Der Weg in die Verbannung

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Erst als die Waldgrenze erreicht war, machte er halt und warf sich hin, um auszuruhen. Auch der Junge setzte sich, schlang die Arme um die Knie und betrachtete sich während der Rast das Geweih mit den zwölf spitzen Enden.

»Was machen wir daraus, Vater?«

»Was meinst du selbst?«

»Die Stangen mit ihren Spitzen taugen zu vielem. Auch so, wie sie sind, können wir sie schon als Waffe gegen Tiere und sogar gegen Menschen gebrauchen.«

»Du hast recht. Wir werden sehen, wozu sie uns am nötigsten sind und am besten taugen. Speerspitzen brauchen wir zum Beispiel. Die Schäfte dazu werden wir uns gleich suchen und schneiden. Kannst du noch etwas tragen?«

»Es wird gehen.«

»Bast brauchen wir, um die Spitzen an die Schäfte zu binden.«

»Dazu können wir auch die Sehnen des Hirsches benutzen.«

»Die Sehnen will ich für Bogen haben.«

»Zu einem Bogen gehören Pfeile. Machen wir die Pfeilspitzen aus Knochen oder aus Stein?«

»Es kommt darauf an, ob du gute Steine findest. Sieh dich um!«

Die beiden Indianer saßen an dem Bach, der hoch oben in ihrem Versteck entsprang, über die Felswand versprühte und oberhalb des Waldrandes seine Wasser in weit ausgebreitetem Felsschutt wieder sammelte. Bis jetzt hatte Harka mit dem Rücken gegen den Berg, mit dem Blick auf den Wald gesessen. Nun drehte er sich um, legte sich auf den Bauch, stützte die Ellenbogen auf und legte das Kinn in die Hände. Er musterte den Steinschutt und begriff bald, dass der Vater sich hier schon umgesehen hatte. Der Knabe griff nach diesem und jenem scharfkantigen Stein, um ihn genau zu betrachten, und schließlich hatte er einen gefunden, wie er ihn suchte. Es war ein kleiner spitzer Feuerstein.

»Dieser ist gut!«

»Solche Steine findest du hier noch mehr!«

Harka stand auf, ging langsam umher, die Augen immer auf den Schutt gerichtet. In einer halben Stunde brachte er zwei Handvoll Steine zusammen, die für Pfeilspitzen geeignet waren, ihnen zum Teil sogar aufs Haar glichen. Außerdem hatte er einen großen, flachen, eigentümlichen Stein mit messerscharfen Kanten gefunden, und auf diesen Fund war er sehr stolz. Der Vater ließ ihn sich geben, wendete ihn hin und her und prüfte die Kante als Schneide.

»Das wird ein Messer, hau! Vielleicht war es sogar einmal eines.«

Er gab die Steinklinge dem Jungen zurück und erhob sich. »Ruhe du dich jetzt aus.« sagte er, »Ich schneide uns Schäfte für Pfeile, Speer und Messer und suche Bast. Keulen will ich uns auch anfertigen.«

Harka war mit allem einverstanden, besonders damit, dass er selbst jetzt rasten durfte. Er legte den Kopf auf die Arme und schaute dem Vater noch nach, aber bald fielen ihm die Augen zu, und er war eingeschlafen. Die letzten Tage hatten ihn überanstrengt.

Als er aufwachte, saß der Vater wieder neben ihm. Harka musste lange geschlafen haben, denn die Sonne war schon auf absteigender Bahn, und der Vater hatte unterdessen viel gearbeitet. Zwei Speerschäfte aus Eschenholz lagen bereit, das Holz zu zwei Bogen, eine Anzahl von Pfeilschäften und ein Messergriff. Bast hatte der Vater auch geschält. Die neuen Keulen – je ein eiergroßer Stein, am elastischen Griff aus Weidenholz befestigt – waren sogar schon fertig.

»Das nehmen wir alles mit!«, sagte Mattotaupa, als er bemerkte, dass Harka aufgewacht war.

Der Junge nickte und bündelte mit Hilfe der Baststreifen die Schäfte zusammen, so dass er sie leichter tragen konnte. Die Steine steckte Mattotaupa ein. Jeder nahm seine Keule an sich.

