Jan und Jutta

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Jan versuchte, sich selbst begreiflich zu machen, warum seine Eltern solche Menschen geworden waren, die von ihrem Kinde nichts mehr wissen wollten. Die Schande fürchteten sie, die Schande. Was war das, Schande? Wer hatte zu urteilen, was Schande sei?

Die Kunden hatten zu urteilen. Die Kunden, die in den Kellerladen am Rathausplatz kamen und Äpfel, Kartoffeln, Weißkohl und Rotkohl kauften. Die Lieferanten hatten zu urteilen, die großen Händler in der Hamburger Halle, zu denen Jans Vater immer vor Morgengrauen fahren mußte, um frische Ware zu holen, und die großen Bauern, die die Äpfel aus den Obstscheunen an den kleinen Grünkramhändler gaben, wenn er ihnen genehm war und sein Gesicht ihnen gefiel. Oh, welche Schande mochte das wohl für Vater und Mutter gewesen sein, als ihr Sohn, der Kommunist und »Untermensch«, gefesselt, als wieder eingefangener Ausbrecher, an ihrem Geschäft vorüber in die Polizeiwache gebracht worden war. Ja, daran hatte Jan noch gar nicht gedacht.

Der Gefangene schaute mit seinen Augen, deren Sehkraft in der Gefangenschaft langsam nachließ, zu dem Nachtlicht an der Decke.

Die Eltern hatten kaum je von sich gesprochen. Aber einmal war er als Kind dabeigewesen, wie die Mutter von der eigenen Jugend erzählte.

Jan hatte keinen Schlaf. Die Hände und Füße schmerzten, und er verbrachte die langen Nachtstunden damit, in den Bildern der Phantasie noch einmal zu erleben, was die Mutter an jenem Abend von der eigenen Jugend erzählt hatte. Vielleicht konnte er in den Erlebnissen ihrer Jugend die Erklärung für das finden, was sie später geworden war.

Mutter Marie Möller war eine gute Erzählerin. Aber sie tat nur selten den Mund auf, um etwas zu sagen, was in ihren Augen unnütze Rede war. Aber dieses eine Mal, des Abends, im Winter, hatte die Mutter mit einer alten Freundin zusammengesessen, die nach langen Jahren zu ihr zu Besuch gekommen war. Der Name der Freundin war Emmi, daran erinnerte sich Jan noch genau. Er wußte auch noch, wie die Freundin ausgesehen hatte, ein wenig kleiner als die Mutter, sehr zierlich, und ihre Sprache war lebhaft gewesen, dabei schien es, als ob jedes ihrer Worte von einer gewissen Furcht zur Eile getrieben werde. Es war in einem Dezember gewesen, um die gleiche Zeit wie jetzt, in den trüben Tagen, in denen sich der Tag so früh zur Nacht neigte.

Jan, damals noch ein Junge, hatte sich neben den Herd gekuschelt und hatte die Ohren gespitzt, als Mutter Marie und ihre Freundin anfingen, von den Erlebnissen und Gefahren lange vergessener Jahre zu erzählen. Jan, der Gefangene, erinnerte sich jetzt daran, was die Mutter damals berichtet hatte, und mit der Erinnerung an die Erzählung der Mutter mischten sich die Erinnerungen an seine eigenen Eindrücke aus Kindheit und Jugend.

II
Geschichte einer Jugend

Es war ein kalter Wintertag. Der Eiswind fegte über die verschneiten Straßen und Dächer der kleinen ostpreußischen Stadt. Er zerriß den Rauch, der aus den Kaminen abzog, zu dünnen Fahnen. Der Himmel war weißgrau, die Wolken schon wieder schwanger von Schnee. Der Sonntag ging seinem Nachmittag zu. Die ostpreußischen Familien saßen in geheizten Zimmern beieinander, tranken Kaffee und plauderten.

In den gewärmten Gaststuben trafen sich die angesehenen Männer der Stadt, sie legten die pelzgefütterten Mäntel ab, aßen gut und sprachen der Flasche zu. Die Geschäfte hatten ihre Türen geschlossen, leer und verlassen lagen die Straßen, das Revier des Windes und der Kälte. Nur die Alten und Einsamen schauten an diesem stillen Nachmittag durchs Fenster, und ein Kind drückte sein Näschen an der Scheibe platt. Nur diese wenigen Beobachter an den Fenstern hatten die beiden jungen Mädchen bemerkt, die Arm in Arm durch die Hauptstraße gegangen waren und jetzt um die Ecke in eine Seitenstraße einbogen. Die beiden Mädchen beugten Schulter und Kopf, um das Gesicht vor dem wachsenden Sturm und den beißenden Kristallen zu schützen, die durch die Luft zu wirbeln begannen. Die Freundinnen trugen neue Winterjacken und bunte wollene Tücher um den Kopf. Marie war die größere der beiden, mit ihren sechzehn Jahren ein schlanker, schön gewachsener, vollkommener junger Mensch. Ihr Schritt war leicht und kräftig.

