höfe, an denen sie vorbeikam. Beim dritten machte sie halt.

Sie öffnete die schwere Haustür und blieb dann in der Diele stehen, um zu lauschen. Als sie den Geräuschen entnommen hatte, wo sich die Küche befand, begab sie sich dorthin.

Mit einem Blick nahm sie den ganzen Eindruck dieses großen hellen Raumes in sich auf. Gescheuerte Dielen, blanker Herd, spiegelnde Messing- und Kupfertöpfe, knackendes Feuer, Geruch von Milch, schaffende Hände und eine regierende Bäuerin, das war die Welt, in die Marie hier eintrat.

Das junge Mädchen war bemerkt worden. Die Bäuerin musterte sie, und Marie ging auf sie zu und hielt ihr stumm den Zettel hin, den sie in Ostpreußen am Bahnhof von dem Vermittler erhalten hatte.

»Ja!« sagte die Bäuerin Wilhelmine Kieck, »gut, daß du endlich da bist. Hanne, zeig ihr die Kammer, wo sie ihren Koffer abstellen kann, und dann geht ihr in die Scheune, die Äpfel auslesen.«

Marie war froh, daß sie die Bäuerin hatte verstehen können. Sie ließ sich von der Jungmagd Hanne führen, stellte ihr Köfferchen in der Kammer ab, in der sie mit Hanne künftig das Bett teilen mußte, hing ihre Winterjacke an die Wand und ging mit in die Scheune.

Die Knie und die Hände zitterten ihr, weil sie seit zwei Tagen so gut wie nichts gegessen hatte. Aber sie hielt aus. Bald konnte sie die Äpfel ebenso flink drehen und besehen wie ihre Kollegin. Aber sie verstand nicht ein Wort von dem, was diese sagte. Als es endlich Mittag war, fiel Marie am Tisch der Knechte und Mägde über ihren Teller Milchsuppe und die Bratkartoffeln her wie ein ausgehungertes Tier. Nach dem Essen ging die Arbeit in der Scheune weiter. Am Abend bemerkte Marie, daß die Bäuerin mit der Arbeit ihrer neuen Magd nicht unzufrieden war.

Als Marie sich im Bett mit ihrer Kollegin Hanne unter der Decke anwärmte und ihr die Augen vor übergroßer Müdigkeit zufielen, war ihr letzter und einziger Gedanke: Ich muß so arbeiten, daß mich Wilhelmine Kieck nicht mehr entbehren will. Übers Jahr verlange ich den doppelten Lohn.

Am folgenden Abend kaufte sich Marie einen Bogen Papier und einen Briefumschlag und schrieb an ihren Vormund, daß sie bessere Arbeit gefunden habe und in Estebrügge zu bleiben gedenke.

Auf diesen Brief kam nie eine Antwort, und Marie blieb Dienstmagd auf dem Hofe der Kiecks. Als ihr zum ersten Mal 25 Mark Monatslohn in einem Goldstück und einem Silberstück ausgezahlt wurden, streichelte sie das Geld, als ob es der Heiland sei, der sie zu einem besseren Leben führen könne. Reich wollte sie werden, aus dem Elend heraus!

Marie war die arbeitsamste und geschickteste der Mägde. Sie stand zuerst auf und ging zuletzt ins Bett. Sie erriet die Wünsche der Bäuerin und tat alles, was sie auszuführen hatte, pünktlich und zuverlässig. Wilhelmine Kieck gewöhnte sich daran, ihre Anweisungen an Marie direkt zu geben. Die Großmagd wurde schon eifersüchtig.

Die Wochen und Monate vergingen. Marie wußte selbst nicht recht wie. Die Jungmagd Hanne hatte Marie hin und wieder aufgefordert, am Sonntag tanzen zu gehen, aber Marie hatte nicht tanzen gelernt und fürchtete den Spott der Burschen und Mädchen. Sie fühlte sich auch noch unsicher in der plattdeutschen Sprache. Die Leute im Laden konnte sie zwar schon verstehen. Aber ihre eigene Aussprache war unverkennbar fremd und ungeschickt.