Dann begannen die beiden den weiteren beschwerlichen Aufstieg. Mattotaupa schleppte den Hirsch mit verbissener Anstrengung. Auch Harka hatte schwer zu tragen, lauter sperrige Dinge, die ihn behinderten, und er wünschte, er hätte seine Büchse nicht mitgenommen. Aber nun blieb ihm nichts anderes übrig, als auch diese wieder zurückzuschleppen. Es war schon späte Nacht, als die beiden endlich den Anfang des Felspfades erreichten, der zu ihrem Zufluchtsort führte. Auf Vorschlag des Vaters ging Harka voran, um zunächst einmal das Schaftbündel und die Büchse hinzubringen. Obgleich der Knabe sich sagte, dass während seiner und des Vaters Abwesenheit kaum etwas Unerwartetes geschehen sein könne, war er doch erleichtert, als er den Stein an der schmalsten Stelle unverrückt vorfand und bald auch der Pferde ansichtig wurde, die miteinander bei der Quelle standen und jetzt zu dem Jungen herankamen. Harka legte das Schaftbündel und die Büchse nieder, um schnell zum Vater zurückzukehren und das Geweih zu holen. Schließlich brachten die beiden mit vereinter Anstrengung auch den Hirschkörper im kleinen Tal in Sicherheit.

Es war nicht mehr lange bis zum Morgengrauen. Der Vater und der Junge beschlossen, ihr Frühstück vorzuverlegen. Sie tranken durstig, dann häutete Mattotaupa einen Schlegel ab und schnitt zwei große Stücke heraus. Harka klopfte sie mit einem Stein weich und begann die neue Messerklinge auszuprobieren. Sie ließ sich noch schlecht fassen, aber sie schnitt gut, und er konnte sein Fleisch damit in Streifen teilen. Das übrige besorgten seine gesunden Zähne. Auch Mattotaupa aß hungrig, und als die beiden nach dem Essen noch einmal vom Quellwasser getrunken hatten, schliefen sie erschöpft und tief bis in den Mittag hinein.

Beim Erwachen fühlten sie sich wie neue Menschen, denn sie konnten sofort mit der Arbeit beginnen. Mattotaupa häutete den Hirsch ganz ab, zerteilte ihn, schälte sich gleich die Sehnen für die beiden Bogen heraus, löste das Geweih vom Schädel und schabte Knochen ab, die er verarbeiten wollte. Harka musste einen Teil des Fleisches in Streifen schneiden und zum Trocknen aufhängen, andere Stücke sollte er in das Hirschfell einschlagen und im Boden vergraben, damit ein Vorrat blieb. Er tat, wie ihm geheißen war, dachte aber im Stillen daran, dass dies Weiberarbeit sei, die sonst die Großmutter und die Schwester verrichtet hatten. Das Bild Untschidas und Uinonahs war ihm in dieser Stunde wieder ganz gegenwärtig, aber nicht von so viel schmerzlicher Sehnsucht umflossen. Die Sonne schien hell, er war satt, und es regte sich in ihm die allgemeine Zuversicht des gesunden und kräftigen Menschen. Es musste sich irgendein Weg finden, um dem Zeltdorf zu beweisen, dass Mattotaupa kein Verräter war, dass der Zaubermann ihn fälschlich angeklagt hatte. Als große Jäger und tapfere Krieger wollten Mattotaupa und Harka dann heimkehren und von den reumütigen Dorfgenossen empfangen werden.

Harka schaute auf und beobachtete den Vater, wie er einen Bogen krümmte, die Sehne zog und knüpfte. Auch er sah heute frischer und froher aus. Sich neue Waffen zu schaffen, das war eine Aufgabe für einen Jäger! Waffen waren seine Arbeitswerkzeuge.

Die Steine hatten nicht alle die gewünschte Form für Pfeilspitzen. Harka begann einige aufzusplittern. Der Steine kundig, erkannte er, wie ein Stein »gewachsen« und welches die möglichen Bruchstellen waren, und er bearbeitete einen mit dem anderen. Das hatte ihn der Vater schon früh gelehrt.

Der ganze Tag und auch der folgende gingen mit der Waffenherstellung hin. Schließlich war es soweit, dass die beiden Indianer je mit Messer, Speer und mit Pfeil und Bogen ausgerüstet waren.

Knochen und Abfälle waren übrig. Mattotaupa griff spielerisch danach und begann zu schnitzen. Mit Verwunderung sah Harka eine kleine Figur entstehen; sie glich einem Adler. Der Adler war am frühen Morgen wieder über die Bergeshöhen geschwebt.