»Komm!« flüsterte sie der Freundin zu, »mach schnell!«

Das kleinere der beiden Mädchen beschleunigte den Gang. Die Wangen der Freundinnen hatten sich gerötet, nicht nur im eiskalten Wind, sondern auch durch die Erregung, die beide durchpulste. »Schnell!« sagte Marie noch einmal, und obwohl niemand ihre Worte vernehmen konnte, flüsterte sie wieder, als ob sie sich fürchte.

Die beiden Mädchen kamen an ein ansehnliches Haus. Es war einstöckig, mit Ziegeln gedeckt; hinter den Doppelfenstern waren die schweren Gardinen zu sehen. Marie zog einen unhandlichen altertümlichen Schlüssel aus der Rocktasche. Als er sich im Schloß drehte, schien das ganze Haus zu hallen. Die Mädchen traten ein und zogen die schwere Eichentür hinter sich wieder zu.

Nichts rührte sich.

Marie zögerte einen Augenblick, und ihre Gedanken gingen ein letztes Mal durch alle Räume dieses Hauses und zu allen Menschen, mit denen sie hier zwei Jahre hindurch gewohnt hatte. Ich lasse ihnen alles sauber zurück, dachte sie, es liegt nirgends ein Staubkorn. Das Parkett in den Salons ist blank, die Kristallgläser spiegeln, die Nippesfiguren habe ich gewaschen, die Teppiche im Schnee geklopft. Die fünf Kinderbetten sind frisch überzogen, und die Wäsche liegt im Schrank, so weiß wie Sommerwolken, mit bunten Bändern gebündelt. Das Geschirr ist gespült, die Speisekammer mit Vorräten gefüllt. Wenn der Herr Doktor aus der Gaststube der Honoratioren und wenn die gnädige Frau mit den fünf Kindern von dem Besuch bei der Großmutter nach Hause zurückkommen, so brauchen sie nur … Um Maries Mundwinkel huschte ein schwaches Lächeln, und die Grübchen in ihren Wangen deuteten sich an. Sie dachte daran, daß die gnädige Frau und der Herr Doktor nach »Marie« rufen würden, wenn sie des Abends heimkehrten. Vergeblich würden sie heute »Marie!« rufen, Marie, die jeden Sonntagabend noch die Kinder versorgt und belegte Brote aufgetischt hatte. Vergeblich würden sie in der Nacht lauschen, ob sich ein Schlüssel im Schloß drehte, vergeblich am nächsten Morgen auf Bohnenkaffee, Milch und Butter warten. Marie, die stets vor Tagesgrauen aufgestanden war, um ihre Arbeit zu schaffen, würde nicht mehr dasein.

»Was träumst du?« fragte Maries Freundin. »Wir haben doch keine Zeit.«

Marie riß sich aus ihren Gedanken heraus. Der Entschluß stand fest. Sie eilte in ihre kleine Kammer, legte die letzten Habseligkeiten in das bereitstehende Köfferchen und gab der Freundin das ihre, das auch hier versteckt gewesen war. Ein letzter Blick in den freudlosen fensterlosen Raum, in dem Marie ihre wenigen Ruhestunden immer in bleischwerem Schlaf verbracht hatte – dann faßte die Hand den Koffer fester. Marie machte das Licht wieder aus. Noch einmal lauschte sie. Alles blieb still.

Marie und Emmi verließen miteinander das Haus, so unbemerkt, wie sie gekommen waren.

Von Furcht gejagt, vom Wind in den Rücken gepufft, voll unbestimmter Erwartung auf ein ungewisses Schicksal liefen sie dem Bahnhof zu.

Die wenigen Fahrgäste, die sich an dem Wintersonntag auf dem Bahnhof eingefunden hatten, waren den Mädchen nicht näher bekannt und achteten auch nicht auf die Freundinnen. Marie und Emmi hatten einen jeden verstohlen und ängstlich gemustert und atmeten auf, als sie sich unbeobachtet fühlten. Aber wo blieb der Vermittler?

Marie zog Emmi in eine Ecke, von der aus die Mädchen den Fahrkartenverkauf und die Bahnsteige übersehen konnten. Auch die Bahnhofsuhr lag in ihrem Blickfeld. Regelmäßig rückte der schwarze Zeiger von Minute zu Minute vor, als Ausdruck des Gesetzes, gegen das sich kein Wille aufzubäumen vermochte, gleichgültig gegen Hoffnung und Furcht.