Hannes Schatz kam zuweilen des Nachts in die Kammer der beiden Mädchen. Dann legte sich Marie mit ihrer Decke auf den Boden und stellte sich schlafend. Das mußte sie tun, wenn sie nicht als eine schlechte Kollegin verschrien werden wollte. Aber das Geflüster und Gewühle ärgerte sie, weil sie selber hart und kalt lag und am nächsten Morgen müde war.

Schnee und Eis vergingen. Das ganze Land war naß wie ein Sumpf und häßlich in Braun und Grau. Nur die Häuser und Obstscheunen leuchteten mit ihren kräftigen Farben. Die Maler kamen und strichen das Fachwerk der Häuser, die Fensterrahmen und Türen auf Wilhelmine Kiecks Hof mit neuem, grell glänzendem Weiß, wie das in jedem Frühjahr zu geschehen pflegte. Als sie mit ihrer Arbeit fertig waren, schmückte die Kirschbäume schon helle Blütenpracht. Die Bäume blühten besonders üppig in diesem Jahr.

»Die Preise werden schlecht sein, die Ernte wird zu groß«, sagte Wilhelmine Kieck.

Als die fallenden Blütenblätter den Boden weiß bedeckt hatten und die kleinen grünen sauren Früchte allmählich zu großen roten süßen Kirschen in ganzen Bündeln an den Ästen heranreiften, teilte die Bäuerin die Erntearbeit ein und nahm noch fremde Pflücker zur Hilfe an. Marie sollte in der Zeit der Kirschenernte keine Haus- und Küchenarbeit tun, sondern mit zum Pflücken gehen.

So kam der strahlende Frühlingstag heran, an den sich Marie ihr Leben lang erinnerte. Sie war an diesem Tage wohlig ausgeschlafen und schaute mit blanken Augen in den ersten Lichtstrahl, der durchs Kammerfenster drang. Das Blut pulste ihr schnell unter dem Reiz des kalten Wassers, das sie sich beim Waschen über Brust und Rücken spritzte. Sie lachte, ohne zu wissen warum, und Hanne mußte unwillkürlich mitlachen, obwohl sie in der Nacht vergeblich auf ihren Schatz gewartet hatte. Marie flocht ihre langen Zöpfe nicht nur glatt und fest, sondern mit Sorgfalt und Aufmerksamkeit, so daß das Haar noch dicker und mit schönerem Goldglanz über dem braunen Grund erschien. Sie stellte zum ersten Mal eine Spiegelscherbe auf, als sie die Zöpfe aufsteckte und ein paar neugierige Locken an den Schläfen hervorzog. Ihre Bluse und ihre Schürze waren frisch gewaschen und geplättet, die gebräunten kräftigen Arme stachen gegen den weißen und blauen Kattun ab. Die Lippen waren rot; »als ob sie schon Kirschen gegessen hätte«, sagte der Großknecht, der heute zum ersten Mal darauf aufmerksam wurde, wie schön das Mädchen war.

Marie stieg gewandt auf die hohe Leiter und zeigte keine Furcht, obwohl ihr auf der hohen Leiter zwischen den schwankenden Zweigen hin und wieder schwindlig wurde. Sie vermied es, hinunter zur Wiese zu schauen, und richtete ihre Aufmerksamkeit nur auf die Kirschbündel an den dünnen Zweigen. Mit flinken Händen pflückte sie die Kirschen und legte sie sauber in ihre Pflückerkiepe, die sie am nächsten kräftigen Ast aufgehängt hatte. Der Himmel war blau, die Luft so weich wie Seide; die Früchte leuchteten rot, und das Gras war schon saftig grün. Die Vögel sangen. Marie summte ein heimatliches Lied leise vor sich hin. Wenn Marie auch kaum von der Arbeit aufblickte, so bemerkte sie doch, daß sich von der anderen Seite eine zweite Leiter in ihren Baum schob. Es war ein großer Baum, und ein geübter Pflücker hatte, wenn er allein blieb, drei Tage zu tun, um ihn zu leeren.

Die zweite Leiter wurde zurechtgestellt und an hohe schwankende Zweige gelegt, an die sich Marie noch nicht herangewagt haben würde. Es war ein Schwindel erregendes, halsbrecherisches Geschäft, das Kirschenpflücken in der Marsch. Marie hob nun doch den Kopf.