»Das nächste ist«, sagte Mattotaupa, »dass wir uns hier ein Erdloch als Unterschlupf graben. Es wird nicht immer die Sonne scheinen. Heute fangen wir zusammen an. Morgen machst du allein weiter, und ich gehe wieder jagen.«

»Den Adler?«

»Nein, nicht den Adler. Er hat schöne Federn, aber wenig Fleisch. Wir brauchen noch mehr Fleisch, damit wir nicht zu viele hungrige Tage erleben. An die Federn denken wir später – oder bei Gelegenheit.«

Die beiden suchten sich am Südhang eine günstige Stelle für das geplante Erdloch. Gegen Norden schützten die Höhen. Eine Felsrippe trat ein wenig in den Südhang der Wiese vor und gab auch Schutz gegen Westen. In der Ecke zwischen diesem Felsen und dem weiter ansteigenden Hang begannen die beiden zu graben. Rechtes Werkzeug hatten sie nicht dazu. Aber Steine und auch die Geweihstangen genügten, um die Grasnarbe zu heben und tiefer zu graben.

Am nächsten Tag arbeitete Harka, wie vorgesehen, allein. Die Grube war schon tief genug, um sich hineinzusetzen, aber er wollte sich auch ausstrecken können und grub weiter. Schließlich stieß er wieder auf Fels. Aber die Grube schien ihm auch schon groß und tief genug. Die Seitenwände flachte der Junge ab und belegte sie mit Steinen, die er herbeischleppte. Das schwierigste Problem war, die Grube zu decken. Vorläufig spannte er die Büffelhautdecke über den oberen Teil, von der Felsrippe bis zum Hang.

Dann setzte er sich in die neue Behausung, ruhte sich aus, und zum ersten Mal fielen ihm dabei seine Freunde und Spielgefährten bei den Zelten der Bärenbande wieder ein: der jüngere Bruder Harpstennah, sein älterer Freund Tschetan, der lustige Schwarzhaut Kraushaar, der mit seinem Vater der Sklaverei bei den weißen Männern entflohen war, und die ganze Knabenschar vom Bund der Jungen Hunde, die Harka Steinhart Nachtauge Wolfstöter Büffelpfeilversender Bärenjäger angeführt hatte.

So viele Namen hatte der Sohn des Häuptlings von den Gefährten schon erhalten. Wie sie ihn jetzt wohl nennen würden? Ob überhaupt noch einer von ihm zu sprechen wagte? Und wenn sie schwiegen, weil sie alle Angst vor dem Zaubermann hatten, wer dachte wenigstens noch an ihn?

Hier oben in den Bergen, in diesem kleinen Tal, bei der Grube hätten sie alle zusammen einige Tage hausen und herrlich spielen können.

 

Harka brach diesen Gedankengang ab und schaute in die Höhe, wo der Adler wieder kreiste. Die Beharrlichkeit, mit der der große Raubvogel immer wieder über dem kleinen Hochtal schwebte, fiel dem Jungen allmählich auf. Gab es in der Nähe irgendeine Beute, die der Adler erspäht hatte und auf die er in einem günstigen Augenblick herabzustoßen gedachte? Oder wunderte er sich über die neu in sein Revier eingedrungenen Lebewesen, die beiden Pferde und die beiden Menschen?

Es war ein rechtes Raubvogelrevier hier oben. Abseits von günstigen Wohnplätzen, abseits von Karawanenstraßen der Auswanderer, abseits von Eilpostwegen, abseits vom neu geplanten Schienenstrang lag das waldlose kleine Hochtal, kalt des Nachts und sicherlich eisig im Winter. Nur Schafe und Vögel hatten, den Spuren nach zu urteilen, seit dem Frühling Quelle und Wiese besucht. Vielleicht waren jetzt zum ersten Mal Menschen hier eingedrungen.

Harka betrachtete sein neues Messer. Der Vater mochte recht haben, wenn er meinte, dass die Klinge früher an einem anderen Griff gesessen und irgendeinem Indianer als Waffe gedient hatte. Jetzt war sie nur in den gespaltenen Holzgriff eingeklemmt und mit Bast befestigt, ein primitives, aber doch brauchbares Verfahren. Sie bestand nicht aus Feuerstein, sondern aus einer anderen Gesteinsart, war sehr hart und scharfkantig. Harka war zufrieden. Wie dieses Messer und die Pfeilspitze in den Schutt unten zwischen Fels und Wald geraten waren? Vielleicht hatte im Wald einmal eine Indianergruppe gelebt, das mochte sein. Der Winter ließ sich am besten im Schutz der Bäume überstehen. Im Winter mussten auch Mattotaupa und Harka ihren jetzigen Unterschlupf verlassen und tiefer hinabziehen. Aber bis dahin schien es noch lange Zeit.

