Der junge Häuptling

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Jack lief voraus, und Bobby hielt sich in seiner Spur. Mit seinen langen muskulösen Beinen war der Indianer ein ausgezeichneter Läufer, und der Neger stand ihm in nichts nach. Die beiden schlugen das Tempo schnell trabender Pferde an, das sie stundenlang durchhalten konnten. Zeitweise liefen sie voraus, um das Gelände zu durchspähen, durch das die Truppe reiten musste. Pitt und Roach waren mit diesen beiden Läufern und Kundschaftern durchaus zufrieden.

Die frische Morgenluft strich über die hügelige Landschaft.

Leutnant Roach genoss den Morgen in bester Laune. Er hoffte, bei Oberst Jackman, der mit dem Vater des Leutnants befreundet war, Erfolg zu haben. Überdies hatte er in Yankton Grüße an die Gattin seines unmittelbaren Vorgesetzten, Frau Jones, zu bestellen, und endlich wusste Anthony Roach, dass seine Verlobte, Cate Smith, die Tochter des Majors Smith, in Yankton eingetroffen war.

Yankton lag im südlichen Teil des Territoriums Dakota, nordöstlich des Missouri. Es war noch eine kleine Stadt und hatte erst mehr als ein Jahrzehnt später Aussicht, die Hauptstadt eines sich neu bildenden Staates zu werden. Die begüterten oder an politische und militärische Funktionen des Ehemanns und Vaters gebundenen Familien hatten sich in einem Viertel zusammen angesiedelt. In einem der Einfamilienhäuser dieses Viertels war man eben beim Abendessen. Die sinkende Sonne strahlte noch über den kleinen Garten, dessen Beete abgedeckt waren. Sie schien durch die blinkenden Fensterscheiben und ließ die Ausläufer ihrer Strahlen über das damastene Tischtuch, die Silberbestecke und das weißglänzende Porzellan auf dem Esstisch gleiten. Zwei ältere Damen und ein junges Mädchen saßen an dem runden Tisch.

»Wie sehr freue ich mich für dich, liebe Cate, dass du deinen Verlobten hier sehen wirst!« Die Gastgeberin, Frau Jones, war beleibt, appetitreich, menschenfreundlich gestimmt.

»Wie reizend von Ihnen, dass Sie mir ein Wiedersehen mit Anthony möglich machen wollen«, antwortete das junge Mädchen artig und vergaß nicht, der zweiten älteren, weniger menschenfreundlich wirkenden Dame das Salzfässchen zu reichen.

»Noch ist gar nichts gewiss!«, bemerkte diese zweite Dame, die ihr faltiges Gesicht stark gepudert hatte.

»Gewiss, Tante Betty«, antwortete das blasse junge Mädchen, »und ich werde standhaft sein, wenn ich die Enttäuschung erlebe, Anthony nicht wiederzusehen.«

»Standhaftigkeit ist mehr eine Sache für Männer, Cate«, tadelte die Tante. »Ich würde es nicht für unwürdig halten, wenn du als junges Mädchen auch einmal mit einer Träne ein Gefühl verraten würdest. Du wirkst oft zu kalt.«

»Gewiss, Tante Betty, ich werde hierüber nachdenken.«

»Cate, sei nicht so ernsthaft!«, rief die dicke Gastgeberin. »Wenn Herr Roach kommt, will er eine fröhliche Braut sehen! Und sei unbesorgt! Kann er nicht nach Yankton kommen, so lasse ich anspannen, und wir fahren nach Randall!«

»Um des Himmels willen!«, Tante Betty wurde rot vor Schreck. »Doch nicht etwa durch die Prärie?«

»Die Strecke ist vollkommen sicher, liebe Cousine, und die Fahrt eine wahre Pracht! Wir haben ein neues Viergespann; wir fahren wie im Fluge!«

»Aber das können wir nicht annehmen, liebe Cousine …«

»Aber liebste Betty, es wird mir selbst das größte Vergnügen sein, eine solche Fahrt mit dem neuen Gespann zu unternehmen und meinen Mann auf Fort Randall zu überraschen! Ja, tatsächlich, er liebt solche Überraschungen sehr!«

Die Damen gingen zum warmen Pudding über.

In der Gesprächspause, die dabei eintrat, horchten alle auf das Pferdegetrappel, das auf der staubigen Straße draußen zu hören war. Cate saß mit dem Gesicht zum Fenster und konnte auf die Straße schauen. Sie hatte diesen Platz eingenommen, weil hier die abendlichen Sonnenstrahlen die Augen besonders störten und der Platz daher von den beiden alten Damen gemieden war. Cate sah auf der Straße zunächst zwei Läufer vorübereilen, ehe die kleine Abteilung zu Pferd mit ihrem Leutnant erschien.