In einer Viertelstunde ging der Zug. Aber noch war der Vermittler nicht zu sehen.

Marie und Emmi fieberten trotz Frost und Wind. Ihr Herzschlag war hörbar, ihre Hände flogen. Wenn der Vermittler nicht kam?

Da! Marie hatten den Mann zuerst gesehen und stieß die Freundin an. Die beiden Mädchen lösten sich aus der Ecke und gingen steif vor Aufregung auf den breitschultrigen Menschen in der Lederjoppe zu. Hatte er sie bemerkt? Er wandte sich und betrat den leeren Wartesaal. Marie und Emmi folgten ihm. Als sie vor ihm standen, fühlten sie sich gemustert wie Jungvieh, das verkauft wird.

»Habt ihr Fahrkarten?« fragte der Mann.

»Nein«, antwortete Marie. »Sie haben uns die Adressen noch nicht gegeben!«

Der Mann holte zwei beschriebene Zettel aus der Brieftasche und hielt sie so, daß die Mädchen sie nicht lesen konnten. »Die Adressen sind da«, sagte er geschäftsmäßig. »Holt euch die Fahrkarten nach Hamburg, dann gebe ich sie euch.«

Emmi überlegte nicht und lief sofort zum Schalter.

»Die Karte für die Strecke über Berlin lösen!« rief der Mann ihr hastig nach. Marie folgte der Freundin langsam. Sie war mißtrauisch. Sorgfältig zählte sie die Barschaft, die sie noch im Beutel hatte. Sie hatte in den zwei Jahren ihres Dienstes bei dem Herrn und der Frau Doktor anfänglich gar keinen Lohn, dann aber nicht mehr als zehn Mark monatlich erhalten. Die Winterjacke war teuer gewesen. Wenn jetzt noch die Fahrkarte nach Hamburg beglichen wurde, blieben nur noch ein paar Mark im Beutel übrig und ein letzter Notgroschen im Rocksaum …

Aber Marie löste die Fahrkarte.

Als sie wieder in den Wartesaal kam, stand Emmi dort schon bei dem Vermittler und weinte.

»Ihr denkt wohl, ich mache mir die Arbeit mit euch, weil ihr zwei hübsche Lärvchen seid«, sagte der Mann, als auch Marie zu ihm herangekommen war. »Erst die Gebühr, dann die Adressen. Jede von euch zahlt fünf Mark.«

 

Der Zug ging in acht Minuten.

»Beim Verdingbüro zahlen die Brotherren, nicht wir«, erwiderte Marie. Sie weinte nicht, aber sie war blaß geworden.

»Was du alles weißt, du Milchgesicht«, antwortete der Mann, und der Klang seiner Worte wurde brutal. »Du hast acht Minuten Zeit, dir zu überlegen, was du willst. Wenn du nicht zahlst, bekommt eine andere die Adresse.«

Marie biß die Zähne zusammen. Sie haßte den Kerl in der Lederjoppe, sie traute ihm nicht. Aber der Zug wartete, die Türen standen offen, die wenigen Fahrgäste stiegen schon ein. Die mächtige Lokomotive dampfte startbereit, und das Mädchen hatte den gepackten Koffer und die Fahrkarte in der Hand. Emmi gab eben vier Mark. »Mehr habe ich nicht, seht«, sagte sie schluckend und zeigte dem Vermittler den leeren Beutel. Es lag nur noch ein Sechser darin. Marie schaute nach der Bahnhofsuhr. Noch fünf Minuten! Sie zählte wiederum ihre Barschaft.

»Fünf Mark jede von euch«, wiederholte der Mann mit der Lederjoppe und dem breiten Kinn unbarmherzig.

Marie gab ihm sechs Mark. Fünfzehn Pfennig blieben in ihrem Geldbeutel. Als Marie die sechs Mark – fünf Mark für sich und eine Mark für Emmi – bezahlt hatte, starrte sie auf die Hände des Mannes. Er mußte die Adressen geben. Marie stand sprungbereit wie eine Katze. Sie wollte dem großen Mann an die Gurgel fahren, wenn er sie jetzt betrog.

Die breiten Hände entfalteten die beiden Zettel. Jedes der Mädchen erhielt einen. Marie und Emmi nahmen sich nicht mehr die Zeit, genau zu lesen, was drauf stand. Sie stürzten zum Zug, stiegen ein und schlugen die Tür hinter sich zu. Der Stationsvorsteher rief zur Abfahrt und gab das Signal mit der Pfeife. Die Räder begannen zu rollen.