Jetzt war es milde und sonnig.

Harka bemerkte, dass die Pferde unruhig wurden. Sie stemmten die Vorderhufe ein, als ob sie schlagen wollten, und drängten sich mit den Köpfen zusammen, wie es die Tiere einer angegriffenen Herde zu tun pflegen. Harka schaute, das Messer noch in der Hand haltend, aufmerksam um sich, und er lauschte gespannt. Schließlich stand er auf und schlich sich zu Quelle und Felspfad hinauf; er lief den Pfad bis zu dem Aussichtspunkt und spähte. Rings schien alles in tiefem Frieden zu liegen. Nur das Wasser klickerte leise. Hoch oben schwebte der Adler mit seinen weit gespannten Schwingen.

Harka war unzufrieden, dass er den Grund für die Unruhe der Pferde nicht entdecken konnte. Die Tiere beruhigten sich etwas, blieben aber doch misstrauisch. Was störte sie? Der Junge legte sich alle Sorten Waffen, die ihm nun schon zur Verfügung standen, griffbereit. Bogen und Pfeile, Speer, Büchse. Er lud die Büchse auf alle Fälle. Das Messer behielt er bei sich.

Der Adler war abgezogen. Hatte er mit seinen scharfen Augen etwa auch eine Gefahr entdeckt? Der Junge wünschte seinen Vater herbei. Aber dieser kam sicher erst zur Nacht zurück, wenn er nicht sogar zwei oder drei Tage ausblieb.

Da die Pferde wieder beruhigt zu weiden anfingen, beschäftigte sich Harka weiter. Er hatte Pfeile mit Steinspitzen und Pfeile mit Knochenspitzen; beim Schuss war das ein großer Unterschied, da die Spitzen verschieden schwer waren. Harka war mit Pfeilen zu schießen gewohnt, die eine Knochenspitze hatten. Daher wollte er sich jetzt auf das Schießen mit den Pfeilen mit Steinspitzen einüben. Er wählte sich im Wiesenboden eine bestimmte Stelle, die er treffen wollte, jenseits des kleinen Baches, am Nordhang. Während er selbst bei seiner Grube stehenblieb, schoss er hinüber und merkte wohl, dass es der Übung bedurfte, bis er seine neuen Pfeile richtig kennenlernte und mit ihnen umzugehen und zu treffen verstand. Sobald er alle verschossen hatte, sprang er hinüber, um sie sich wiederzuholen und von neuem zu beginnen. Auch der Bogen, den er jetzt hatte, war ihm ungewohnt. Die Sehne war noch sehr frisch und nicht so stark wie die Büffelsehne.

Mit dieser Schießübung beschäftigte sich Harka einige Stunden. Dann ruhte er sich auf der Wiese neben seiner Grube aus und betrachtete die beiden Stangen des Hirschgeweihs. Sie waren noch nicht verwendet worden, Mattotaupa war sich wohl noch nicht schlüssig, was er daraus machen sollte.

Harka griff zum Speer, der eine Knochenspitze erhalten hatte, und übte sich im Werfen mit der neuen Waffe. Es gelang ihm gleich, sie so gut zu handhaben, wie er es mit des Vaters Speeren daheim gelernt hatte, und er warf mehr aus Vergnügen weiter als aus Notwendigkeit des Trainings. Nach jedem Wurf musste er sich die Waffe zurückholen, und so war er unaufhörlich in Bewegung. Schließlich bekam er Durst, trank oben an der Quelle, wo das Wasser am kältesten und frischsten schmeckte, und setzte sich dann wieder auf den Wiesenhang. Von neuem nahm er das Hirschgeweih zur Hand. Wenn der Vater zurückkehrte, wollte er ihm einen Vorschlag machen, wofür man es am zweckmäßigsten verwenden könne. Der Junge saß am Südhang neben der Grube, mit dem Gesicht zu dem über der Wiese ansteigenden Felsen, so dass ihm die Nachmittagssonne auf den Rücken schien.