In den Augen des jungen Mädchens stand noch ein ausgesprochenes Entsetzen, als Leutnant Anthony Roach sich draußen auf dem Rappen etwas herabbeugte und durch das Fenster herein grüßte. Der Leutnant schien leicht verwirrt, da er nicht wissen konnte, ob das Entsetzen seiner Braut etwa durch sein Erscheinen hervorgerufen war. Die beiden alten Damen nickten, und sie grüßten noch, als die Dragoner und ihr Leutnant längst wieder verschwunden waren.

Cate hatte sich einigermaßen gefasst, als die Aufmerksamkeit am Tisch sich ihr von neuem zuwandte.

»Wie entzückend!«, rief Frau Jones. »Ich werde sofort veranlassen, dass Leutnant Roach Nachricht erhält und uns seine Aufwartung machen kann.« Sie klingelte und gab einer schwarzen Dienerin Bescheid.

»Cate«, fragte sie dann, »was hat dich denn erschreckt? Du bist auf einmal bleich!«

»Nichts …«

»Vertraue mir, Kind!«

»Bitte, entschuldigen Sie. Ich bin sehr töricht. Vor der Truppe mit Anthony kamen zwei Läufer vorbei. Der eine war ein Indianer.«

»So etwas sieht man hier am Missouri noch häufig.« Die Gastgeberin war leicht missgestimmt.

»Er hatte sich schaudererregend bemalt.«

»Muss man den Leuten abgewöhnen! Es ist heidnische Unkultur, natürlich. Sage deinem Verlobten, liebe Cate, dass er dem Mann befehlen soll, sich abzuschminken, und er wird es tun. Es gibt keine ›Maguas‹ mehr. Solche existieren nur noch in den Romanen des Herrn Cooper! Bist du nicht ganz glücklich, deinen Verlobten wiederzusehen, Cate?«

»Vollkommen.«

»Wann soll denn Hochzeit sein?«

Das junge Mädchen blickte zögernd auf Tante Betty.

»Nicht so bald, nicht so bald!«, betonte diese. »Cate und Anthony sind erst seit einem Jahr verlobt. Ich denke, eine Verlobungszeit von drei Jahren wird genau das Richtige sein.«

Das junge Mädchen unterdrückte einen Seufzer, und Frau Jones betrachtete Cate mitleidig. Das Mädchen war schon zwanzig Jahre alt. Es schien dringlich, sie unter die Haube zu bringen, aber Tante Betty fürchtete wohl, eine gehorsame unbezahlte Dienerin zu verlieren. Cate war arm, seitdem die großelterliche Farm mit Weizenfeldern und Gebäuden während des Aufstandes der Ostdakota 1862 niedergebrannt worden war. Cates Vater, Major Smith, machte keine Karriere, und die vermögende Mühlenbesitzerin und Witwe, Tante Betty, verlangte von ihrer künftigen Erbin Bedienung von früh bis spät. Das alles bedachte die Gastgeberin, aber sie ließ kein Wort in dieser Richtung verlauten.

Eine Stunde nach den Abendessengesprächen der Damen eilte Leutnant Anthony Roach beflügelten Schrittes zu dem kleinen Haus. Er entschuldigte sich lebhaft wegen der ungewöhnlichen Stunde seines Besuchs, spielte den Glücklichen, von Wiedersehensfreude Belebten, sagte den beiden alten Damen, besonders der Erbtante Betty, einige in die Situation passende Schmeicheleien und begrüßte seine Braut. Dabei spürte er, wie kalt Cates Hand war. Es fiel ihm auf, dass das Mädchen blass aussah und dass sich die ersten feinen Falten der Müdigkeit und Enttäuschung um ihren Mund legten. Das missfiel ihm, denn er wollte neben der reichen Erbschaft auch eine hübsche und lebenslustige Frau gewinnen, die ihn nicht mit Grillen störte. Er beschloss, den Grund für Cates Blässe und Kälte zu erforschen, und verbündete sich zu diesem Zweck mit Frau Jones. Es gelang der Gastgeberin, Tante Betty für ein paar Minuten in einen anderen Raum zu lotsen, und die Verlobten blieben so lange allein.