Die Entscheidung war gefallen.

Marie und Emmi drückten sich je in eine Ecke des leeren Abteils. Sie hatten die Köfferchen neben sich auf die Bank gestellt und hielten sie krampfhaft fest. Keine von ihnen brachte ein Wort heraus. Sie schauten auch nicht durchs Fenster nach der vorbeifliegenden heimatlichen Winterlandschaft. Sie schauten nur auf ihre Zettel. Ihr Gehirn mühte sich, die Namen aufzunehmen, die darauf geschrieben standen.

»Wilhelmine Kieck, Estebrügge«, las Marie still für sich. Sie wartete darauf, ob Emmi etwas von dem Zettel ablesen werde, den sie immer noch entfaltet in der Hand hielt, während Marie das Papier mit dem Namen Wilhelmine Kieck, Estebrügge, wieder sorgfältig zusammenlegte und in den leeren Beutel tat.

Emmi hob den Kopf. »Cranz? Das ist ja nicht in Hamburg!« Es war kein Sagen, sondern fast ein Schreien, womit sie die Worte hervorbrachte. Mit aufgerissenen Augen schaute sie Marie an, vorwurfsvoll, Antwort heischend, als ob Marie jener brutale Mann in der Lederjoppe sei, der den Mädchen die Adressen gegeben hatte.

»Und?« erwiderte Marie, die sich äußerlich zur Ruhe zwang.

»Wir haben doch kein Geld mehr! Die Fahrkarte reicht nur bis Hamburg! Was soll denn jetzt werden!«

»Irgend etwas«, sagte Marie.

Emmi begann wieder zu weinen. Ihr ganzes Gesicht wurde naß, und sie stieß schluchzend auf.

Marie horchte und spähte. Sie hatte sich nicht getäuscht. Der Fahrkartenkontrolleur kam.

»Sei still! Sei bloß still!« flüsterte Marie ihrer Freundin hastig und eindringlich zu. »Still sollst du sein, verstehst du?!« Marie sprach, als ob sie ein Kind schelte. »Wir können von Hamburg laufen, oder ich habe auch noch Geld – ich habe was versteckt! Bist du jetzt ruhig!«

Emmi nahm sich zusammen. Sie trocknete rasch die Tränen und setzte ein Lächeln auf. Auch sie hatte jetzt den Beamten bemerkt, der eben zu dem Abteil kam.

Der Beamte betrachtete die Fahrkarten und die Mädchen, besonders Emmis verweintes Gesicht. »So weit soll’s heute gehen?« fragte er dann. Er hatte selbst heranwachsende Töchter, an die er in diesem Augenblick dachte.

»Ja, so weit«, antwortete Marie ruhig. Als sie fühlte, daß das bloße »ja« dem Beamten nicht genügte, fügte sie hinzu: »Die Löhne sind dort besser.«

»Ach so«, meinte der ergraute Mann in der Eisenbahneruniform. »Na, dann wünsche ich euch Glück. So jung schon in die Fremde! Haltet aber auf euch. In Hamburg gibt es viel unnützes Volk – Hafenvolk!« Er lochte die Fahrkarten und ging.

Die Freundinnen atmeten auf. Marie dachte mit Erbitterung daran, daß sie nun für Emmi die Anschlußkarte bezahlen mußte. Sie hatte es in der Aufregung versprochen.

Der Zug rollte über weite Strecken. Längst war die Dämmerung des Winterabends in Dunkelheit übergegangen. Nur der Schnee leuchtete unter den Sternen. Im Abteil brannte die Lampe hoch an der Decke. Die Mädchen saßen noch immer in Kopftuch und Winterjacke in dem geheizten Zug. Ihnen wurde allzu warm, aber sie mochten kein Stück ablegen. Es war ihnen, als ob sie ihre letzten Habseligkeiten so fest wie möglich an sich halten müßten.

Nach Mitternacht sanken Emmi die Lider über die Augen. Marie starrte mit Anstrengung auf ein Bild über den ihr gegenüber befindlichen Sitzen. »Hamburg, Hafen«, stand darunter.

Die nächtliche Landschaft draußen veränderte sich. In kürzeren Abständen blinkten die Lichter von Bahnhöfen, auch Dörfer und kleinere Städte flogen vorbei. Einige wenige Male hatte der Zug gehalten. Dann wurde Emmi jedesmal wach und schaute gemeinsam mit ihrer Freundin stumm und mißtrauisch auf die Reisenden, die mit ihren Koffern aus- und einstiegen und auch an dem Abteil vorbeigingen, in dem die Mädchen saßen. Es war auch jetzt noch viel Platz im Zug; alle neuen Fahrgäste suchten nach Fensterecken, und so blieben Marie und Emmi während der langen Fahrt allein.

