Der Weg in die Verbannung

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Die Luft ging ihm aus. Wasser drang ihm in Nase und Mund. Er begann Wasser zu schlucken. Die Besinnung verließ ihn, und er wusste nicht mehr, was mit ihm geschah.

Als er wieder zu sich kam, spürte er zunächst nur Schmerzen. Seine Sinne, mit Ausnahme des Schmerzempfindens, funktionierten noch nicht. Er sah nichts, er hörte nichts, er schmeckte nichts, aber es tat ihm alles weh. Es dauerte sogar geraume Weile, bis er sich wieder bewusst wurde, der Rote Jim zu sein.

Der Rote Jim!

Als ihm dieses Bewusstsein seiner selbst von neuem dämmerte, konnte er den zweiten Gedanken fassen, dass ihm irgendein Unglück geschehen war. Irgendein Unglück ...

Er versuchte, sich zu rühren. Die Finger konnte er bewegen, und er spürte jetzt, dass sie nass waren. Die Augen musste er aufmachen. Er war ein Waldläufer und Präriejäger, und er musste die Augen aufmachen, jawohl. Mühsam zog er die Lider hoch. Sein Schädel brummte und schmerzte abscheulich.

Um ihn war es dunkel. Es rauschte um ihn. Entweder rauschte es ihm in den Ohren, oder ...

… oder Wasser rauschte.

Wasser!

Mit einem Schlage wurde dem Roten Jim wieder klar, was geschehen war. Sobald er das Wort »Wasser« denken konnte, war es, als ob überhaupt ein Schleier, der über seinem Gedächtnis gelegen hatte, weggezogen worden sei.

Wo befand er sich jetzt? Das musste er zunächst feststellen.

Aber nicht nur der Schädel, auch Schulter, Rücken, Kreuz, Arme und Beine schmerzten ihn heftig. Vorsichtig versuchte er ein Glied nach dem anderen zu rühren und den Kopf zu drehen.

Es schien, dass er keinen Knochen gebrochen hatte. Beulen hatte er davongetragen, Prellungen. Was hieß das schon! Damit konnte er leicht fertig werden.

Aber wo befand er sich?

Seine immer noch schlecht funktionierenden Augen nahmen einen vagen Lichtschimmer wahr. Oder hatte er Halluzinationen? Sein Schädel und sein Gehirn schienen mehr abbekommen zu haben, als er beim Erwachen geglaubt hatte. Vielleicht hatte er eine Gehirnerschütterung.

Schlecht war ihm jedenfalls. Er erbrach sich, und dabei wurde ihm schwindelig, und er fiel wieder in Ohnmacht.

Bei seinem neuen Erwachen fühlte er weniger Schmerzen, aber es war ihm sehr schwach zumute, jämmerlich schwach. Am liebsten wäre er liegen geblieben, um vollends zu sterben, obgleich ihm bewusst war, dass er der Rote Jim sei und dass mindestens er selbst bedauern müsse zu sterben, wenn ihm auch kein anderer nachjammern konnte.

Die anderen Menschen wurden eine Plage los, wenn der Rote Jim krepierte.

Diese Vorstellung ärgerte den Mann. Die anderen sollten ihn keineswegs loswerden. Sie sollten sich nicht freuen können, dass er nicht mehr da war und dass sie nicht mehr mit ihm zu rechnen brauchten.

Er gab sich selbst einen Ruck; Durst und Hunger hatte er, und er fror. Das Rauschen war nicht mehr in seinem Kopf. Es rauschte über ihm oder neben ihm oder unter ihm.

Wasser rauschte, ja, Wasser, das hatte er doch schon einmal festgestellt! Es war Zeit, dass er sich danach umsah. Er wälzte sich vom Rücken auf den Bauch, rutschte dabei ein Stück zur Seite, weil der rauhe Boden abschüssig war, und tastete mit der rechten Hand ins Wasser.

Gierig trank er.

Dann kroch er wieder zur Seite.

Was das wohl mit dem Lichtschimmer auf sich hatte? Der Schimmerschien keine Selbsttäuschung zu sein, sondern wirklich zu existieren.

Roter Jim starrte nach der matten Andeutung von Tageshelligkeit. Wie von einem Zauber, dem er noch nicht ganz traute, angezogen, kroch er auf dem rauhen Fels neben dem fließenden Wasser zu dem Schimmer hin.