»Wann heiraten wir?«, fragte Roach seine Braut sofort. »Hast du mit Tante Betty gesprochen?«

»Ja, das habe ich«, antwortete Cate langsam, mit einer ganz anderen, etwas tieferen Stimme, als sie mit ihrer Tante zu sprechen pflegte. »Frühestens in zwei Jahren will Tante Betty einwilligen.«

»Das ist Unsinn! Humbug ist das. Deshalb bist du so blass, ich verstehe! Was können wir beide tun?«

»Willst du nicht selbst mit Tante Betty sprechen, Anthony? Du bist gewandter als ich. Vater wäre einverstanden, wenn wir sofort Hochzeit machten.«

»Hm – ja – ich sehe schon, ich muss das selbst in die Hand nehmen! Dein Vater ist einverstanden? Ausgezeichnet. Dann – hm … Ihr kommt alle drei zu Besuch nach Fort Randall?«

»Frau Jones ist sehr dafür. Sie will das neue Gespann ausprobieren und ihren Mann auf dem Fort überraschen.«

»Ich werde dafür sorgen, dass dieser Besuch stattfindet. Ich begleite eure Kutsche mit meinen Dragonern bis Randall. Von Fort Randall aus breche ich ein paar Tage später mit einer Munitionskolonne zu deinem Vater an den Niobrara auf. Cate – kommst du dorthin mit? Wir holen uns den Segen deines Vaters! Dann kann Tante Betty keine Schwierigkeiten mehr machen! Enterben wird sie dich wegen eines solchen Schrittes nicht.«

»Anthony! Anthony!« Das Blut stieg dem jungen Mädchen bis in die Schläfen; ihre Gestalt straffte sich. Nichts ersehnte sie mehr als das Ende ihres freudlosen Daseins bei der Erbtante.

»Cate, so gefällst du mir! Also abgemacht! Tante Betty darf natürlich nichts ahnen. Du nimmst dir kein Reitkleid nach Randall mit; du fährst als gehorsame Nichte in der Kutsche mit den beiden alten Damen – für alles weitere sorge ich.«

Roach trat einen Schritt zurück, denn die Tür des Nebenzimmers öffnete sich. Frau Jones und Tante Betty kamen wieder herein.

»Herr Roach!«, sagte die Gastgeberin in ihrer lebhaften Sprechweise. »Ich hoffe, Sie haben mit Ihrer Verlobten ausgemacht, dass sie meine Einladung annimmt und mit uns nach Randall fahren wird?«

»Nicht nur das, Frau Jones, ich werde Ihr Viergespann mit meinen Dragonern nach Fort Randall begleiten!«

»Wie artig und wie großartig! Was für eine Idee! Nicht wahr, Betty?«

»Nicht schlecht«, meinte diese, bedeutend zurückhaltender, aber doch sichtlich beruhigt.

 

»Allerdings«, auch Frau Jones lächelte, »werden Sie, Herr Roach, Ihrem indianischen Läufer befehlen müssen, sich abzuschminken. Seine verschmierte Fratze hat Ihre liebe Braut allzu sehr erschreckt.« Roach lächelte höflich, etwas gezwungen. »Cate ist von Natur mutig. Ich zweifle nicht, dass sie sich rasch an die Atmosphäre des Wilden Westens gewöhnen wird!«

Am Morgen nach diesem Zusammentreffen begab sich Leutnant Roach zur befohlenen Stunde zu Oberst Jackman. Er verstand es, eine korrekte, achtungsvolle, nicht unterwürfige Haltung einzunehmen, und der verkniffene Gesichtsausdruck des Obersten wurde beim Anblick dieses Leutnants etwas lockerer. Roach legte das versiegelte Handschreiben des Majors Smith vor.

Das Dienstzimmer des Obersten war sehr hell, die immer noch winterliche Atmosphäre draußen ganz rein, und Oberst Jackman bedurfte keines Augenglases, um die große deutliche, wie gestochene Handschrift des Majors Smith zu lesen. So sehr ihn aber das Schriftbild befriedigte, so wenig tat es der Inhalt des Schreibens.