Eine Blutwelle schoß ihr in die Wangen, und sie senkte schnell den Blick. Der andere Pflücker war jener braungebrannte große Bursche mit dunklem Haar und blauen Augen, dem Marie am Abend zuvor auf der Dorfstraße begegnet war. Er hatte sie so eigenartig angesehen, es war ihr durch Mark und Bein gegangen. Sie hatte sich beeilt, nach Hause zu kommen, und glaubte dabei den Schritt zu hören, mit dem er ihr folgte. Am selben Abend hatte Wilhelmine Kieck noch zwei Pflücker für ihre Ernte angenommen.

 

Marie hatte aufgehört zu summen und pflückte hastig. Aber auf der anderen Seite der großen Kirschbaumkrone war ihr Lied aufgenommen worden. Der Bursche summte nicht nur die Melodie. Er sang auch leise die Worte, die heimatlich klingenden Worte, und Marie, die beim Aufstehen so hell gelacht hatte, ließ auf einmal ein paar perlende Tränen über die Wangen laufen. Sie konnte sie nicht aufhalten. Es war ihr seit langer Zeit, seit dem Tode der Eltern, zum ersten Mal weich ums Herz.

Als Marie alle Kirschen in der Nähe ihres Platzes abgepflückt hatte und abgestiegen war, um die hohe Leiter zu rücken und an andere Zweige anzulegen, stand der Bursche mit dem dunklen Haar auf einmal neben ihr, und sie sah nun, wie stark seine Arme und wie geschickt seine Hände waren. Er lächelte ganz wenig, rückte die Leiter und hielt sie, bis Marie hinaufgestiegen war. Gleich darauf bemerkte sie ihn wieder auf seinem Platz im Baum.

Er holte sich mit dem Pflückerhaken geschickt die entfernteren Zweige heran und pflückte schneller als das Mädchen. Sicher war es nicht die erste Ernte, die er einbringen half.

Mittags nahmen Marie und die anderen Pflücker das hölzerne Joch, »Dracht« genannt, über den Nacken und trugen rechts und links je zwei Kiepen mit je zwanzig Pfund Kirschen zum Hause. Die fremden Pflücker aßen mit den Knechten und Mägden der Wilhelmine Kieck zusammen das Mittagsmahl. Der Bursche aus Ostpreußen saß nicht neben Marie. Aber er saß ihr gegenüber, und sie konnte nicht von ihrer Milchsuppe aufschauen, ohne seinem Blick zu begegnen. Marie wollte den dunkelblauen Augen ausweichen, aber immer wieder wurde sie überlistet, und schließlich mußte sie lachen und sich ohne Worte gefangengeben.

An dem lauen Abend, nach getaner Arbeit, standen Marie und Karl noch eine Viertelstunde beisammen. Das ganze Land schien erfüllt von sprossenden, drängenden Säften und Kräften. Aus den Körben dufteten die Kirschen.

Marie erfuhr, daß Karl schon zwei Jahre in der Marsch arbeitete. Er war arm gekommen wie Marie, er wollte fleißig sein, sparen und heiraten. Es war sauer, einen Groschen zu ersparen, aber es war nicht unmöglich, wenn man mit seinen jungen Kräften rücksichtslos umging. Marie schaute auf ihre Hände, und ihre Lippen gingen noch auf und zu, ohne daß der Hauch sich mehr zu Worten formte. Ihre Glieder blieben willenlos, ihr Nacken beugte sich weit zurück, als die starken Arme sie plötzlich faßten und die Lippen des Mannes auf ihren Lippen brannten.

Marie rannte ins Haus zurück. Sie träumte die ganze Nacht. Lange, ehe die Sonne aufging, war sie wach und wartete mit Ungeduld auf den Augenblick, in dem sie endlich aufstehen und wieder zum Pflücken gehen konnte.

Als sie sich ihre Leiter holte, war Karl schon da, um ihr beim Aufstellen zu helfen.