Plötzlich traf ihn etwas Hartes an der Schulter. Er stockte erschreckt und bemerkte gleichzeitig, dass es um ihn herum polterte wie von einem Steinschlag. Verdammt. Er zog den Kopf ein, und er hatte Glück. Es traf ihn kein zweiter Stein.

Fluchen konnte er wieder. So weit war er schon bei sich.

Ängstlich und langsam kroch er weiter, immer in Richtung des Lichtschimmers. Je näher er diesem kam, desto deutlicher wurde die Helligkeit. Da musste es hinausgehen aus dem Berg. Hinaus! Was für ein Glück!

Der Teufel oder die Geister oder sein Stern oder der Berg oder was es überhaupt sein mochte, wovon sein Schicksal abhing, irgend etwas hatte ihm wohlgewollt. Ihm, dem Roten Jim!

Nein, die Welt sollte ihn noch nicht loswerden. Das hatte noch Zeit, und er hatte noch einiges vor.

Nachdem er fünf Meter weitergekrochen war, wurde ihm seine Situation vollständig klar. Er befand sich in einer Höhlung des Berges, aus der der unterirdische Bach ins Freie drang.

Schon wieder hagelte es Steine, die das Wasser aus dem Berginnern mit sich gerissen hatte. Red Jim hatte rechtzeitig die Hände schützend hinter Kopf und Nacken gelegt, so dass ihm von einem dicken Steinbrocken nur zwei Finger angeschlagen wurden.

Gemütlich war das hier nicht. Er musste sehen, wie er hinausgelangen konnte.

Die Öffnung, durch die der unterirdische Bach ins Freie floss, war eng, aber doch nicht so eng wie jener Höhlenarm oben an der Stelle, an der Red Jim mit dem Vorwärtskommen gescheitert war. Wenn er sich mit Gewalt durchzwängte, o ja, wenn er sich mit Gewalt durchzwängte, Kopf, Schultern, Hüften ...

Verflucht, schon wieder ein Steinhagel! Aber diesmal traf es nur die Beine. Unangenehm genug war es.

Der Mann, der mit Kopf und Oberkörper schon im Freien lag und die Beine jetzt nachzog, erkannte, dass es Abend war. Irgendein Abend! Wie konnte er wissen, ob er ein, zwei oder drei oder vielleicht sogar vier Tage im Innern des Berges verbracht hatte.

Der Himmel flammte in Rot und Gold. Die Bäume schimmerten noch in den Strahlen der untergehenden Sonne, die mit ihren letzten Ausläufern bis zu Quelle und Bach heranspielten.

Mechanisch, aus Gewohnheit, schaute Red Jim nach Spuren aus. Aber er konnte keine Fährten entdecken, mit Ausnahme einiger Wildspuren, die für ihn keine Gefahr bedeuteten.

Noch einmal trank er, dann kroch er vorsichtig, sich immer auf einem Geröllstreifen haltend, zwischen das Gebüsch und ließ sich da nieder. Zum ersten Mal fand er Zeit, sich selbst zu betrachten. Wie ein Totengerippe sah er aus, mager, abgefallen. Die Hauptsache aber war, dass er trotzdem lebte.

Er suchte nach seinem Beutel mit Trockenfleisch, fand ihn, wenn er auch nicht mehr trocken, sondern nass war, und nahm etwas von der breiig gewordenen Masse zu sich. Das tat ihm wohl. Dann schlief er ein. Er musste Kräfte sammeln, ehe er wieder etwas unternehmen konnte.

Mit dem Morgengrauen wurde er wach. Nass, wie er immer noch war, fror er erbärmlich und sehnte sich nach der Wärme der aufgehenden Sonne. Er aß wieder ein wenig Trockenfleisch, fing eine Eidechse, die sich hervorgewagt hatte, verzehrte sie und betrachtete dabei die Quelle. Die herumliegenden Steine, zum Teil von bizarren Formen, bewiesen, dass der Steinhagel von Zeit zu Zeit auch aus dem Berg herausdrang. Eine nicht ganz eingestandene Hoffnung bewegte den Mann, als er die Steine einzeln musterte.

Zu seinem Bedauern war kein Goldkorn darunter.

Fürs Erste wollte er den Bach einen Bach und die verfluchte Höhle eine Höhle sein lassen und sich um sein Versteck im Windbruch und um die dort befindliche Büchse und die Vorräte kümmern. Hoffentlich hatten sich nicht schon irgendwelche Spürnasen dort eingefunden.