»Immer und ewig dieselben Klagen und Bitten! Ich bin weder blind noch taub. Auch Major Smith sollte allmählich einsehen, dass durch die unaufhörliche Wiederholung derselben Litanei diese weder neuer noch wirkungsvoller wird. Was machen wir denn nun, Leutnant Roach? Ich habe Befehl: Die Dakota sind in ihre Reservationen zu treiben! Also werden wir sie hineintreiben! Auch diese kleinen Banden, mit denen Smith unbegreiflicherweise nicht fertig wird.«

»Sehr wohl. Gestatten einen Vorschlag?«

»Bitte. Auf Fort Randall wird man sich auch schon seine Gedanken gemacht haben.«

»Sehr wohl. Wir können jetzt auf Randall einige Mannschaften entbehren und diese am Niobrara einsetzen. Entsprechende Munition und Verpflegung hat mitzugehen. Ich wäre bereit, einen solchen Transport zu übernehmen und am Niobrara zu bleiben, bis auch in dieser windigen Ecke endlich Ordnung geschaffen ist.«

»Bravo, Roach! So wünsche ich mir unsere jungen Offiziere! Sie gleichen ganz Ihrem von mir hoch geschätzten Vater. Werde dementsprechend an den Kommandanten von Randall schreiben. Noch etwas: Wie beurteilen Sie die Ursache unserer unaufhörlichen Misserfolge am Niobrara? Zu wenig Leute oder – hm – ich meine – auch zu wenig Umsicht und Energie des Kommandanten?«

»Ich möchte mir darüber kein Urteil erlauben!« Roach schaute auf seine Stiefelspitzen. »Nur, gewissermaßen, wenn ich mir die Meinung der einfachen Mannschaften, auch der Miliz, anhöre – die Leute möchten besser geführt sein. Es ist doch wie im Tollhaus, wenn ein kleiner Kriegshäuptling, ein indianischer Bandenführer, der sicherlich nicht mehr Männer zur Verfügung hat als Major Smith – wenn ein solcher roter Halunke von sich reden macht durch die Streiche, die er uns fortwährend spielt, während wir von unserer Seite – nun, bestenfalls Bettelbriefe durch die Prärie durchschmuggeln.«

»Ganz meine Meinung, Roach, ganz meine Meinung! Ich habe übrigens einen guten, westerfahrenen Berater gewonnen. Fred Clarke ist sein Name. Ein wahrer schlauer Fuchs ist das! Brauchbar. Er macht den Vorschlag, dass wir das Fort verstärken, eine junge energische Kraft hinschicken und dann, wenn wir den Dakota imponiert haben, diesen roten Halunken, diesen – Harry, ja, Harry, wegfangen. Er war früher Kundschafter bei uns. Wir können ihn wegen Verrats hängen, wenn es uns passt.«

»Ausgezeichnet! Ich werde alle Chancen in dieser Richtung erwägen.«

»Gut. Ich diktiere die Briefe. In einer Stunde wieder, bitte!«

Roach zog sich zurück. Sobald der Oberst ihn nicht mehr hören konnte, pfiff der Leutnant vor Vergnügen. Die Straße seiner Karriere lag geglättet vor ihm.

»In einer Stunde«, sagte er zu Pitt, der auf ihn gewartet hatte. »Wir bekommen alles, was wir uns nur wünschen! In einer Stunde machst du dich mit den Briefen von Oberst Jackman auf den Weg nach dem Fort. Ich selbst komme in ein paar Tagen mit unseren Dragonern nach. Ich muss die Gattin von Major Jones nach Randall geleiten!«

»Und wer geleitet mich und die Briefe in meiner elenledernen Brusttasche?«

Roach überhörte in diesem Fall den allzu vertraulichen Ton, denn er hatte selbst kein reines Gewissen.

»Du kannst die beiden Läufer mitnehmen, Jack und Bobby. Die Damen haben sich sowieso vor Jacks Bemalung erschreckt. Sie erwarten, dass der Indsman sich abschminkt!« Roach hüstelte, um nicht ungeziemend zu lachen.

Pitt grunzte vor Vergnügen. »Aber nicht doch«, meinte er dann. »Ein Schwein muss seinen Dreck und ein Indianer muss seine Farben haben. Sonst werden sie beide unverträglich. Ich nehm also den Jack und den Bobby mit mir!«

Die Abrede wurde eine Stunde später ausgeführt. Pitt erhielt zwei von einem Schönschreiber geschriebene, von Oberst Jackman unterzeichnete und mit vielen Siegeln versehene Briefe, die er als zuverlässiger Eilbote nach Fort Randall bringen sollte.

Der Kurznasige holte sich sein Pferd. Die beiden Läufer hatten im Stall übernachtet und hielten sich bereit, wieder mitzukommen. Pitt erklärte ihnen wortreich, was für Erfolge Leutnant Roach bei Oberst Jackman erzielt hatte und dass große Verstärkungen an den Niobrara gehen sollten. Bobby bewunderte das Erreichte gebührend. Jack der Ponka mochte von dem Bericht Pitts nur wenig verstanden haben oder sich nicht dafür interessieren, und es berührte ihn scheinbar gar nicht, wenn der Rauhreiter ihn darum für dumm und hochnäsig hielt.