Die Pflückarbeit im Dorfe dauerte einige Wochen, da die verschiedenen Sorten der Kirschen zu verschiedenen Zeiten reif wurden. Als bei Wilhelmine Kieck nicht mehr gepflückt zu werden brauchte, richtete Marie es mit weiblicher Schläue ein, daß die Nachbarinnen Wilhelmine darum baten, Marie einige Tage bei ihnen aushelfen zu lassen. Die Ernte war allzu reich. Wilhelmine Kieck brummte, sie sagte aber »Ja«.

Marie sang viel in diesen Wochen und ging auch endlich mit zum Tanz. Sie tanzte mit Karl und mit anderen Burschen; auch zwei Großbauernsöhne holten das schöne Mädchen zum Tanz.

Hanne spürte, daß ihre Schlafgenossin nun endlich Verständnis haben würde für ihre Liebesgefühle, und wurde des Abends unter der gemeinsamen Decke redselig. Sie warnte Marie. Die Männer wären alle wankelmütig und untreu.

Mein Karl nicht, dachte Marie selig. Mein Karl nicht. In zwei Jahren kommt er, um mich zu holen. Dann heiraten wir.

Und Marie behielt recht. Nach zwei Jahren kündigte die Jungmagd Marie, für Wilhelmine Kieck ganz überraschend.

Sie heiratete ihren Karl.

Die beiden zogen in ein kleines Dorf in der Marsch, in eine enge, dunkle Stube. Karl arbeitete da und dort bei Bauern und Handwerkern, und Marie tat weiter Magddienste.

Der Mann und seine junge Frau sangen nicht mehr. Sie arbeiteten und sparten beide fanatisch, erbittert. Um Maries Mund trat wieder der kalte Zug hervor, und Karl war des Abends und des Morgens müde und schweigsam.

Die Kinder kamen. Marie war eine starke und gesunde Mutter, aber sie gönnte sich auch nicht Rast und Ruh. Am dritten Tag nach der Geburt war sie stets wieder bei der Arbeit. Ihre Gestalt blieb schlank und stolz, wie sie immer gewesen war, aber ihre Küsse waren jetzt herb, oft erzwungen.

Ein einziges Mal überwältigte sie noch einmal ganz und gar die Erinnerung an jenen Morgen beim Kirschenpflücken. Es war ein köstliches Jahr. Der Frühling war warm und reich, so wie er damals gewesen war. Die Luft strich weich um die Glieder. Blau leuchtete die unendliche sonnendurchstrahlte Ferne. Marie hatte ihre Bluse und ihre Schürze frisch gewaschen und geplättet, und ihre braunen Augen stachen ab gegen den weißblauen Kattun. Wie eine Krone lagen die schweren Zöpfe auf ihrem Haupt. Noch immer war ihre Haut rein, und ihre Lippen waren rot.

Sie ging Karl, als er des Abends von der Arbeit kam, ein wenig entgegen, und der Mann wunderte sich sehr, als er seine Frau auf sich zukommen sah. Ihm war fast Angst vor sich selbst. Seine matt gewordenen Augen blitzten nach langen Jahren plötzlich wieder auf.

Zwei Menschen waren gequält von übermäßiger Arbeit, verbittert vom harten Streben, aus der Armut herauszukommen. Aber an diesem Abend vergaßen sie noch einmal die Welt und umarmten sich in der ganzen Kraft ihres ursprünglichen Lebens.

So wurden Marie und Karl die Eltern ihres Sohnes Jan.

Als Jan im folgenden Winter in der kleinen dunklen Stube, in dem alten Korb, in dünn gewetzten, aber sauber gewaschenen Windeln lag, betrachtete Marie ihn zuweilen einen Augenblick länger, als sie ihre anderen Kinder betrachtet hatte.

»Der ganze Vater!« sagten die Nachbarn. Seine Augen waren blau und seine Haare dunkel. Er war das kräftigste der Kinder und schrie am meisten von allen, wenn er täglich viele Stunden ohne Milch und Pflege auszukommen hatte.

Jan wuchs heran. Als er fünf Jahre alt war, hatten seine Eltern so viel erarbeitet und erspart und samt ihren Kindern so viel gedarbt, daß sie sich ein Grundstück mit Kirschbäumen zu pachten vermochten.