Auch sein weiterer Plan war dem Roten Jim mit Sonnenaufgang schon klar. Er würde nicht ein drittes Mal versuchen, in den Höhlenarm einzudringen, der sich für ihn als unzugänglich erwiesen hatte. Vielleicht hätte ein solcher Versuch Aussicht auf Gelingen gehabt, wenn er sich Werkzeug und ein oder zwei Kumpane zur Hilfe herangeholt hätte. Aber eben das Letztere wollte er nicht. Er beschloss, sich in sein Versteck zu begeben und von dort aus den Berg ringsumher zu untersuchen, ob nicht noch ein anderer Zugang zu der »verdammten Höhle« zu finden war. Er wollte sich Zeit lassen und sein Unternehmen allein durchführen. Denn wenn er Gold fand, sollte es auch ihm allein gehören.

Der Rote Jim schlich mit wankenden Knien durch den Wald, sehr bedächtig, sehr langsam, sehr vorsichtig. Auch jetzt löschte er die geringste Spur, die er etwa verursacht hatte, sofort aus.

Als er wieder zu dem Windbruch gelangte und die Lichtung mit den gestürzten Stämmen in der hellen Nachmittagssonne, in warmer, flimmernder Luft, liegen sah, atmete er tief auf. Er machte eine kurze Rast, überzeugte sich, dass auch hier nirgends die Spur eines Menschen zu entdecken war, und kletterte und kroch dann zwischen Stämmen, Zweigen, Wurzelwerk und Gesträuch zu seinem alten Versteck. Es war völlig unberührt.

Gut so, gut.

The Red legte sich hin und schlief nach einer kärglichen Mahlzeit vom Nachmittag bis zum Morgen des nächsten Tages. Als er wach wurde, fühlte er sich wesentlich erfrischt.

Er kletterte auf den hohen Baum neben der natürlichen Laube und hielt von dem höchsten der Äste, den er erklettern konnte, ohne dass er schwankte, wieder Ausschau über Lichtung, Wald und die ferne Prärie.

Menschenleer schien alles, ruhig, einsam.

Der Rote Jim wollte den Tag nutzen. Er goss den Wassersack aus, den er leicht neu füllen konnte, nahm diesen und den Sack mit Trockenfleisch, auch Büchse und Munition mit sich und tilgte alle Spuren seines Lagers, was ihn erhebliche Zeit kostete.

Als es endlich so weit war, dass auch er selbst keine Spur mehr von sich fand, schlich er aus seinem Versteck und dem Windbruch hinaus und hinauf in den Wald.

Sein erstes Ziel war hoch oben der versteckt liegende Ausgang eines Höhlenarmes, in dem er im Frühling dem zahnlosen Ben überraschend begegnet war. Miteinander waren sie nach ihrem Zusammentreffen aus der Öffnung herausgestiegen, die sich zwischen Moos und Wurzeln jedem nicht sehr aufmerksamen Auge verbarg. Ihre Unterhaltung war nicht gerade freundschaftlich verlaufen, denn der Rote Jim liebte es nicht, wenn sich ein anderer in seinem Revier herumtrieb, aber letzten Endes hatte er Ben doch nicht umgebracht. Aus den Beschreibungen des Zahnlosen wusste er, dass der Höhlenarm, an dessen Eingang Jim jetzt stand, zu dem unterirdischen Wasserfall führte, der im Frühjahr Ben und vor wenigen Tagen Jim mit sich gerissen hatte. Hier einzusteigen war zwecklos. Auch ein zweiter Arm der Höhle, der nicht weit entfernt im Wald mündete, war für Jim nutzlos, da er sich nach Bens Aussage im Innern des Berges mit dem ersten vereinigte und somit auch auf halbe Höhe des gefährlichen Wasserfalls führte.

 

Auf diesem Weg war nicht weiterzukommen. Aber wenn es zwei Seitenarme dieser verdammten und gottverlassenen Höhle gab, warum nicht auch drei oder vier? Der Rote Jim machte sich auf die Suche und streifte durch den Wald. Seine Perücke hatte er wieder aufgesetzt.