Auf dem Herweg von Randall nach Yankton hatten die Kuriere den Missouri bei Randall überquert und die Biegung des Stromes abgeschnitten. Jetzt erklärte Pitt, er wollte gleich bei Yankton über den Strom und das Missouri-Knie umreiten. Da dies durchaus unzweckmäßig und als eine Zeitvergeudung erschien, gab er Bob gegenüber schließlich zu, er habe noch einige Privataufträge für das Städtchen Niobrara zu erledigen und wolle daher die umständliche Route wählen. Die Läufer hatten dazu nichts zu sagen. Ob sie sich gern oder ungern fügten, blieb offen; Pitt kümmerte das nicht. Wenn Leutnant Roach seine Privatinteressen mit dem Dienst zu verbinden wusste, warum nicht auch der kleine Mann Pitt mit der Stummelnase, der für kurze Zeit einmal sein eigener Herr war?

Der Kurier begab sich mit seinen beiden Läufern an das Ufer des Missouri, um mit einer Fähre überzusetzen.

Während des Aufenthalts der Kuriergruppe in Yankton hatte sich das Bild des Stromes wesentlich geändert, Hochwasser war im Kommen. Die lehmgelben Wasser leckten an den Ufern hinauf. Der Eisgang war bedrohlich. Auch auf der Oberfläche des Stromes ließen sich Wirbel erkennen, die der Schifffahrt auf dem Missouri gefährlich waren. Die Dampffähre hatte am Ostufer angelegt. Der Fährmann rauchte. Seine beiden Hilfskräfte, hochaufgeschossene, sehr junge Burschen in blauen Hosen und gestreiften Sweatern, räkelten sich. Niemand schien Anstalten für eine Überfahrt zu treffen.

Als Pitt mit Bob und Jack an das Ufer kam, warteten schon zwei Fahrgäste. Die beiden Gruppen standen zunächst still auf der Landebrücke und warteten nun gemeinsam. Die beiden Fahrgäste, die sich zuerst eingefunden hatten, zogen durch ihre Erscheinung die Aufmerksamkeit auf sich. Der eine der beiden war ein Weißer, der andere ein Indianer. Beide waren äußerst sorgfältig und sauber gekleidet, der Weiße nach Cowboyart, aber in teures weiches Leder, der Indianer nach indianischer Sitte; er trug lederne Gamaschenhosen mit Fransen an den Nähten, einen überhängenden ledernen, schön gestickten Rock und eine Kette aus Gold und Edelsteinen. Beide hatten edle Pferde bei sich. Der Indianer führte ein Maultier mit Gepäck.

»Tja«, sagte der Fährmann endlich, betrachtete die fünf Anwärter auf die Überfahrt und schob seine Pfeife in den Mundwinkel. »Wer von euch will denn nun unbedingt ersaufen? Ich nicht.«

»Wir müssen hinüber!«, schritt Pitt daraufhin ein. »Militärischer Auftrag!«

»Den Befehl gebt mal an den Missouri weiter!«, antwortete der Fährmann ungerührt. »Vielleicht gehorcht der Eisgang!« Er wies mit dem Daumen über die Schulter auf die treibenden Eisblöcke und die Stauungen. »Zahlt euer militärischer Auftraggeber eine neue Dampffähre und die Rente für meine Witwe?«

»Spar dir doch die dummen Redensarten! Wir müssen sofort hinüber!« Pitt dachte an seine kleinen Privatgeschäfte; er wollte sie sich nur ungern entgehen lassen.

Der gutgekleidete Herr zog seine Brieftasche. »Was verlangt Ihr für die Überfahrt?«

»Hm, na ja.« Der Fährmann nannte den zehnfachen Preis. »Aber für einen jeden!«, fügte er hinzu und blickte rundum. Unwillkürlich folgten alle Blicke den seinen, um die Meinung aller Fahrgäste zu erkunden. Jeder der Wartenden sah die anderen der Reihe nach prüfend an. Dabei schien der schön gekleidete Indianer, dessen Gesicht nicht bemalt war, plötzlich zu erschrecken. Er sagte aber kein Wort, sondern wandte sich nur ab und blickte über den Strom.