Die Pferde waren zur Quelle hinaufgelaufen. Harka hörte sie auf einmal stampfen und wollte aufspringen, um über die Felsrippe hinwegschauen zu können und zu sehen, was die Pferde wieder unruhig machte. Aber in demselben Augenblick rauschte es über oder hinter ihm wie ein Sturm; er hatte ein solches Rauschen noch nie gehört. Er war beim Aufstehen noch halb in den Knien, als ein Gewicht auf seinen Nacken und seine Schulter herabsauste, das ihn wieder niederdrückte. Ein heftiger Schmerz an Schultern und Kopf ließ ihn begreifen, in welcher Gefahr er sich befand. Der Adler war auf ihn herabgestoßen, hatte sich an seinen Schultern eingekrallt und hackte mit seinem spitzen und starken Schnabel auf Harkas Kopf ein.

Mit der Kraft des Schreckens und der Todesangst warf sich der Knabe samt dem Raubvogel rücklings die Wiese hinab, so dass er sich mehrfach überschlug. Der Vogel hatte dabei losgelassen. Harka fiel in den kleinen Bach, der aufspritzte, und kroch wieder aus dem Wasser heraus.

Dabei sah er den Adler, der ihn mit vorgestellten geöffneten Fängen zum zweiten Mal anfliegen wollte. Der Knabe hatte die eine Stange des Hirschgeweihs bei seinem Sturz noch festgehalten, und diese streckte er jetzt als Waffe vor, um den Raubvogel abzuwehren. Das starke Tier, dessen Schwingen sich zwei Meter weit breiteten, wollte aber von der erhofften Beute noch nicht ablassen. Es umkreiste den Knaben, dem das Blut vom Kopf in die Augen floss, so dass er alles nur noch undeutlich erkennen konnte, und dem auch schwindlig war von den starken Schnabelhieben, die ihn auf den Kopf getroffen hatten. Harka wusste aber, dass es nur eins gab: sich verteidigen! Sonst war er verloren. So hielt er sich auf den Füßen und schwang die Hirschstange mit den sechs spitzen Enden kräftig um den Kopf, um sich zu schützen. Der Adler stieg wieder etwas höher, aber offenbar in der Absicht, einen neuen Angriff vorzubereiten. Harka wischte sich mit dem linken Arm das Blut vom Gesicht, das ihm die Augen immer noch verkleben wollte. Sein ganzer Kopf war blutverschmiert, und er taumelte den Wiesenhang ein Stück hinab. Diesen Augenblick benutzte der Adler, um zum zweiten Mal anzugreifen. Wieder hörte Harka das Rauschen des pfeilschnellen Sturzflugs in seinem Rücken. Er wandte sich um, hob die Hirschstange mit beiden Händen und schlug mit allen Kräften gegen den herabstoßenden Vogel. Auf irgendeine Weise musste dieser getroffen oder momentan abgeschreckt sein; Harka hatte den Eindruck, dass der Adler zurückwich. Er hob die Hirschstange wieder, bekam dabei aber das Übergewicht und stürzte, diesmal ohne es beabsichtigt zu haben, den Wiesenhang zum Bach hinunter. Der Adler nahm seinen Vorteil sofort wahr und stieß wieder herab. Harka kam nicht schnell genug auf, hielt dem Raubvogel aber noch die Stange mit den Spitzen entgegen, so dass dieser sich nicht geschickt einkrallen konnte.

Der Adler kam von der Seite heran und schlug die Fänge in Harkas Arm, um dann auf seine Schläfe einzuhacken. Harka drückte das Gesicht ins Gras, um wenigstens die Augen zu schützen. Er hatte keine Zeit darüber nachzudenken, ob er verloren sei, aber seine Widerstandskraft ließ nach, und er konnte nicht mehr klar denken. Er merkte aber, dass der Griff der Adlerklauen in seinem blutenden Arm schwächer wurde und dass irgend etwas vorging, was er nicht deutlich erkennen konnte. Es waren Geräusche um ihn, und etwas Schweres schlug ihn auf die Wade, so dass er neuen Schmerz empfand.

Er versuchte, sich zusammenzurollen, um seine Glieder zu schützen, und obgleich er nicht mehr aus den Augen schauen konnte und sein Gehirn nur noch unklar registrierte, was in die Ohren eindrang, begriff er auf einmal, was im Gange war. Einer der Mustangs war herbeigekommen und kämpfte mit dem Adler um den Jungen. Der Mustang schlug und biss um sich und versuchte dabei, auf den am Boden liegenden Knaben Rücksicht zu nehmen, aber das gelang ihm nicht immer.

Endlich war Ruhe.