Bis zum Abend hatte er nichts gefunden, was seiner Aufmerksamkeit wert gewesen wäre. Die monatealten Spuren des indianischen Zeltdorfes, das am Südhang auf einer Lichtung gestanden hatte, interessierten ihn nicht. Er wusste, wohin der Trupp der Oglala, der hier den Winter verbracht hatte, im Frühling gezogen war. Südwärts zum Pferdebach war diese Jagdabteilung gewandert, die sich die »Bärenbande« nannte. Das war in jenen Tagen gewesen, als der Rote Jim mit Ben überraschend in der Höhle zusammentraf. Von diesem Indianertrupp befürchtete The Red nichts. Er glaubte nicht, dass die Bärenbande mitten im Sommer, mitten in der Hoffnung auf die bevorstehenden großen Herbstjagden auf Büffel, ihr jetziges Standquartier am Pferdebach mit Weibern und Kindern verlassen würde. Aber es war möglich, dass andere Stammesabteilungen in die Gegend kamen, in der sich The Red umhertrieb. Die Black Hills waren altes Jagdgebiet der Dakota, und jeder Weiße musste sich hier in Acht nehmen.

Jim übte auch weiterhin bei jedem Schritt die größte Vorsicht. Als die Sonne sank, kletterte er auf einen hohen Baum, nicht weit entfernt von dem früheren indianischen Zeltplatz, und überschaute wieder den Wald und die Prärie, die er mehr und mehr als sein Reich betrachtete.

So vergingen dieser Tag und die folgenden Tage. Red Jim lebte verborgen und suchte, was er nicht fand. Er jagte nicht, sondern nährte sich nur von seinem Vorrat und von Getier, das er greifen konnte, ohne Spuren zu verursachen. Dazu gehörten auch Fische aus dem Bach, der im Innern des Berges entsprang und dann den Waldhang auf der Südwestseite hinabsprudelte. Es waren schon viele Wochen vergangen, als der Mann wieder einmal am Ufer dieses Baches eine Regenbogenforelle roh gefrühstückt hatte.

Dieses Frühstück sättigte ihn und gab ihm vom Magen her ein Gefühl des Befriedigtseins, das er schon lange nicht mehr empfunden hatte. Im Gegenteil, manchmal beschlich ihn eine dumpfe Angst, dass er bei seiner vergeblichen Suche noch verrückt werden müsse. Jeden Tag von früh bis spät auf jeden Tritt und Handgriff aufmerken; jeden Tag von früh bis spät das Gleiche denken: Gold – Höhle – Wasser – Indianer; jeden Morgen mit neuer Hoffnung beginnen und jeden Abend mit wachsender Enttäuschung eine Etappe der Suche abschließen; ein solches Leben konnte auf die Dauer auch einen Starken mürbe machen.

The Red musste sich einmal eine Stunde Ruhe gönnen und genau nachdenken. Er hatte nach dem guten Frühstück die Empfindung, dass ihn eine Ruhepause und ein paar wohlabgewogene Gedanken vielleicht weiterbringen würden als eine erneute wochenlange nervöse Suche. So schlich er sich bachabwärts zu dem Fluss, der sich wie ein Band um den Fuß des Bergstocks zog. Auf dem Geröll, das sich an den Ufern streckenweise angesammelt hatte, konnte er sich leicht fortbewegen, ohne Spuren zu verursachen, und er genoss diese relative Freiheit.

Schön war der Tag.

Er setzte sich hin und blinzelte gegen die Sonnenstrahlen, die durch die Bäume spielten. Dabei begann er nachzudenken.

Der zahnlose Ben hatte im Frühjahr von irgendwoher eine Nachricht gehabt, dass es in den Höhlengängen an dieser Bergseite Gold gäbe. Woher die Nachricht kam, hatte er nicht gestanden. The Red war im Frühling auf gut Glück und weil er gehört hatte, dass es hier verzweigte Höhlengänge gab, einmal in die Gegend gekommen. Die vagen Gerüchte, dass man in den Black Hills Gold finden könne, hatten ihn hergetrieben. Aber weder Ben noch Jim hatten bei ihrer Suche im Frühjahr Erfolg gehabt, und Jim hatte den Zahnlosen energisch und endgültig aus diesem Revier vertrieben. Als Jim sich dann bei den Baracken und Lagern der Bauarbeiter und Jäger an der geplanten Strecke der neuen Pacificbahn sehen ließ, schwirrten dort neue Gerüchte über Goldvorkommen in den Black Hills umher. Eine Dakotaabteilung, die Bärenbande, sollte darüber Näheres wissen. Ein Goldkorn von erstaunlicher Größe befand sich angeblich im Besitz dieser Indianer, die in den Augen des Roten Jim unwissend und nichtsnutzig und nur zur Plage der weißen Waldläufer und Präriejäger erfunden waren. Jim hatte sich auf den Weg zu der Bärenbande gemacht, den Häuptling mit allerhand Schlichen zu einem Becher Brandy überredet und bei dieser Gelegenheit Wortfetzen und Andeutungen zu hören bekommen, mit denen, wie sich zeigte, nicht viel anzufangen war. Vielleicht hatte der angetrunkene Rote auch noch Verstand genug gehabt, um Jim absichtlich zu belügen. Diese Befürchtung kehrte in dem misstrauischen Mann immer wieder. Wer kannte einen Indianer ganz? Jedenfalls klappte die Angelegenheit nicht so, wie Jim gerechnet hatte. Er sagte auf seinen vollen Magen und an seinem sonnigen Platz ohne Hast und wie zur Erholung alle Flüche auf, die er in seinem Räuberleben gelernt hatte, und dachte dann wieder nach.

