Die Integrationsfestigkeit des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts im Rahmen der Kündigung von Arbeitsverhältnissen im Anwendungsbereich der Richtlinie 2000/78/EG

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VI. Ergebnis

Die EU hat keine Kompetenz im Bereich des Religionsverfassungsrechts. Das nationalverfassungsrechtlich geschützte Selbstbestimmungsrecht der Kirchen ist allerdings in seinen Grundzügen in vielfältiger Weise auf der Ebene des europäischen Primärrechts normativ verankert und gegen staatliche Beeinträchtigung geschützt.

Für den unionsrechtlichen Grundrechtsschutz kirchlicher Arbeitgeber bei der Kündigung von Arbeitsverhältnissen ergibt sich ein differenziertes Bild: Art. 9 EMRK umfasst in Zusammenschau mit Art. 11 EMRK und Art. 10 EU-GRCh die korporative Religionsfreiheit. Zwar lässt die EMRK unter Berücksichtigung der jüngeren Rechtsprechung des EGMR (Ferndández Martínez580 und Travas581) weitere Beeinträchtigungen des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts als Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 S. 1WRV zu, da im Kündigungsschutzprozess die Sendungsrelevanz einer Tätigkeit einer gerichtlichen Kontrolle unterliegen kann. Eine Möglichkeit zur Harmonisierung von EMRK und Grundgesetz bietet indes die nach der Rechtsprechung des EGMR obligatorische Verhältnismäßigkeitsprüfung. Sie erlaubt eine Gewichtung der in Konflikt stehenden Rechtsgüter auf nationalverfassungsrechtlicher Grundlage.

Zentrale Norm zum Schutz der Besonderheiten des nationalstaatlichen Religionsverfassungsrechts ist Art. 17 Abs. 1, Abs. 2 AEUV, in der die Erklärung Nr. 11 der Schlussakte zum Vertrag von Amsterdam aufgegangen ist. Es handelt sich hierbei nicht um eine Bereichsausnahme. Sofern Regelungen der Union allerdings in die Statusverhältnisse der Mitgliedstaaten einwirken, bieten das Achtungsgebot und das Beeinträchtigungsverbot des Art. 17 AEUV einen effektiven Schutz gegen eine Umgehung der Kompetenzgrenzen der EU in Fragen des Religionsverfassungsrechts. Das Achtungsgebot hat nach hier vertretener Auffassung unter Berücksichtigung der Zwecksetzung des Art. 17 AEUV zur Folge, dass die Union den Mitgliedstaaten Umsetzungsspielräume einräumen muss, die einen Ausgleich der Rechte der Religionsgemeinschaften und der sonstigen Interessen auf nationalstaatlicher Ebene erlauben. Eine Gewichtung der Statusrechte der Religionsgemeinschaft darf nicht auf Unionsrechtsebene vorgenommen werden. Denn derartige Hoheitsakte der EU verstoßen gegen das Beeinträchtigungsverbot des Art. 17 Abs. 1, Abs. 2 AEUV als Kompetenzgrenze der EU.

C. Grundlagen des europäischen Antidiskriminierungsrechts

Hinsichtlich der europäischen Regelungen, die auf die Besonderheiten des deutschen kirchlichen Arbeitsrechts Einfluss nehmen, ist zwischen unmittelbar in den Mitgliedstaaten wirksamem Unionsrecht (Vertragsrecht, Verordnungen gem. Art. 288 Abs. 4 AEUV, Beschlüssen gem. Art. 288 Abs. 4 AEUV) und lediglich mittelbar wirksamem Unionsrecht (Richtlinien gem. Art. 288 Abs. 3 AEUV) zu unterscheiden.582 Da sich die vorliegende Arbeit auf die Integrationsfestigkeit des Selbstbestimmungsrechts kirchlicher Arbeitgeber bei der Kündigung von Arbeitsverhältnissen bezieht, wird das EU-Antidiskriminierungsrecht Gegenstand näherer Betrachtung, soweit dieses kirchliche Kündigungsentscheidungen beeinflusst.