Auf diesem Grundstück hatte auch Jan ein Erlebnis zur Zeit der Kirschenernte, das er nicht wieder vergaß. Die Kirschen wurden in diesem Jahre sehr früh reif. Die Sonne schien, die Luft war warm wie im Sommer, und aus dem fetten Marschboden stieg die Feuchtigkeit auf. Als der Vater früh um sechs Uhr das Haus verließ, zog er stirnrunzelnd die Luft ein und schaute zum Himmel. »Ob ein Gewitter kommt?« sagte er.

Seine Frau Marie preßte die Lippen zusammen und schickte Emilie und Jan mit einem kurzen und unfreundlichen Befehl aus dem Haus. Die Kinder sollten »Spreen hüten«, das hieß, sie sollten die Stare von den Kirschbäumen verscheuchen.

Die Mutter Marie schaute den beiden noch einen Augenblick nach, als sie mit ihren Blechkannen abzogen. Sie war es vor allem, die es mit ihrer unbarmherzigen Sparsamkeit durchgesetzt hatte, daß in diesem Jahr die Bürgschaftssumme hinterlegt und das Obstgrundstück gepachtet werden konnte.

Während die Mutter Marie ihre hundert- oder tausendmal gerechnete Rechnung um die Pacht und den künftigen Grundstückskauf wieder einmal abschloß und sich mit einem Ruck der Tagesarbeit zuwandte, trottete Jan schmollend mit seiner großen Schwester.

Die elfjährige Emilie stellte ihr Brüderchen bei einem großen, weit ausladenden Kirschbaum auf, an dessen Zweigen es schon rot von Kirschen leuchtete.

Jan machte es Spaß zu klappern. Er schüttelte die Steine in seiner leeren Petroleumkanne, daß es schallte und die Stare erschreckt das Weite suchten. Er suchte sich mehr kleine Steine und warf sie in seine Kanne, damit der Lärm noch größer wurde. Endlich wagte er sich zu einem andern Baum, unter dem er zwei einzelne Ringe einer eisernen Kette im Gras entdeckt hatte.

Die Eisenringe würden in seiner Kanne noch bedeutend wirkungsvoller klappern als Steinchen. Jan lachte. Er überlegte sich, daß er die Ringe nicht in die Kanne werfen, sondern aneinander binden und mit der neu hergestellten Kette gegen die Kanne schlagen wollte. Er hatte ganz und gar vergessen, daß er arbeitete. Seine Erfindungsgabe war erwacht, und seine Arbeit erschien ihm schöner als ein Spiel. Woher eine Schnur nehmen für die geplante Kette? Nirgends war etwas Brauchbares zu sehen. Jan mußte sich selbst helfen. Er pflückte lange Grashalme, flocht sie mit seinen Händchen mühsam zusammen und band die Ringe mit der geflochtenen Schnur aneinander. Ein paarmal schlug er damit auf seine Kanne, und das neuartige Geklapper befriedigte seinen Stolz. Der schmollende Ausdruck war aus seinem Kindergesicht geschwunden. Seine Wangen glühten vor Eifer. Kräftig schlug er nochmals zu – da riß die Grasflechte, und die Ringe flogen in die Wiese.

»Jan«, rief Emilie in ihrer ernsthaften, strengen Art, die sie als Älteste von fünf Geschwistern angenommen hatte. »Jan! Paß auf!«

Der kleine Jan erschrak. An Kirschen und Stare hatte er gar nicht mehr gedacht. Jetzt fiel ihm wieder ein, daß er arbeitete. Die Arbeit war langweilig. Ringsum war kein Mensch außer Emilie. Emiliens Klappern erinnerte den kleinen Jan aber nur an seinen zerstörten Traum. Wenigstens die Eisenringe wollte sich Jan wieder holen.

Der kleine Junge äugte zur großen Schwester hinüber. Es waren weitere drei Stunden vergangen. Auch Emilie war schon müde, hungrig und gelangweilt. Mit erbittertem Pflichtgefühl schüttelte die Elfjährige immer wieder ihre Kanne, obwohl keine Stare mehr kamen. Jan wollte die Eisenringe auflesen und sich eine Weidenrute holen. Einmal schien es ihm, daß die Schwester nicht mehr auf ihn aufpaßte. Er legte die Kanne ins Gras und lief fort. Sein Herz hämmerte. Er hatte Angst.