Was sollte er jetzt unternehmen? Entweder er musste weitersuchen, und das schien ihm nicht vielversprechend, oder er musste sich noch einmal an die Bärenbande, besonders an ihren Häuptling, heranmachen, der auf alle Fälle etwas zu wissen schien. Vielleicht hätte er nicht so schnell aus dem Zelt dieses Mannes verschwinden sollen, als er die Andeutungen gehört hatte. Aber sie schienen ihm damals fürs Erste zu genügen – was sich leider als ein Irrtum herausgestellt hatte –, und außerdem war Jim von dem Argwohn geplagt worden, dass Lauscher um das Zelt schlichen und ihm an den Kragen gehen würden, sobald er wirklich etwas erfahren hatte. Darum war er so schnell wie möglich, mitten in der Nacht, aus den Zelten der Bärenbande ausgerückt.

Man sollte eben nie so voreilig und auf bloße Befürchtungen und Kombinationen hin reagieren. Nun saß er da wie ein dummer und erfolgloser Kerl.

Dabei konnte es nicht bleiben! Er musste etwas unternehmen, um seinen Fehler zu korrigieren. Ein Goldkorn so groß wie eine Haselnuss sollte sich bei der Bärenbande befinden. Verflucht und zugenäht! Und er, der Rote Jim, lief hier herum, ohne die Fährte zu den Goldvorkommen zu haben.

Während der Mann so dasaß und nachdachte, mit sich selbst unzufrieden und über die Zufälle, die ihm nicht günstig waren, verärgert, heftete sich sein Blick unwillkürlich auf eine sandige Stelle im Fluss, die ihm gefiel. Er hätte dort gern gebadet, aber das erschien ihm zu gefährlich. Beim Baden wurde man wehrlos. Die Büchse musste man ablegen, die Munition – nein, er wollte auf dieses Vergnügen verzichten. Aber die sandige Stelle gefiel ihm. In vielen Farben schillerte das zerriebene Gestein unter dem klar dahinfließenden Wasser. An solchen Stellen pflegte man am Sacramento in Kalifornien den Sand zu sieben, um die Goldkörnchen auszuscheiden.

Red Jim erhob sich und ging vorsichtig über das Geröll, bis zu der sandigen Stelle hin. Er kämpfte mit sich, aber dann gab er sich selbst nach, bückte sich und ließ Sand durch seine Finger rieseln. Er wollte sich nicht eingestehen, dass sein Herz in heftigen Stößen klopfte und das Blut durch die Pulse jagte. Seine Schläfenader war angeschwollen. Leise rieselte der Sand durch seine Finger. Sein Blick war stechend darauf gerichtet, wie eine Lanzenspitze, die das Ziel sucht.

Ah!

Red Jim setzte sich auf den rundgewaschenen Felsblock, in dessen Schutz der Sand angeschwemmt war. Er blickte in seine Hand, die er ein wenig zusammengebogen hatte, wie ein Mensch, der mit der Hand Wasser zum Trinken schöpfen will. Zwischen zwei Fingern hatte sich ein winziges Goldkorn festgeklemmt. Ein winziges Sandkorn, ein Staubkorn aus purem Gold! Der Mann starrte unentwegt darauf. Er wusste selbst nicht, wie lange er so saß, unbeweglich, von seinem Fund festgehalten wie ein Stück Eisen von einem Magneten.

Endlich ließ er das Körnchen in seine Brusttasche fallen. Gold! Es stand damit fest, dass sich auch auf dieser Seite des Bergstocks Gold finden ließ, nicht nur auf der Nordseite, von der schon so viel gemunkelt wurde. Er, der Rote Jim, hatte den Anfang zu seinem neuen Leben gefunden. Die Phantasiebilder gaukelten vor seinem inneren Auge; er schloss die Lider, um sie ganz zu genießen.