I. Primärrechtliche Grundlagen
1. Zentrale Antidiskriminierungsnormen im Vertragsrecht der Union

In Art. 10 AEUV setzt sich die EU das Ziel, mit ihrer Politik und ihren Maßnahmen die Diskriminierung aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethischen Herkunft, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung zu bekämpfen. Gem. Art. 19 Abs. 1 AEUV583 (vormals Art. 13 EGV) kann der Rat unbeschadet der sonstigen Vertragsbestimmungen in einem besonderen Gesetzgebungsverfahren und nach Zustimmung des Europäischen Parlaments einstimmig geeignete Vorkehrungen treffen, um die vorbenannten Diskriminierungen bekämpfen. Es handelt sich dabei um die zentrale Kompetenznorm584 der EU im Bereich des Antidiskriminierungsschutzes, auf deren Grundlage die arbeitsrechtlich585 relevanten Antidiskriminierungsrichtlinien 2000/43/EG, 2000/78/EG und 2006/54/EG erlassen wurden.586

2. Diskriminierungsverbote in der EU-GRCh

Primärrechtliche Diskriminierungsverbote finden sich unter dem Titel III (Gleichheit) in der EU-GRCh, die mit dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon über Art. 6 Abs. 1 EUV primärrechtlichen Status erlangt hat: In den Art. 21 Abs. 2 und Art. 23 EU-GRCh werden die Diskriminierungsverbote der AEUV im Wesentlichen wiederholt bzw. „gedoppelt“.587 Das Verbot der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit gem. Art. 21 Abs. 2 EU-GRCh entspricht bspw. dem Inhalt des Art. 18 AEUV.588

Der weit gefasste Art. 21 Abs. 1 EU-GRCh verbietet Diskriminierungen insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der ethnischen und sozialen Herkunft, der genetischen Merkmale, der Sprache, der Religion und der Weltanschauung, der politischen und sonstigen Anschauung, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt, einer Behinderung, des Alters sowie der sexuellen Ausrichtung in sämtlichen Lebensbereichen.589 Über die Öffnungsklausel „insbesondere“ lässt die Norm Raum für nicht benannte Diskriminierungsmerkmale.590 Der weite Anwendungsbereich wird allerdings durch die beschränkte Bindung der Mitgliedstaaten an die Grundrechte der Charta gem. Art. 51 Abs. 1 S. 1 EU-GRCh relativiert.591

3. Das Diskriminierungsverbot als allgemeiner unionsrechtliche Grundsatz

Das in Art. 21 EU-GRCh verankerte Diskriminierungsverbot wertete der EuGH im Egenberger-Urteil vom 17. April 2018 als allgemeinen unionsrechtlichen Grundsatz mit zwingendem Charakter.592

Die Statuierung eines umfassenden, prinzipiell merkmaloffenen Diskriminierungsverbots lässt sich allerdings nach hier vertretener Auffassung nicht mit dem Erwägungsgrund des Unionsgesetzgebers zu Art. 21 EU-GRCh vereinbaren.593 Da heißt es: „In Absatz 1 des Artikels 21 hingegen wird weder eine Zuständigkeit zum Erlass von Antidiskriminierungsgesetzen in diesen Bereichen des Handelns von Mitgliedstaaten oder Privatpersonen geschaffen noch ein umfassendes Diskriminierungsverbot in diesen Bereichen festgelegt […]“ (Hervorhebung durch die Verf.).594 Art. 52 Abs. 7 GRCh gebietet den Gerichten, die Erwägungsgründe bei der Auslegung der Normen zu berücksichtigen. Eine Auseinandersetzung mit den Erwägungsgründen findet sich in den Urteilsgründen des EuGH indes nicht.595 Der Gerichtshof berief sich vielmehr auf die „gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten“, aus denen sich bereits vor Inkrafttreten der EU-GRCh ein unionsgrundrechtliches Verbot der Diskriminierung wegen Religion oder Weltanschauung ergeben habe.596