Harka lag am Bachufer, vom Blutverlust erschöpft, von den Schnabelhieben auf den Kopf halb betäubt. Er rührte sich nicht mehr. Der Grauschimmel stand neben ihm und stieß ihn mit dem Maul. Auch der Fuchs kam jetzt herbei. Die Tiere drängten die Köpfe zusammen und stampften mit den Hinterhufen. Sie bemerkten sehr wohl, dass der Adler hoch oben in den Lüften noch immer seine Kreise zog. Ein paar seiner schön gezeichneten Schwanzfedern lagen im Gras. Der Grauschimmel hatte sie ihm ausgerissen.

Der Knabe merkte, dass ihm immer elender und kraftloser zumute wurde. Aber obgleich er am liebsten eingeschlafen wäre, um nichts mehr von sich selbst zu wissen, regte sich in ihm noch eine dumpfe Widerstandskraft des Lebensgefühls. Der Blutverlust machte ihm Durst, und der Durst begann ihn so zu quälen, dass er den Duft des Baches, der dicht an ihm vorbeifloss, zu atmen glaubte. Er kroch ein paar Handbreit weiter, bis er das Wasser mit dem Mund erreichen konnte, und trank lange und viel. Dadurch wurde ihm etwas besser. Er schob sich wieder zurück. Als er nach seinem schmerzenden Kopf fasste, war seine Hand sofort nass von Blut. Er vermochte zu denken, dass er das Blut stillen müsse. In der Grube lagen noch Baststreifen, die übrig geblieben waren. Aber wie sollte er dorthin gelangen; die kleine Strecke schien ihm jetzt unendlich weit. Er tauchte aber die Hand in das Wasser und wischte sich die verklebten Augen. Als er das grüne Gras und die Sonnenstrahlen wieder sah, die sich in dem klaren Bach spiegelten, bekam er neuen Mut. Auf allen vieren kroch er langsam über den Bach und die Wiese am Südhang aufwärts bis zu der Grube. Das war ihm schwerer gefallen, als es ihm sonst fiel, stundenlang bergaufwärts zu laufen. Er musste sich erst ausruhen, bis er fähig war, in die Grube hineinzuklettern und nach den Bastbinden zu greifen. Er suchte an seinem Kopf die stark blutenden Stellen und band sie mit den Streifen zu. Dann schlug er die Büffelhautdecke als Schutz gegen den Raubvogel um sich und ruhte wieder in halber Ohnmacht.

Wie im Traum kam ihm schließlich der Gedanke, dass ein Speer die beste Verteidigungswaffe sein würde. Der Speer war viel länger als die Stange des Hirschgeweihs; alle wilden Tiere fürchteten Speere.

Vielleicht griff der Adler aber auch nicht mehr an.

Harka lag lange in seine Decke eingewickelt in der Grube; wie lange, wusste er selbst nicht, aber endlich bekam er wieder starken Durst. Er schlug die Decke ein wenig auf und versuchte, sich zu orientieren. Die Sonne schien über den glitzernden Wasserfall ins Tal hinein, von Osten her, also war es Morgen, und er hatte die ganze Nacht in der Grube gelegen. Er musste geschlafen haben, oder vielleicht war er ohnmächtig gewesen.

Über dem Tal kreiste wieder der Adler. Harka hatte jetzt Angst vor ihm, aber er beneidete auch die Pferde, die beim Bach standen und soffen, dass ihnen das Maul triefte.

Der Junge holte sich seinen Speer heran, und auf diesen gestützt ging er torkelnd die Wiese hinab zum Wasser. Er wagte es nicht, sich zum Trinken hinzulegen, weil er fürchtete, der Adler könne wieder herabstoßen und ihn noch einmal im Rücken packen. Er kniete daher nieder, und während er sich mit der einen Hand am aufgestellten Speer hielt, schöpfte er mit der anderen Wasser und löschte seinen Durst. Da er wieder großen Durst hatte, dauerte das lange. Unentwegt behielt der Knabe den Raubvogel im Auge. Der Adler zog sehr hoch hinauf in die Lüfte, aber plötzlich erklang wieder dieses pfeifende Rauschen.

Harka taumelte in die Bachrinne, kniete auf dem Grund, duckte sich so tief wie möglich und packte den Speer mit beiden Händen. Er wollte ihn nicht werfen, er wollte stoßen. Diese Vorbereitung seiner Gegenwehr dauerte nicht länger als zwei Sekunden. Der Raubvogel kam herab. Harka sah die mächtigen Schwingen, die Krallen, den gefährlichen krummen Schnabel. Der Vogel bremste und flatterte. Er hatte Angst vor dem Speer. Harka bewegte die Waffe in kurzen leeren Stößen.