Bald mußte Berlin erreicht sein.

Als der Zug in die große Bahnhofshalle einrollte, standen die Mädchen mit ihren Köfferchen in der Hand als erste an der Tür. Das Donnern der Räder verstummte; Rufen, Pfeifen, Laufen und das leise wallende Geräusch vieler fragender und antwortender Stimmen füllte die große Halle, deren Luft vom Rauchen dick war. Beißend helle Lampen beleuchteten das Menschengewühl. Marie und Emmi blieben stehen. Züge, Bahnsteige, Hunderte von hin und her eilenden Reisenden, Träger, Bahnbeamte, Rollwagen mit Koffern. Pfiffe der Lokomotiven, neues Räderrollen, das Zischen des Dampfes aus sich öffnenden Ventilen, diese Vielfalt der Eindrücke überwältigte und verwirrte die Mädchen. Emmi drängte sich eng an Marie.

Was nun? Wo fanden sie den Zug nach Hamburg?

»Wohin reisen Sie denn?« fragte eine ältere Frau. Oder war es eine »Dame«? Sie trug Ohrringe mit großen Steinen. Ihre Haut glänzte fettig.

»Nach Hamburg!« sagte Marie mit Überwindung.

»Nach Hamburg!« rief die Frau. Marie empfand, daß das Erstaunen und Entsetzen in dem Ausruf nur gespielt war. »Nein, aber nach Hamburg? Da geht doch jetzt gar kein Zug, und von diesem Bahnhof hier überhaupt nicht. Wissen Sie das?«

»Nein«, antwortete Marie. Die Frau war ihr widerwärtig. Sie strömte einen süßlichen, stickigen Geruch aus und hatte den gleichen taxierenden Blick wie der Vermittler in der Lederjoppe.

»Nach Hamburg geht der Zug von einem anderen Bahnhof. Sie müssen mit der Straßenbahn oder mit dem Omnibus zu diesem andern Bahnhof fahren! Das ist alles kompliziert, und der Morgenzug ist schon weg«, plapperte die Frau. »Kommen Sie mit. Ich gebe Ihnen eine Tasse Kaffee, Sie sind ja ganz übernächtigt.«

Umsonst ist der Tod, dachte Marie. Warum will sie uns Kaffee geben?

Auf einmal stand ein Mann neben der Frau. Marie schauerte zusammen, als sie seinem Blick begegnete. Sie hatte das Gefühl, als ob seine Augen ihr durch die Kleider auf die nackte Haut gingen, als ob er die Formen ihres jungen Körpers abtastete, als ob er sie schände. Ihre Nerven spannten sich. Sie war hellhörig, als die dicken, fleischigen Lippen etwas flüsterten.

»Die da – die größere«, hatte dieser Mann zu der Frau mit den Ohrringen gesagt, während er sich umwandte und wegging, als ob er nicht dazugehöre.

»Danke. Wir haben schon eine Anweisung für die Bahnhofsmission«, sagte Marie laut und bestimmt. Sie wußte selbst nicht, wie ihr diese Bemerkung auf einmal eingefallen war. Kühl und feindselig schaute sie die parfümierte, fettglänzende Frau noch einen Augenblick an, dann nahm sie Emmi fest an der Hand und lief mit ihr zur Sperre, Emmi wagte nicht, schon wieder zu weinen.

Als die Mädchen an die Sperre gelangt waren, blieben sie stehen. Marie brach am ganzen Körper der Angstschweiß aus. Fuhr der Hamburger Zug wirklich nicht von hier ab? Was kostete die Fahrt zu dem anderen Bahnhof? Wo sollte sie ihr Geld aus dem Rocksaum nehmen? Wenn sie nun den Zug nach Hamburg versäumten?

Marie glaubte im Gedränge der hereinströmenden Reisenden den Menschen mit den fleischigen Lippen und dem schamlos gierigen Blick in ihrer Nähe wiederzuerkennen. Nur diesem Kerl nicht in die Hände fallen, nur das nicht!

Sie zog Emmi mit sich und wies an der Sperre ihre Fahrkarte vor.

»Zum Lehrter Bahnhof«, sagte der Beamte. »Wissen Sie, wie Sie dort hinkommen?«

Marie schüttelte den Kopf.