Da drang irgend etwas an sein Ohr, was ihn störte. Er war sofort ganz wach, horchte und öffnete die Augen.

Was er gehört hatte, wurde ihm nachträglich klar. Ein Pferd hatte auf der Prärie gewiehert. Es konnte sich um wilde Pferde handeln oder um gezähmte, um indianische Reiter oder um Weiße. Wenn Jim jetzt noch von Glück sprechen wollte, dann nur von dem, dass er Büchse und Proviant bei sich trug und sein Versteck geräumt hatte. Er war voll beweglich, ganz unabhängig.

Soweit es die äußerste Vorsicht erlaubte, schlich er sich vom Fluss weg und durch den Wald zu einem Baum, der sich leicht erklettern ließ und gute Aussicht versprach. Gewandt turnte er hinauf und verbarg sich, während er durch das Laub hindurch auf die Prärie spähte.

Himmel, Hölle, Donner und Teufel! Verdammt alles ...

Er erkannte nördlich in der Ferne eine Indianerschar. Noch waren Reiter und Pferde in der Perspektive klein wie Ameisen, aber er vermochte sie jetzt zu zählen und bis zu einem gewissen Grad zu unterscheiden. Vierzig Krieger zu Pferd waren es, außerdem etwa sechzig Frauen und Kinder, alle ebenfalls beritten. Nach einigen Minuten erkannte er bereits, dass unter den Männern fünf die Adlerfederkronen trugen. Das waren ungewöhnlich viele ausgezeichnete Krieger und Häuptlinge in der kleinen Schar. Es musste sich um Dakota handeln.

Wohin strebten sie?

The Red behielt sie im Auge. Wenn seine Blicke hätten vernichten können, wären die Indianer alle vom Erdboden verschlungen worden. Aber der Hass des Goldsuchers war machtlos. Von der Reiterschar, die Jim beobachtete, lösten sich vier Punkte. Vier Reiter waren abgestiegen und verschwanden für den Beobachter im Gras. Er zweifelte nicht, dass es sich um Kundschafter handelte, die den Wald durchspähen sollten, ehe die Wandergruppe ihn betrat.

Nun viel Vergnügen, ihr Kundschafter, strengt eure Augen und Ohren nur an. Euren Feind mit dem Namen The Red findet ihr nicht! So dachte der Mann und blieb unbeweglich.

Nach einiger Zeit entdeckte er von seinem verborgenen Sitz aus einen jungen Indianer mit Scheitel und Zöpfen, der am Ufer des Flusses entlangschlich. Der Bursche hatte die für die Dakota charakteristische elastische Steinkeule zur Hand. Sein Gesicht war nicht bemalt. Er befand sich also nicht auf dem Kriegspfad, sondern hatte von seinem Anführer nur den Auftrag für den üblichen Spähdienst als Vorsichtsmaßnahme in aufgeregten Zeiten erhalten.

Der junge Kundschafter verschwand flussabwärts.

Die Indianerschar draußen auf der Prärie hatte ihr Tempo verlangsamt, war dem Wald und den Bergen aber stetig näher gekommen. Jim konnte nicht bemerken, ob die Kundschafter schon zu dem Trupp zurückgekehrt waren oder nicht. Er schloss aber aus dem Verhalten der Schar, dass sie beruhigende Nachricht erhalten hatte. Sie beschleunigte ihr Tempo wieder und bog schließlich in den Wald ein. Wahrscheinlich strebte sie der Lichtung zu, auf der im Frühling die Bärenbande gerastet hatte. In dem Augenblick, in dem die Reiter zum Wald eingebogen waren, hatte Jim den Indianer an der Spitze der Schar erkannt. Dieser Mann mit der Adlerfederkrone war Sitting Bull oder Tatanka-yotanka, wie ihn die Dakota nannten. Das hatte noch gefehlt! Ebendieser hatte noch gefehlt, um das Missgeschick des Roten Jim vollständig zu machen.

Jim blieb auf dem Baum hocken. Als er die Indianer nicht mehr sehen konnte, lauschte er auf jedes Geräusch. Die knackenden Tritte der Pferde auf dem Waldboden waren in der stillen Wildnis weithin vernehmbar. Als sie verstummt waren, sah Jim bald die dünnen Rauchsäulen aus den Zelten über die Baumwipfel aufsteigen. Die Schar hatte sich, wie er schon vermutete, auf derselben Lichtung niedergelassen, auf der im Frühjahr die Bärenbande gelagert hatte.