Schnell erst zu den Eisenringen! Jan fand sie im Gras, und die Freude darüber überdeckte seine Furcht und Aufregung. Er steckte die Ringe in seine Hosentasche, die sich, wie eine richtige Jungentasche, immer wieder mit jenen Dingen füllte, die in Jans Augen Weltwunder und in den Augen der Mutter nur schmutziger Kram waren.

Kein junger Rehbock, dem ein Wolf die Zähne ins Genick schlug, konnte mehr erschrecken als Jan in dem Augenblick, in dem er hinter sich Sprünge vernahm und dann Emiliens Hand ihn am Kragen faßte. Jan konnte nichts mehr denken, geschweige denn etwas sagen. Er weinte und schrie auch nicht, als Emilie ihn ohrfeigte, als ob sie das Mutterrecht auszuüben habe. Stumm und finster stand der kleine Jan abermals unter dem großen Kirschbaum, noch hungriger, noch müder als seine große Schwester, deren Schelten gar kein Ende nehmen wollte.

»Ich sag’s der Mutter!« war Emilies letztes Wort und furchtbarste Drohung.

Als Trost blieb Jan nur das Bewußtsein, daß sich die Eisenringe wieder in seiner Tasche befanden. Aber auch um diesen Trost war es geschehen, als der Nachmittag herangekommen war und die Mutter daheim in der kleinen Stube Emilies Strafgericht an Jan noch ärger wiederholte.

Weggelaufen war er, weggelaufen von der Arbeit! Er sollte wohl lernen zu tun, was ihm aufgetragen war.

Als Jan mit blauen Flecken am Rücken und einem brummenden Kopf, voll Schmerz und Trotz, in einer Ecke saß, schaute er zum Fenster hin, nur um keinen Menschen anschauen zu müssen. Er wollte von niemandem mehr etwas wissen. Die Ringe waren aus der Tasche gefallen, und die Mutter hatte sie weggeräumt. Jan schien es, daß die Welt untergegangen sei. Dennoch gab es draußen etwas Neues, das seine Aufmerksamkeit erregte und das er mit dem Blick seiner roten, verschwollenen Augen verfolgte. Der Frühlingshimmel wurde von Wolken bezogen, er wurde finster und immer finsterer. Ein fernes Grollen kündigte an, daß die Natur ihre zerstörende Kraft zeigen wollte.

Emilie stand am Herd und rührte die Milchsuppe. Die Mutter schaute, ebenso wie der kleine Jan, zum Fenster hinaus. Die Hände hatte sie unter der Schürze gefaltet.

Die Kinder wußten wohl selbst nicht, warum ihnen dieser Augenblick so merkwürdig und erregend vorkam. Sie hatten zwar Angst vor dem Gewitter, alle hatten Angst: Emilie am Herd – Gustav, der mit seinen Schularbeiten nicht zurecht kam –, der kräftige Karl und der schwächliche Friedel, der verstockte und verängstigte Jan und das Brustkind, die kleine Anna, im Korb. Dennoch waren es nicht die drohenden Wolken allein, die die eigenartige und sonst unbekannte Stimmung in die ärmliche Stube brachten. Es konnte auch nicht allein der Schrecken sein, den das Strafgericht über Jan bei den anderen Kindern verbreitet hatte. Dergleichen kam mehr als einmal in der zahlreichen Kinderschar unter Mutter Maries harter Hand vor. Aber das Merkwürdige, das die Kinder spürten, ohne sich genaue Rechenschaft darüber geben zu können, war die Haltung der Mutter in diesem Augenblick. Wann je hatte Frau Marie Zeit, die Hände müßig zusammenzulegen und zum Fenster hinauszuschauen? Auch ein Gewitter hatte es bis dahin nie vermocht, ihre Arbeit zu unterbrechen. Nun jedoch stand sie steif und still, und sie war blaß wie ein Marmorbild. Auch die Kinder bewegten sich nicht, und keins gab einen Laut von sich, so waren sie gefangen von dem ungewöhnlichen Verhalten ihrer immer tätigen Mutter. Nichts mehr war in der Stube zu hören als das Knacken des Herdfeuers und ein undeutlicher Ton, als Emilie beim Rühren einmal den Kochtopf rückte. Draußen war der Sturm aufgesprungen. Er fauchte und raste und blies den Staub der Landstraßen vor sich her. Irgendwo klirrte eine zersplitterte Fensterscheibe.