 

Der Grauschimmel und der Fuchs galoppierten umher und schlugen aus, dahin und dorthin. Einen wilden Tanz führten die Pferde aus, als ob sie den Verstand verloren hätten. Sie wussten aber instinktiv, dass es richtig war, sich so zu verhalten.

Endlich gab der Adler seinen Angriff auf. Mit großen, lauten Flügelschlägen stieg er wieder in die Höhe, um hoch oben den Blicken Harkas zu entschwinden. Wie leicht wäre es gewesen, ihn bei seinem Angriff mit einem Pfeil zu erlegen. Aber Harka hatte sich in seinem geschwächten Zustand, mit dem Schwindelgefühl im Kopf und dem unsicher gewordenen Blick nicht auf Pfeil und Bogen verlassen wollen.

Er trank nochmals und kroch mit viel Mühe wieder hinauf in die Grube, wo er sich in die Decke wickeln konnte. Eine Büffelhaut konnte auch ein Adler kaum durchkrallen oder durchhacken. Der Knabe griff sich einen der Hirschfleischstreifen, die zum Trocknen bestimmt waren, und kaute daran. Dann verließ ihn wieder die Besinnung.

In diesem Zustand fand ihn der Vater, als er bei beginnender Nacht mit seiner Jagdbeute heimkehrte. Er warf ins Gras, was er mitgebracht hatte – ein Reh und zwei Waschbären –, und kümmerte sich voller Sorge um das schwerverletzte Kind.

Es dauerte fünf Tage, bis Harka imstande war zu erzählen, was sich ereignet hatte. Der Vater war in diesen Tagen und Nächten und auch in den folgenden ständig bei ihm. Zu essen gab es aus der Beute mehr als genug, und auch an Arbeit fehlte es nicht, da Häute und Knochen der erlegten Tiere bearbeitet werden konnten und auch das Gehörn des Rehs, aus dem Mattotaupa weitere Pfeilspitzen und einen Dolch herstellte. Einen Teil der abgeschabten und getrockneten Häute schnitt Mattotaupa in Streifen und flocht ein Lasso daraus. Das ungegerbte Leder war steif, aber doch verwendbar.

Sobald es Harka wieder besser ging, fühlte er sich mit dem Vater zusammen sehr glücklich. Das Bewusstsein, eine große Gefahr überstanden zu haben, setzte sich bei ihm in Fröhlichkeit um, und er fühlte sich bei dem Vater sicher geborgen. Hin und wieder ließ sich der Adler noch hoch oben in den Lüften blicken.

»Als ich auf Jagd unterwegs war«, sagte Mattotaupa, »habe ich beobachtet, wo er seinen Horst hat. Er ist zu frech. Wir müssen ihn erlegen, wenn wir Ruhe haben wollen. Aber es eilt nicht. Werde du erst wieder gesund und kräftig.«

Die Aussicht auf die Adlerjagd trug viel dazu bei, dass Harka sich verhältnismäßig schnell erholte, nachdem er die ersten schweren Tage überstanden hatte. Aber Mattotaupa wartete geduldig, bis Harkas Wunden vernarbt waren und er seine volle Leistungsfähigkeit wiedergefunden hatte.

Dann erst begann er die Adlerjagd vorzubereiten.

»Es gibt verschiedene Wege, diesen Adler zu erbeuten«, sagte er eines Abends zu dem Jungen. »Du könntest mit deinem Mazzawaken nach dem Raubvogel schießen. Aber damit vertust du eines deiner wenigen Geschosse, ohne dass es unbedingt nötig ist. Wir können auch nicht wissen, ob du auf eine so große Entfernung hin triffst, denn du bist nicht an die Waffe gewöhnt. Du hast sie nur eben zu gebrauchen gelernt. Endlich aber ist das Krachen eines Schusses weithin zu hören. Es scheinen bis jetzt keine Menschen in unsere Nähe gekommen zu sein, weder Feinde noch Brüder. Wir haben kein Feuer gemacht, niemand kann Rauch riechen und uns dadurch entdecken. Niemand wird uns finden, der nicht zufällig in unsere Nähe kommt und Spuren sieht.«