 

Solange sich Dakota überhaupt, und zudem noch einer ihrer hervorragendsten Führer, in solcher Nähe der Höhle aufhielten, musste der Rote Jim verschwinden.

Weg musste er, weg, und das an dem Tag, an dem er den Goldstaub entdeckt hatte.

Vermaledeite, dreckige, unnütze und widerwärtige Indianer!

Er würde gehen, aber er würde wiederkommen, er, so wahr er rote Haare hatte, aber eine schwarze Perücke trug.

Zu Beginn der Nacht verließ er seinen Beobachtungsplatz und schlich sich zunächst nordwärts, um zwischen sich und das Zeltlager des Dakotatrupps möglichst rasch eine möglichst große Strecke zu legen. Als er durch den Wald huschte, immer auf der Hut und immer gewärtig, auf einen Späher zu treffen, den er irreführen musste, hatte er plötzlich eine ganz andere, viel weniger erwartete Begegnung.

Auf einer alten Lichtung, die schon wieder zuwuchs, hatte sich viel Buschwerk angesiedelt, und The Red schwankte, ob er seinen Weg durch diese Büsche hindurch nehmen oder noch mehr Zeit verlieren und sie umgehen sollte. Er entschloss sich, wenigstens ein Stück weit in die Büsche einzudringen, denn der Boden war hier von altem Geröll bedeckt und würde wenig Spuren annehmen. Vielleicht war es gar nicht so schwierig, sich zwischen diesen Büschen und Stämmchen durchzuschlängeln, wie es zunächst scheinen mochte. Er legte sich hin und kroch zwischen die Sträucher, ohne die Zweige zu bewegen, die unter dem Sternenhimmel als Schattenrisse sichtbar waren. Links im Busch nahm er irgendeine im ersten Moment unerfindliche, kompakte dunkle Masse wahr. Ehe er ihre Natur ergründen konnte, kam sie in Bewegung, wie ein Igel, der sich aufrollt, um die Beine zu gebrauchen und zu fliehen. Allerdings war die bewegliche Masse reichlich groß und der Vergleich mit einem Igel daher wenig passend. The Red schnupperte wie ein Hund; er hatte eine gute Nase und roch den Bären. Zur selben Zeit war auch für das Auge schon unverkennbar, was hier davonlief. The Red hätte am liebsten wieder laut hinausgelacht, als er den zottigen Honigschlecker zum zweiten Mal flüchten sah. Aber er hütete sich wohl, seine Stimme laut werden zu lassen. Zudem fühlte er sich dem braunen Räuber, der erschreckt durch den nächtlichen Wald davonlief, auf seine Weise verbunden. Den Zottelbär hatte das Insektenvolk um den Honigraub gebracht, und den Roten Jim vertrieben die Indianer von der erhofften Goldausbeute.

Auch The Red musste fliehen!

Auf einem großen Umweg wollte er sich zum Niobrara begeben, um die Handelsstation des zahnlosen Ben kennenzulernen und sich dort zu informieren, was es in Prärie und Felsengebirge an Neuigkeiten gab.

Als The Red einige Tage unterwegs gewesen war und den ausgedehnten Bergstock halb umkreist hatte, dachte er daran, dass es unter den jetzigen Umständen vorteilhafter wäre, wenn er sich wieder ein Pferd verschaffte. Nicht nur, dass er damit schneller und müheloser vorankam, ein Mann ohne Pferd machte auch einen angeschlagenen Eindruck, der Mitleid oder Misstrauen wecken musste, und beides konnte The Red für seine Zwecke jetzt nicht mehr gebrauchen! Stark und vertrauenswürdig musste er wieder wirken, um seine Ziele zu erreichen.

Er tat sich daher im Norden der Black Hills nach einigen wagemutigen Jägern um, deren Spuren er gefunden hatte, und es gelang ihm, ihnen des Nachts ein Pferd wegzustehlen. Das Tier war nicht erstklassig, aber auch nicht schlecht, und fürs Erste wollte The Red sich damit zufriedengeben. Nachdem er die Bequemlichkeit des Reitens so lange entbehrt hatte, war es ihm ein Vergnügen, wieder einmal im Galopp über die Prärie zu fliegen. Um seine Fährten kümmerte er sich bald nicht mehr. Die Bestohlenen hatte er, das beste ihrer Pferde reitend, abgehängt, und auf der Ostseite der Black Hills einer Dakotagruppe zu begegnen, war für einen einzelnen nicht sonderlich gefährlich, wenn er, wie The Red, die Dakotasprache kannte und seine guten und friedlichen Absichten wortreich nachweisen konnte.