 

Ein grelles Licht fuhr durch die Abenddämmerung. Krachen und Dröhnen erschütterten Himmel und Erde. Das Gewitter entlud sich.

Friedel und Karl kauerten bei Jan in der Ecke. Der Sturzregen setzte ein. Was war das? Es schlug hell gegen das Fenster, als ob Glas auf Glas klirre. Hagel!

Große Schloßen bedeckten die Wiesen wie Schnee. Noch immer stand die Mutter unbeweglich und starrte durch das Fenster.

Die Kinder bemerkten kaum mehr Blitz und Donnerschlag, die einander unmittelbar folgten. Mit offenem Munde verfolgten sie nur noch das Schauspiel der Eisstücke, die vom Himmel herab auf die Bäume schlugen, als wollten sie die Zweige zerbrechen.

Emilie riß den Topf vom Feuer. Die Milch war aufgewallt und beinahe übergekocht.

Der Hagel ließ so schnell nach, wie er gekommen war. Plötzlich war die Luft draußen wieder still und klar. Mit einem letzten dumpfen Grollen zogen die schwarzen Wolkenballen ab. Die Kinder atmeten auf.

Aber noch immer stand Frau Marie unbeweglich in der Stube. Ihre große schlanke Gestalt wirkte in dem engen und niedrigen Raum wie der Anblick einer Gefangenen.

Es war eine ganz langsame Bewegung, mit der sie sich endlich umdrehte.

»Wer aber nicht hat, dem soll noch genommen werden, was er hat«, sagte sie vor sich hin, und die Kinder begriffen den Sinn der Worte nicht. Sie fühlten nur, daß die Mutter ganz anders und anderes sprach als sonst.

Emilie stellte den Topf mit der Milchsuppe auf den Tisch. Die Mutter teilte mit mechanischen Bewegungen aus. Friedel und Jan mußten stehen, weil es nicht genügend Stühle für alle Kinder gab. Sie löffelten miteinander aus dem gleichen Teller.

Als der Vater nach Hause kam, war es schon spät. Aber Jan war trotz aller Müdigkeit noch nicht eingeschlafen. Er lauschte auf das, was die Eltern sprachen. Würde die Mutter dem Vater erzählen, daß der Junge von der Arbeit weggelaufen war?

Sie erzählte es nicht. Überhaupt wurden nur zwei Worte gesprochen, und die sagten Vater und Mutter in einem Atem: »Alles kaputt.«

Am folgenden Morgen begriff auch Jan, was diese Worte zu bedeuten hatten. Die Kirschenernte war vernichtet. Das schwere Hagelwetter hatte die Früchte von den Bäumen geschlagen.

So mußte Frau Marie in diesem Jahr die Pacht bezahlen, ohne eine Einnahme zu erzielen. Die Bürgschaftssumme schwand dahin. Der Traum vom eigenen Grund und Boden war für Jahrzehnte wieder ausgeträumt. Die Familie mußte das Grundstück verlassen. Sie zog in eine kleine Stadt und fand Unterschlupf im Hause eines Bäckers. Jans Vater ging als Arbeiter in die Lederfabrik. Mutter Marie fuhr täglich mit dem Bäckerwagen über Land. Jan wuchs weiter heran als armer Leute Kind.

Als Jan zehn Jahre alt wurde, ging eine große Veränderung in seinem Leben vor. Damals wurde er, ein Kind noch, zum »Lohnarbeiter«. Er wußte schon, was ihm bevorstand, wenn er auch nur ein kleiner Junge war, und er war sehr unruhig.