»Gehen Sie links hinaus und nehmen Sie den Pferde-Omnibus. Mit dem fahren Sie für einen Groschen die Strecke.«

Die Mädchen liefen schnell wie flüchtiges Wild auf den Platz vor dem Bahnhofsgebäude. Marie schaute sich um. Der freche Mann und die mit den Ohrringen behängte Frau schienen ihnen nicht gefolgt zu sein.

Auf der Straße fuhr ein kleiner, mit zwei Pferden bespannter Omnibus. Er wurde langsamer und hielt. Die Freundinnen eilten hin und stiegen ein.

Jede von ihnen hatte ja noch einen Groschen im Beutel. Sie zahlten.

Der Omnibus fuhr durch die große Stadt. Es gab Haltestellen. Leute stiegen aus und ein. Die Freundinnen waren auf der hinteren Plattform stehengeblieben.

»Endstation! Alles aussteigen!« rief der Schaffner endlich. Marie und Emmi schauten sich um. Kein Bahnhof war hier zu sehen. Der Schaffner schien ihre Angst und Verwirrung zu bemerken.

»Wo wollt ihr denn hin?«

»Nach Hamburg«, sagte Emmi.

»Meine Güte – da müßt ihr doch die andere Richtung fahren! Na, dann bleibt mal gleich sitzen. In einer Viertelstunde fahren wir die Tour zurück.« Der Schaffner drängte die beiden Mädchen wieder in den haltenden Wagen. Während der Kutscher die Pferde versorgte, setzte sich der Schaffner neben die Freundinnen und packte sein Frühstücksbrot aus.

Zum ersten Mal auf der langen Reise wurden sich Marie und Emmi bewußt, daß sie Hunger hatten. Es war Montag morgen, und seit Sonntag mittag hatten sie nichts mehr gegessen. Keine von ihnen war auf den Gedanken gekommen, sich eine Scheibe vom Brot der »Herrschaft« abzuschneiden. Sie hatten sich unterwegs Brot kaufen wollen. Aber nun besaßen sie kein Geld mehr dafür. Das Gefühl des Hungers beschäftigte die Mädchen jedoch weniger als die Aufregung über den Zeitverlust und die Furcht vor dem Augenblick, in dem der Schaffner wieder einen Groschen für eine neue Fahrkarte von ihnen fordern würde. Im Beutel hatte Marie noch einen Sechser. Heimlich befühlte sie ihren Rocksaum, den harten, sorgfältig zusammengesparten letzten Notgroschen. »Wir können ja laufen!« sagte sie plötzlich und zerrte zum Erstaunen des Schaffners auch die erschrockene Emmi aus dem Wagen hinaus.

Die Mädchen liefen die Strecke zurück, die sie gekommen waren. Marie hatte Häuser und Straßen genau beobachtet und fand sich in der fremden Stadt ohne Frage zurecht, bis die Mädchen den Bahnhof wieder erreichten. Sie hatten beide einen guten Schritt. Der schwarze Zeiger der Bahnhofsuhr war vorgerückt. Wann ging der Zug nach Hamburg? Die Freundinnen wußten es nicht.

Eine junge Frau sprach Marie an. »Kennen Sie sich nicht aus? Kann ich Ihnen Bescheid sagen?« Marie fühlte sich geehrt, daß sie mit »Sie« angesprochen wurde, aber zugleich berührte sie diese Anrede wie ein körperlicher Stich. Sie wurde an den Fleischigen und die Parfümierte erinnert, die auch die Anrede »Sie« gebraucht hatten.

Die junge Frau, die Marie angesprochen hatte, sah blaß aus und hatte dunkle Ringe unter den Augen. Ihr Haar war goldblond. Auch von ihr strömte der süßliche Geruch aus, den Marie von ihrer Heimatstadt her an Menschen nicht kannte und der ihr zuwider war.

»Wir wollen nach Hamburg«, berichtete Emmi vertrauensselig.

»Am Lehrter Bahnhof habe ich jemanden abzuholen«, sagte die junge Frau. »Einen Bekannten. Ihr könnt mit mir kommen.«

»Laufen Sie auch?« fragte Emmi aufatmend.

»Ja, ich laufe auch.« Um den kirschroten Mund, der diese Antwort gab, zuckte es dabei merkwürdig; niemand hätte sagen können, ob von Weinen oder Lachen, von Spott oder Freundlichkeit.

 

Marie fügte sich stillschweigend in Emmis Meinung und folgte mit der Freundin zusammen der Fremden. Die junge Frau trug Schuhe mit hohen Absätzen. Sie konnte nicht so schnell gehen wie die beiden Mädchen.

»Habt ihr denn in Hamburg Verdienst?« fragte sie Emmi.