»Also los!«, drängte Pitt. »Bobby! Du hast Wettgewinn gemacht und noch einen Teil des Siegerpreises dazu bekommen! Du zahlst für uns drei!«

»Nein, nein, nein! Nix zahlen! Ich alles versoffen.«

»Was, alles versoffen? Bist du noch bei Sinnen?«

»Ganz bei Sinnen!«

»Wird das mit dem Strom hier in den kommenden Tagen besser oder schlechter?«, fragte der fremde Herr den Fährmann.

»Schlechter. Die nächsten zwölf bis vierzehn Tage ist’s bestimmt nichts mehr mit dem Überfahren. Kein Schiffer und kein Steuermann, der organisiert ist, übernimmt das Risiko.«

»Du bist nicht organisiert? So mache dein Schiff klar! Ich zahle für uns alle den geforderten Preis.«

»Und für die Pferde? Und für das Maultier?«

»Wie willst du sie rechnen?«

»Jedes Tier gleich vier Männern. Ärger machen die uns noch viel mehr!«

Der Herr mit der Brieftasche ließ sich nicht abschrecken. Das schien allen verwunderlich, denn er hatte zarte Hände, kränkliche Züge und graues, weiches, gepflegtes Haar. Er wirkte nicht wie ein Mann des großen Risikos. Irgendein Wunsch oder irgendeine Idee musste ihn so stark beseelen, dass er bereit war, eine Gefahr auf sich zu nehmen, der er nicht gewachsen schien.

Während er zahlte, führte Pitt seinen Braunen schon auf die Fähre, sehr befriedigt von diesem Fortgang der Angelegenheit. Es war nicht leicht, die Tiere auf das Schiff zu bringen, denn sie witterten die Gefahr. Der Indianer mit der kostbaren Halskette hatte seinen eigenen Schecken und den Apfelschimmel des Weißen am Zügel. Bob sprang ihm bei und übernahm das Maultier mit dem Gepäck. Mit Mühe wurden auch diese Tiere auf die schaukelnde Fähre gebracht.

Inzwischen hatte der Herr in der Cowboykleidung gezahlt. Bob half ihm auf die Fähre. Der Fährmann selbst und einer der Jungen kamen auf das Schiff; der Kessel wurde angeheizt, die Schaufelräder begannen zu arbeiten. Der zweite Junge löste die Taue und sprang gleichzeitig mit dem Ponka auf das Fährschiff, das flott wurde.

Das Schiff hatte sofort starke Abdrift. Niemand spürte Neigung, viel Worte zu machen. Alle beobachteten den Strom und den Fährmann am Steuer. Am Ufer sammelten sich etliche Leute, um die Überfahrt zu beobachten. Die Bewohner des Stromufers waren gespannt, wie sich das Fährschiff unter den schwierigen Verhältnissen von Hochwasser und Eisgang bewähren würde.

Als die Pferde und das Maultier sich beruhigt hatten und die Fahrt gut vonstatten zu gehen schien, fragte der Herr mit dem grauen Haar Bobby freundlich: »Wo soll’s hingehen?«

»Nach Fort Randall!«

»Aha.« Der Herr wechselte mit seinem indianischen Begleiter einen Blick. »Auf einem kleinen Umweg.«

Das Fährschiff begann sich zu drehen. Der Strom spielte damit. Das Gesicht des Steuermanns wurde finster.

Die Maschine kämpfte das Schiff aus dem Wirbel hinaus. Die Strommitte wurde gewonnen und durchquert. Das Schiff steuerte schon auf das Westufer zu, als es unter Wasser einen heftigen Stoß erhielt. Alles Weitere spielte sich mit einer erschreckenden Schnelligkeit ab.

Das Steuer funktionierte nicht mehr. Während das Schiff steuerlos abwärtstrieb, bekam es Schlagseite. Plötzlich saß es fest und neigte sich. Eisschollen stauten sich sofort, und es bildeten sich neue Wirbel. Der Strom wandte seine unheimliche Gewalt an, um das Hindernis in seinem Lauf zu beseitigen.

Die beiden jungen Burschen verließen den Kessel und die Maschine, die nicht mehr arbeitete. Keuchend und spuckend kamen sie auf Deck. Der Fährmann krampfte die Hände noch um das untaugliche Steuer. Endlich kam es aus ihm heraus: »Rette sich, wer kann!«

Boote waren nicht vorhanden.

 

Der grauhaarige Fahrgast riss die Jacke herunter, um besser schwimmen zu können. Eine Woge brach gestautes Eis auseinander, schwemmte über Deck, schreckte mit ihrer Kälte und nahm die Lederjacke mit sich fort.