In der letzten Nacht, die er daheim verbrachte, schlief er wenig. Als die Müdigkeit ihn gegen Morgen endlich überwältigt hatte, mußte er schon bald wieder aufstehen. Er streckte sich und schaute nach dem Bruder, mit dem er das Bett teilte. Friedel schlief noch. Mit seinem weißblonden Haar, dem bleichen Gesicht, den geschlossenen Augen sah Friedel aus wie ein schönes totes Kind. Jan schaute den Bruder an diesem Abschiedsmorgen lange an. Friedel war in den letzten Jahren Jans liebster Gespiele gewesen. Friedel war zwei Jahre älter als Jan, aber mit seiner schmächtigen Gestalt und seinen dünnen Armen hatte er unter den größeren Jungen einen schweren Stand, und oft hatte ihm Jan bei den rauhen Spielen und Kämpfen aus der Klemme geholfen. Beim Laufen kam Friedel leicht außer Atem, und wenn er des Abends seine gesalzene Milchsuppe löffelte, wurde ihm hin und wieder schlecht. Jan aber war der schnellste unter seinen Altersgenossen. Die Milchsuppe war ihm nie zuviel geworden; nein, er wurde nicht satt; das Essen, das die Mutter ihm geben konnte, war viel zuwenig für ihn. Er kam aus dem Hunger von früh bis spät nie heraus. Jans Freundschaft für Friedel und Friedels Freundschaft für Jan war von beiden nie mit Worten oder Mienen zur Schau getragen worden. Zärtlichkeiten kannten Vater, Mutter und Kinder untereinander nicht. Aber alles, was ein Jungenherz für einen Freund empfinden konnte, empfand Jan für Friedel. Jan war stolz darauf, daß sich der größere Friedel Zeit für ihn, den kleinen Jungen nahm; er bewunderte Friedel, weil dieser zwei Bücher gelesen hatte, was keiner der anderen Brüder von sich sagen konnte. Er liebte Friedel, der die Streiche des kleinen Jan nie an die Eltern verriet, und er fühlte sich verantwortlich für den Bruder, der eine so zarte Gesundheit hatte und den er beschützen wollte. Jan wußte, daß der Abschied von Friedel das Schwerste sein würde, was er bisher erlebt hatte.

Durch die kleinen Fenster fiel die Morgensonne.

Die Eltern und anderen Geschwister schliefen noch. Jan lauschte den regelmäßigen Atemzügen. Am Bettpfosten hing ein welker Pfingstbusch. Die Feiertage waren vorbei.

Der Junge fuhr in seine Hose und lief in die Küche zum Waschen. Er war für sein Alter ungewöhnlich kräftig und groß. Während er sich das Leitungswasser über den Kopf laufen ließ, rührte es sich schon unten beim Bäcker. Die Strahlen der aufgehenden Sonne spielten in die Schlafstube, und die Geschwister wurden wach. Die Eltern kamen.

Als der Vater zur Arbeit gegangen war, packte die Mutter Jans wenige Habseligkeiten in einem Rucksack zusammen und führte den Jungen aus dem Haus und hinüber zu der Molkerei, vor der der große Milchwagen mit dem Schimmelgespann wartete. Jan wurde auf den Wagen gesetzt. Die Mutter sagte: »Adjüs, min Jung.« Der Junge sagte gar nichts. Er schaute nur noch einmal hinauf zu dem Fenster, hinter dem Friedels blasses Gesicht zu sehen war.

Die Schimmel zogen an. Es ging durch die alte kleine Stadt, zwischen Fachwerkhäusern, Fleeten und Vorgärten hindurch, hinaus auf die Landstraße. Die Räder holperten in fest getrockneten Furchen. Ober den Hügeln, Feldern und Wäldern der Geest wallten noch weiße Morgennebel, die erst allmählich aufzogen. Eine erste Lerche stieg auf, hoch ins blaue Nichts, und sang. Ein Hase sprang erschreckt aus dem Feld und jagte über die Landstraße in den Wald. Jan hatte ihn aufmerksam beobachtet. Es war der erste Hase, den er in seinem Leben sah.

Durch die Wiese glitt lautlos der Bach. An seinen Ufern war noch der schwarze Moorboden des Marschlandes zu sehen. Auf dem Grunde führte das Wasser den Sand von den Hügeln der Geest mit sich. Birken standen am Ufer in pfingstlichem Grün, der leichte Wind spielte mit den Blättern. Die Tannen hatten helle Spitzen.