Dieser Begründung mangelt es aber vor dem Hintergrund der großen Unterschiede bei der mitgliedstaatlichen Ausgestaltung des Selbstbestimmungsrechts der Kirche597 an Überzeugungskraft.598 Zwar dürfte die Mehrheit der Mitgliedstaaten das Verbot der Diskriminierung aufgrund der Religion als Verfassungsgrundsatz anerkennen.599 Der jeweilige mitgliedstaatliche Diskriminierungsschutzes dürfte allerdings wegen der unterschiedlichen Gewichtungen des Selbstbestimmungsrechts der Kirche im Bereich kirchlicher Arbeitsverhältnisse uneinheitlich ausfallen. Von einer gemeinsamen Verfassungstradition des religionsbezogenen Diskriminierungsschutzes, die spezifische Einschränkungen des Selbstbestimmungsrechts kirchlicher Arbeitgeber gebietet, kann vor diesem Hintergrund jedenfalls nicht ausgegangen werden.

II. Die RL 2000/78/EG

Auf Grundlage600 von Art. 13 EGV (nunmehr Art. 19 AEUV) wurden insgesamt drei arbeitsrechtlich relevante Richtlinien erlassen. Die am 19. Juli 2000 verabschiedete RL 2000/43/EG601, die eine Diskriminierung aufgrund von Rasse und ethnischer Zugehörigkeit verbietet, führt in Bezug auf das kirchliche Arbeitsrecht zu keinen Problemen602, sodass auf sie nicht weiter eingegangen werden muss. Die RL 2006/54/EG603 vom 5. Juli 2006 betrifft die Geschlechtergleichstellung und verbietet die geschlechterbezogene Benachteiligung in Bezug auf Entgelt und Zugang zu betrieblichen Systemen der sozialen Sicherheit. Auch diese Richtlinie wirkt sich nicht auf die vorliegende Arbeit aus604 und kann daher außer Betracht bleiben.605

Dreh- und Angelpunkt der rechtswissenschaftlichen Auseinandersetzung über die unionsrechtlichen Einflüsse auf die kirchliche Kündigungspraxis ist die am 27. November 2000 verabschiedete RL 2000/78/EG.606 Art. 1 RL 2000/78/EG verbietet die unterschiedliche Behandlung aufgrund der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung.

1. Geltungsbereich

Der Geltungsbereich der Richtlinie 2000/78/EG erstreckt sich auf alle Personen in öffentlichen und privaten Bereichen sowie den öffentlichen Stellen (Art. 3 Abs. 1 RL 2000/78/EG) und erfasst damit insbesondere auch privatrechtlich bei kirchlichen Arbeitgebern beschäftigte Personen.607 Sie gilt für alle Auswahlkriterien, Einstellungs-, Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen sowie für den Zugang zu beruflichen Ausbildungs- und Weiterbildungsangeboten sowie schließlich für die Mitgliedschaft in Arbeitnehmerorganisationen (Art. 3 Abs. 1 lit. a. – d. RL 2000/78/EG).

 

2. Die Diskriminierungsmerkmale „Religion“ und „Weltanschauung“

Der Begriff der „Religion“ wird in der RL 2000/78/EG selbst nicht definiert. Die Zugrundelegung eines Religionsbegriff anderer unionsrechtlicher Regelungen ist nicht ohne Weiteres möglich, denn in Art. 10 EU-GRCh wird der Begriff der „Religion“ nicht definiert. Ähnliches gilt für Art. 9 EMRK. Die Offenheit des Begriffs der „Religion“ dient im Rahmen der EMRK dem Minderheitenschutz.608 Wegen der Eigenständigkeit der unionsrechtlichen Definitionsfindung kann der Religionsbegriff schwerlich unter Rückgriff auf engere, nationalrechtliche Definitionen609 bestimmt werden. Diese Komplikationen führen zu rechtlichen Unsicherheiten.610 Der EuGH geht jedenfalls von einer weit gefassten Bedeutung des Religionsbegriffs in Art. 9 EMRK und Art. 10 EU-GRCh aus.611