»Wie wollen wir den Adler jagen, Vater?«

»Wenn er tiefer herabkäme, könnte ich von hier aus mit dem Pfeil nach ihm schießen. Aber er hält sich jetzt immer sehr hoch. Ich bin dafür, dass wir seinen Horst beschleichen und ihn töten, wenn er im Horst sitzt, von dort auffliegt oder dorthin zurückkehrt.«

»Du hast den Horst schon entdeckt, sagst du. Wo ist er? Können wir nahe herankommen?«

»Nein, wir können nicht ganz nahe herankommen, fürchte ich. Dieser Adler hat seinen Horst nicht auf einem Baum, sondern auf einer vorspringenden Felsplatte, die schwer zu erreichen ist. Ich schlage vor, dass wir Lasso und Bogen und Pfeil mitnehmen, außerdem den Speer.«

»Und mein Mazzawaken.«

»Das ist deine Sache.«

»Wann brechen wir auf, Vater?«

»Morgen früh. Wir wollen unsere Pferde mitnehmen, denn wir können ein großes Stück Weges reiten und dadurch Zeit sparen.«

Harka war einverstanden. Nach des Vaters Anweisung packte er Proviant für fünf Tage zusammen. Die beiden wollten sich unterwegs nicht aufhalten, sondern das Essen zur Hand haben.

Als der Morgen graute, holten sich die Indianer ihre Pferde, bepackten sie mit Decken und Proviant und führten sie den Felspfad entlang, bis die schwierigsten Stellen überwunden waren. Dann stiegen sie auf und freuten sich, in den Morgen hineinzureiten. Auch die Pferde waren froh, wieder einmal ungehindert große Strecken laufen zu können. Sie hatten ausgeruht; an dem kräftigen Berggras hatten sie sich ganz sattgefressen, und so waren sie voller Unternehmungslust. Mattotaupa führte, durch Täler, über Hänge, durch Wälder, über Geröll. Auch Harka freute sich, wieder einmal reiten zu können und etwas anderes zu sehen als das kleine Tal hoch oben, das eine Zuflucht war, aber auch wie ein Gefängnis auf die Stimmung wirken konnte.

Gegen Abend erreichten die beiden Reiter eine Höhe, von der aus Mattotaupa bei seinem Jagdzug den Adlerhorst entdeckt hatte. Mattotaupa und Harka saßen ab, banden die Mustangs mit Hilfe des Lassos an einen Baum an und stiegen zu dem felsigen Gipfel hinauf, der einen guten Rundblick versprach. Als sie nach einer Stunde oben ankamen, dämmerte es schon, und die Gebirgswelt bot sich den Augen im köstlichen und vielfältigen Schimmer der scheidenden Sonne. Harka schaute rundumher, und seine Augen fanden rasch den Horst, ohne dass der Vater ihn ihm zu zeigen brauchte.

Der Raubvogel hatte sich eine von unten her sehr schwer zugängliche vorspringende Felsplatte als Ruheplatz gewählt. Der Berg, an dem sich der Horst befand, war nicht besonders hoch, nicht einmal so hoch wie der Gipfel, auf dem die beiden Indianer jetzt standen. Aber er war stark zerklüftet, und an einem seiner Felstürme sprang nach Osten zu die Platte vor, die sich der Raubvogel für seinen Horst erkoren hatte. Starke Zweige, dick wie kleine Stämme, hatte er dort zusammengetragen. Die Platte ließ sich sehr bequem anfliegen. Der Adler befand sich jetzt nicht in seinem Nest.

Die beiden Indianer spähten und warteten, bis es ganz dunkel geworden war. Aber der Vogel kam an diesem Abend nicht zurück. Des Nachts flogen Adler nicht. Mattotaupa und Harka stiegen daher von dem Gipfel wieder ab zu ihren Pferden, um bei diesen die Nacht im Wald zu verbringen.

Lange vor Morgengrauen machten sie sich abermals zum Gipfel auf. Als sie oben ankamen, war es noch finster. Der Gipfelwind wehte kalt; er wurde noch schärfer und kälter, als die Dämmerung begann und im lichten Grau des Himmels nur noch der Morgenstern und die Sichel des abnehmenden Mondes leuchteten. Endlich stieg die Sonne über den Horizont. Harka, der diesen Augenblick des beginnenden Tages schon tausend Male wach erlebt hatte, freute sich immer wieder daran, so wie die sich öffnenden Blüten und Blätter, wie die aufsummenden Insekten, wie das Wild, das sich im Licht weniger vor dem schleichenden Raubzeug zu fürchten hatte.

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