»Guten Verdienst«, erzählte diese, und ihre Stimme wurde lebhaft. »Fünfundzwanzig Mark Monatslohn und das Essen.«

»Das ist schon was!« Die junge Frau lachte kurz auf. »Dafür könnt ihr euch was kaufen! Schaut hier an« – sie zeigte einen auffallenden goldenen Ring mit grünem Stein am Finger –, »der ist mir geschenkt worden.«

Emmi staunte ungläubig.

Marie schaute die junge Frau forschend an. »Umsonst ist der Tod«, sagte sie. Das war immer die Rede von Maries Mutter gewesen, die sich in einem harten Bauernleben früh ins Grab gearbeitet hatte. Marie hatte als Waise erfahren müssen, daß in der Welt, die sie umgab, die Worte der Mutter zu Recht gesprochen waren, und sie hatte aus Gewohnheit und Erfahrung diese Worte in ihren eigenen Gedankenkreis als einen festen Bestandteil und Leitfaden übernommen.

»Umsonst ist der Tod. Warum hat Ihnen einer einen solchen Ring geschenkt?«

»O du junge Weisheit!« rief die Frau. »Aus Liebe hat er ihn mir geschenkt, als ich anfing und noch so jung war wie du, schönes Mädchen! Du kannst auch Liebe genießen, du hast den Leib dazu!«

Marie war sehr unerfahren in ihrer neuen Umgebung, und sie hatte noch nie etwas von Freudenmädchen gehört oder gelesen. Aber ihr weiblicher Instinkt und ihr durch Arbeit und Not gewecktes Bewußtsein erkannten schnell den Widerspruch in den Worten und Erscheinungen, auf die sie hier traf. Eine junge Frau, die einen so kostbaren Ring aus Gold und Edelsteinen trug, lief zu Fuß zum Lehrter Bahnhof gleich Marie, die noch nie ein Schmuckstück ihr eigen genannt hatte und deren Beutel leer war? Eine junge Frau, die einen solchen Ring besaß, mußte in der Kutsche fahren wie die Töchter des Herrn Landrats, oder es war hier irgend etwas nicht in Ordnung.

»Mich wundert das alles«, sagte Marie ausweichend. Sie spähte unausgesetzt, aber unauffällig nach dem Pferdeomnibus. Derjenige, in dem sie zuerst mit Emmi gesessen hatte, war inzwischen in umgekehrter Richtung vorbeigefahren. Also befanden sich die Mädchen bis jetzt auf dem richtigen Weg.

Die junge Frau bog in eine weniger belebte Straße ein. Marie zögerte.

Es fiel ihr ein älterer Herr auf, der schräg über die Fahrbahn herankam. Er musterte die junge Frau und die beiden Mädchen auf zudringliche Weise. Marie beobachtete auch die junge Frau, die die Aufmerksamkeit des Mannes mit einem schamlosen Lächeln erwiderte. Marie faßte Emmi an der Hand. Sie hatte unter dem Torbogen eines Hauses den Kerl mit den fleischigen Lippen entdeckt.

Der ältere, modisch gekleidete Herr erreichte die kleine Gruppe. »Na, Lisa?« sagte er zu der jungen Frau. »Immer recht fleißig?« Dann glitt sein Blick von den kirschroten Lippen und den dunkel umränderten Augen ab und blieb an Marie hängen. »Deine neue Freundin? Reizende Landpomeranze. Ja, meine Liebe, so knusprig warst du damals, als ich dir deinen schönen Ring schenkte. Das kommt nicht wieder …«

Der modische Herr roch trotz der frühen Morgenstunde schon – oder noch? – nach Alkohol. Marie merkte das. Sie fuhr zusammen, als der Fremde ihr die Hand auf die Schulter legte.

»Mein Fräulein, Sie haben sicher Lust, etwas Warmes zu trinken …? Verflucht kalter Winter! Kommen Sie, ich lade Sie alle drei ein!« Die Hand, die auf Maries Schulter gelegen hatte, fuhr lüstern über die Brust des Mädchens.

Marie ließ Emmi sofort los und gab dem modisch gekleideten Herrn eine schallende Ohrfeige. Marie besaß die Kraft eines Bauernkindes, das von früh an schwere Arbeit getan hatte. Auf der Wange des Fremden brannte ein knallroter Fleck. Er wich zurück. »Donnerwetter!« stammelte er. »Aber so energisch?« Lisas Lippen verzogen sich schadenfroh.

Vom Pfosten des Haustores löste sich die Figur des fleischigen Kerls ab. Er kam mit großen Schritten näher.