Bob hängte den einzigen Rettungsring, den das Fährschiff mitführte, ab und reichte ihn stillschweigend dem Fremden. Dieser wurde verlegen, nahm aber den sichernden Ring.

Pitt hatte sich nach niemandem mehr umgesehen. Er war schon im Wasser und begann zu schwimmen. Das Maultier, das ungenügend festgemacht war, folgte dem Beispiel, begab sich samt Gepäck ins Wasser und schwamm stromabwärts davon. Bob und der Indianer mit der kostbaren Halskette machten die Pferde frei. Sie wollten sie vom Schiff ins Wasser drängen, aber die Tiere rutschten, brachen ein, bäumten sich und schlugen aus vor Angst. Der Ponka, der abseits gestanden hatte, kam mit einem Sprung herbei. Er wies den gutgekleideten Indianer durch eine Handbewegung an, sich um den grauhaarigen Herrn zu kümmern, und übernahm selbst mit Bob zusammen die Pferde. Der Grauhaarige sprang gleichzeitig mit seinem indianischen Begleiter in den Strom. Der Ponka, der mit Bob zusammen noch zurückgeblieben war, ließ jetzt seine Kräfte spielen und zeigte, was er von Pferden verstand. Es dauerte keine halbe Minute mehr, und schon waren die Tiere alle drei im Wasser. Jack selbst glitt in die schlammgelben Wogen und hielt sich schwimmend in der Nähe der Tiere. Er hatte es nicht für notwendig befunden, etwas von seinen Kleidungsstücken abzulegen; sogar den hinderlichen Poncho hatte er noch um.

Mit Bob zusammen verließen die beiden Jungen, die als Maschinist und Heizer gearbeitet hatten, das Schiff.

Der Fährmann selbst stand noch immer am unbrauchbaren Steuer; das strömende Wasser reichte ihm schon bis über die Hüften. Er ließ das Steuerrad nicht los. Am Ostufer, von dem das Schiff abgefahren war, sammelten sich immer mehr Menschen und gestikulierten. Wahrscheinlich schrien sie auch, aber über den breiten Strom waren ihre Stimmen kaum zu hören. Die Wirbel verstärkten sich und verschlangen Schiff und Steuermann. Die Schwimmer im Strom konnten nicht darauf achten; sie hatten genug mit sich selbst zu tun.

Pitt gelangte als erster an das Westufer. Triefend stieg er heraus und schaute sich nach den Übrigen um. Sie schwammen zerstreut im Wasser. Jack hielt sich bei den Pferden. Die beiden Fremden schwammen nebeneinander. Es schien, dass der Indianer mit der kostbaren Halskette und Bob den grauhaarigen Herrn im Rettungsring noch mit allen Kräften unterstützten, damit er nicht vom Strom einfach mitgenommen wurde. Die Jungen holten diese letzte Gruppe rasch ein.

Pitt rannte zu der Stelle hin, an der die Pferde an Land kommen mussten. Er wartete nur kurze Zeit, da kletterten die angsterfüllten Tiere schon ans Ufer und hangaufwärts. Es gelang Pitt sofort, die Zügel seines Braunen zu fassen. Der Ponka war schon im Wasser auf den Schecken des fremden Indianers hinaufgeglitten. Den Apfelschimmel griff er jetzt am Zügel. Pitt und Jack erkannten stromabwärts das Maultier, das samt Gepäck ans Ufer stieg und südwärts davongaloppierte. Pitt begann, Jagd nach dem Tier zu machen.

Auch der grauhaarige Herr, der ihn begleitende Indianer und Bob konnten sich retten. Mit den beiden Jungen zusammen kamen sie an das Ufer. Durchnässt, vor Kälte schlotternd, stolperten sie den Hang hinauf. Die Jungen liefen zu einer Rindenhütte am Hochufer. Diese Behausung, die wahrscheinlich dem Fährmann als Notunterkunft zu dienen pflegte, suchten auch die beiden Fremden auf.

Der Ponka und Bob blieben für sich allein im Freien. Sie sammelten sich Holz, machten ein Feuer und zogen sich aus, um sich selbst, die Waffen und die Kleider im Winde und am Feuer zu trocknen. Doch legte der Ponka das Baumwollhemd auch jetzt nicht ab; er wollte es am Körper trocknen lassen.