Der Reiter fand eine Reihe von Fährten, die darauf hinwiesen, dass Dakota in diesen Gegenden unterwegs waren, jedoch begegnete er keinem Indianer, auch keinem Weißen. Unbehelligt näherte er sich der kahlen sandigen Hügellandschaft, durch die die Wasser des Niobrara dahineilten. Er hatte es so eingerichtet, dass er auf die Stelle, an der Ben sich vermutlich niedergelassen hatte, nicht vom Westen, sondern vom Nordosten her zukam. Er wollte den Zahnlosen von seinem Abenteuer in den Black Hills nichts ahnen lassen.

Ein Tal lief schräg dem Fluss zu, und in diesem hielt sich der Reiter. Die Fährten häuften sich immer mehr, je näher The Red dem Fluss kam. Es schien hier neuerdings ein lebhafter Verkehr zu herrschen, wobei der Begriff »lebhaft« an den Verhältnissen dieser wilden Prärien gemessen werden musste. Reiterfährten, sogar eine Fährte von Ochsenkarren, liefen durch das leicht zu befahrende Wiesental der Richtung des Flusses zu und auch davon weg.

Die Handelszentrale des zahnlosen Ben musste schon nach den wenigen Monaten, seit denen sie bestand, ein weithin wirkender Anziehungspunkt geworden sein.

The Red beeilte sich nicht.

Wenn hier ein derartiger Verkehr in Gang gekommen war, konnte das nur mit Zustimmung oder wenigstens stillschweigender Billigung der Dakota geschehen sein. Ben musste sich auf irgendeine Weise deren Wohlwollen erkauft haben. Vielleicht lieferte er ihnen Waffen, Tomahawks und Messer mit Stahlschneiden, alte Flinten. Der bestehende Friedenszustand galt ohne Zweifel auch für einen so harmlos daherreitenden armen Teufel wie The Red.

Die Bodenwellen, zwischen denen Jim ritt, traten zur Seite, und es tat sich mit einem Schlage der Blick über die Wiesen auf, die sich sanft bis zum Fluss senkten. Es war hoher Sommer, und die Fluten, die im Frühjahr bis zum Fuße der Hügel spielten, hatten sich auf einige Rinnsale zurückgezogen, zwischen denen breite Sandbänke herausragten.

The Red überquerte das Flussbett und hatte dabei die Vorgänge auf dem jenseitigen Ufer im Auge.

Ben war kein schlechter Unternehmer! Jim erkannte den Schwarzhaarigen sofort, der inmitten einer kleinen Schar handfester Kerle den Befehlshaber spielte. Oberhalb des Flussbettes, das im Frühling von Wasser ausgefüllt sein musste, jetzt aber weithin trocken lag, befanden sich am Südufer eine Anzahl Zelte, dazwischen lagen Stämme, zum Teil schon zugerichtet, und ein Blockhaus war im Entstehen. Beilhiebe erklangen, kurze Zurufe, die üblichen Flüche, eine Art Hausmannskost von kleinen Zornesausbrüchen, die die Arbeit erleichterten. Südwestlich bei den ansteigenden kahlen Sandhügeln lagerten Indianer, ein paar Sioux-Dakota, friedlich daneben gruppierten sich einige noch frei lebende Cheyenne. Alle diese Indianer sahen nicht aus, als ob sie noch Angehörige der großen freien Stammesverbände seien; sie gehörten sicher zu denen, die da und dort bereits abgesplittert waren, denn sie sahen – und das erkannte The Red auch aus der Entfernung – schmutzig und ungepflegt aus und vergnügten sich damit, Branntwein zu trinken. Diesen Branntwein mussten sie von Ben eingehandelt haben. Wofür, das konnte The Red nicht ohne weiteres feststellen, denn die Tauschware, die aus den Händen der Indianer in den Besitz Bens gewandert war, war nicht zu sehen. Sie befand sich sicherlich in den Zelten, die der Handelsmann aufgeschlagen hatte.

The Red beschloss, den Großspurigen zu spielen. Diese Rolle fiel ihm am leichtesten. Sie entsprach seinem Charakter. Sobald er den Fluss überquert hatte, lenkte er auf Ben zu.