»Komm!« schrie Marie. Sie riß Emmi mit sich und rannte in die belebte Straße zurück. Ihr Herz klopfte, als sie wieder stehenblieb. Sie schaute sich um. Von den verdächtigen Gestalten war nirgends mehr etwas wahrzunehmen.

»Jetzt laufen wir nicht mehr, jetzt fahren wir zum Bahnhof«, bestimmte Marie. »Bleib stehen, bis ich die Groschen herausgeholt habe!« Sie übergab Emmi ihr Köfferchen und trat in einen Hausflur ein.

Schnell riß sie einen Faden am Rocksaum auf, holte 5o Pfennige aus ihrem Versteck und hielt den Saum mit zwei Sicherheitsnadeln wieder fest. Ihre Hände flogen. Dreimal steckte sie die Nadeln um.

Als sie wieder zu Emmi kam, fuhr der Omnibus gerade von der Haltestelle ab. Die Mädchen warteten, bis der nächste kam. Marie zahlte, und das gleichmäßige Getrappel der kleinen zähen Pferde führte zum Lehrter Bahnhof.

Dort erfuhren die Freundinnen, daß der Zug nach Hamburg schon abgefahren war und vor dem Abend kein weiterer ging. Die Mädchen setzten sich in den Wartesaal III. Klasse. Sie saßen auf einer schmalen Bank, schweigend und regungslos. Die Köfferchen hielten sie mit beiden Armen auf dem Schoße fest. Gegen Abend kaufte Marie für den Sechser, der das letzte Überbleibsel des vorgesehenen Reisegeldes bildete, zwei Brötchen. Eines aß sie selbst und eins gab sie Emmi. Die Mädchen schlangen den Happen heißhungrig hinunter. Dann tranken sie am Bahnhofsbrunnen Wasser und gingen zum Bahnsteig.

Im Zuge saßen sie diesmal nicht allein im Abteil. Aber mißtrauisch und zurückhaltend begegneten sie allen Fragen oder freundlichen Worten der Mitreisenden.

Es war Nacht, als der Zug in den Hamburger Bahnhof einlief. Die Gefahr, der die Freundinnen in Berlin begegnet waren, und die Tatsache, daß sie sie überwunden hatten, gaben Marie eine Sicherheit, über die sie sich selbst wunderte. Sie fühlte sieh nicht nur für sich, sondern auch für Emmi verantwortlich. Als sie wieder stundenlang, müde und von bitterem Hunger gequält, mit Emmi im Wartesaal saß, blieb ihre Energie doch wach. Sie hatte noch einmal Geld aus dem Rocksaum geholt und die Anschlußfahrkarten gekauft. Keinen Pfennig weiter wollte sie ausgeben. Am nächsten Morgen konnte sie ja in Estebrügge und Emmi konnte in Cranz frühstücken.

Auf dem elenden kleinen Bauernhof von Maries Eltern war immer um jeden Pfennig gegeizt worden. Reich werden, dachte Marie in dieser Nacht. Ich will reich werden. Um ihren jungen feingeschwungenen Mund lag schon ein harter Zug. Er wurde noch härter. Marie hatte seit dem Tode der Eltern keinen einzigen Menschen mehr, der mit Fürsorge an sie dachte. In der Nacht, im Wartesaal des Hamburger Bahnhofs, erinnerte sie sich an ihre kleinen Geschwister, die sie bis zum Tode der Mutter hatte versorgen müssen. Seit zwei Jahren hörte sie nichts mehr von ihnen. Der Vormund hatte ihr kaum gesagt, wohin die Kleinen gebracht wurden. Vielleicht hatten sie manchmal nach der Mutter und nach Marie geschrien, besonders der jüngste, der kleine Schwarzlockige. Vielleicht waren sie dafür geschlagen worden. Marie aber hatte von früh bis spät bei dem Herrn Doktor und der gnädigen Frau gearbeitet. Sieben Zimmer, große Wäsche, Kinder, Gäste, reiches Essen für die Herrschaft, Polstermöbel, geschnitzte Schränke, das alles hatte einst die Vierzehnjährige umstanden wie drohende Gespenster, und die Arbeit war immer eine übermäßige Last für ihre jungen Kräfte geblieben. Sie hatte viel Zurechtweisungen gehört, aber wenig freundliche Worte.

Von Zeit zu Zeit kam ein Beamter in den Wartesaal und rief die Züge aus. Dann unterbrach Marie ihre Gedanken und schaute mit Emmi auf die Uhr mit den schwarzen Zahlen und den schwarzen Zeigern, die mit derselben unerbittlichen Regelmäßigkeit wie der Zeiger der Bahnhofsuhr in der Heimat die gleichen Minuten und Stunden anzeigten.