Bobby schaute sich nach der Rindenhütte und nach den Pferden um. Der fremde Indianer war wieder herausgekommen und begann, den Schecken und den Apfelschimmel, die ebenso erbärmlich froren wie die Menschen, trockenzureiben. Pitt kehrte von seiner Jagd auf das Packtier ohne Erfolg zurück. Das schlaue Maultier war in dem Augenblick, in dem es eingefangen werden sollte, wieder ins Wasser gegangen. Der Kurznasige pflockte seinen Braunen an und verschwand, durchnässt, wie er war, in der Rindenhütte. Bald kam er in trockenen Kleidern wieder heraus. Er hatte sich offenbar einen Arbeitsanzug des ertrunkenen Fährmanns angeeignet, schlenderte herbei und blieb bei Bob stehen.

»Schöne Schweinerei!« Pitt pflanzte sich breitbeinig auf. »Alles nass! Nicht einen einzigen Schuss könnte man jetzt abgeben! Aber die Briefe hab ich gerettet. Wasserdichter Überzug! Bobby, hör mal, hast du wirklich alles versoffen, oder kannst du für den Anzug, den ich angezogen habe, den beiden Jungen was zahlen? ’s war ihr Vater, der ertrunken ist. Der Herr mit der Brieftasche ist pleite. Er hatte sein Geld noch im Rock stecken, der jetzt den Missouri hinabschwimmt. Gepäck und Waffen sind samt dem Maultier beim Teufel! Erst in Niobrara oder auf Fort Randall wird dieser Herr Morris wieder Bankverbindung haben! Dorthin ist’s für uns jetzt näher als zurück nach Yankton – über den dreimal verdammten Strom!«

»Zahl doch du selbst, was du den Waisen weggenommen hast!«, gab Bob zur Antwort.

»Ich hab doch nichts mehr. Ich hab nie was! Darüber hat sich schon mein Alter erbost, und darum bin ich in den Wilden Westen ausgerückt. Willst du mich jetzt noch ans Sparen bringen? Das nützt einem kleinen Mann doch nichts.«

»Ein Schweinekerl bist du!«

»Kann ich die Jungen zu dir schicken, Bob, oder nicht?«

»Mal sehen. Sie sollen herkommen!«

»Gut, das ist ein Wort.«

Pitt entfernte sich, um den beiden Bescheid zu sagen.

Die Jungen kamen. Hochaufgeschossen waren sie, mager, muskulös. Das Wetterbraun ihrer Haut konnte nicht verbergen, dass sie blass waren.

»Euer Vater ist nun tot«, sagte Bob. »Er hat’s nicht anders gewollt.

Wo ist eure Mutter?«

»Drüben in Yankton.«

»Habt ihr noch ein Schiff?«

Kopfschütteln antwortete.

»Hat die Mutter Arbeit?«

»Sie wäscht bei den Leuten.«

»Wie alt seid ihr?«

»Ich bin dreizehn, mein Bruder zwölf.«

»Was wollt ihr jetzt machen?«

»In der Hütte leben, bis der Strom sinkt.«

»Habt ihr bis dahin zu essen?«

Kopfschütteln antwortete.

Bob wandte sich an den Ponka. »Was machen wir mit den beiden Kröten? Was sollen sie essen, bis sie zur Mutter hinüberkommen?«

Jack gab keine Antwort. Er schien anzunehmen, dass eine solche Frage für zwölf- und dreizehnjährige Jungen keine Frage mehr sein könne. Aber Bobby blieb besorgt. »Hallo!«, rief er den beiden Jungen zu. »Wie weit ist es von hier bis zum nächsten Dorf?«

»Zu Pferd eine Stunde.«

»Die Strecke könnt ihr laufen. Ich kauf euch eures Vaters Anzug ab, den der Pitt jetzt trägt, und geb euch noch was dazu. Ihr kauft euch zu essen und arbeitet im Dorf. Was ihr dann an Geld übrig habt, gebt ihr der Mutter. Verstanden?«

Dem Jüngeren sickerten ein paar Tränen über die Backen.

Bob öffnete seine Gürteltasche. Es zeigte sich, dass er keinen Penny versoffen hatte. Den Jungen gab er einen Dollar. Sie staunten, als ob ein Wunder geschehen sei. Von diesem Geld konnten sie einen halben Monat leben, und wenn sie sehr sparten und etwas dazu verdienten sogar noch länger. Es schien ihnen unfasslich, dass der Nigger ohne Jacke so reich und dass er so freigebig war.

»Du kannst auch in der Hütte sitzen!«, lud der Ältere ein.

»Im Freien ist es mir aber gemütlicher. Haben wir nicht ein schönes Feuer? Setzt euch zu uns her!«

Die Jungen folgten.

Aus der Rindenhütte kam ein merkwürdiger Ton. Es war, als ob jemand schluchzte.