In einer aktuelleren Entscheidung vom 14. März 2017612 präzisierte der Gerichtshof hierauf aufbauend Teilgehalte des Religionsbegriffs i.S.v. Art. 1 RL 2000/78/EG. Da der Gesetzgeber im ersten Erwägungsgrund der Richtlinie auf die in der EMRK verankerten Grundrechte sowie die in der EU-GRCh kodifizierten gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten Bezug genommen habe, sei für den Begriff auf den Gehalt des Art. 9 EMRK und des Art. 10 EU-GRCh zurückzugreifen.613 Auch der Religionsbegriff i.S.d. Art. 1 RL 2000/78/EG umfasse daher das forum internum und das forum externum.614

Für die Beantwortung der Frage nach den Voraussetzungen des Tatbestandsmerkmals der „Religion“ ist die Entscheidung von nur geringer Aussagekraft. Zwar unterstreicht das Gericht die Schutzdimensionen der Religionsfreiheit, jedoch setzt der EuGH bei der Definition des Religionsbegriffs das Vorhandensein einer „Religion“ bereits voraus und konkretisiert nur die sich aus dem Primärrecht ableitenden Schutzrichtungen des Begriffs. Wie aber bereits ausgeführt, definiert auch das Primärrecht den Begriff der „Religion“ nicht, sodass die Entscheidung keine Hilfe bei der Abgrenzung einer „Religion“ von einer bloßen Überzeugung bietet.

Die Anerkennung einer bestimmten Glaubensrichtung als „Religion“ dürfte jedenfalls weder den Glauben an das Vorhandensein eines Gottes erfordern noch ausreichen lassen.615 Da der EuGH im Übrigen nicht vorgibt, inwiefern er zwischen Religionen und Sektenformen differenziert, kann angenommen werden, dass Religionen der „umfassenden Deutung menschlicher Existenz“ zu dienen bestimmt sind und dass die Religion als „Bekenntnis“ geschützt wird, aus dem sich gewissee Pflichten für den Gläubigen ergeben, die der Schutzwirkung der Religionsfreiheit unterliegen.616 Eine exakte und zugleich praktikable Definition dürfte im Übrigen kaum zu entwickeln sein, da sich das metaphysische Element des Religionsbegriffs schwerlich in das „Korsett“ des juristischen Vokabulars zwängen lässt. Angesichts dieser Unschärfe dürfte die richterliche Intuition bei der Feststellung einer „Religion“ eine entscheidende Rolle spielen.617

Die unionsrechtliche Differenzierung zwischen den Diskriminierungsmerkmalen „Religion“ und „Weltanschauung“ hat hinsichtlich der Rechtsfolgen keine Auswirkung, da beide Merkmale die gleichen Verbote und Gebote nach sich ziehen.618 Feststeht aber, dass die Anforderungen an das Vorliegen einer „Weltanschauung“ nicht geringer ausfallen dürfen als die an eine „Religion“619, da Letztere einen eigenständigen Bedeutungsgehalt aufweist und nicht als Unterfall der Weltanschauung behandelt werden kann.620

3. Die Ausnahmeregelungen des Art. 4 Abs. 2 RL 2000/78/EG für kirchliche Arbeitgeber

Die Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 1 und Unterabs. 2 RL 2000/78/EG eröffnen den Mitgliedstaaten die Möglichkeit zur Beibehaltung bzw. Normierung spezieller Rechtfertigungstatbestände für kirchliche Arbeitgeber, die wegen der Religion ihrer Arbeitnehmer differenzieren.

In Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 1 heißt es:

„Die Mitgliedstaaten können in Bezug auf berufliche Tätigkeiten innerhalb von Kirchen und anderen öffentlichen oder privaten Organisationen, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen oder Weltanschauungen beruht, Bestimmungen in ihren zum Zeitpunkt der Annahme dieser Richtlinie geltenden Rechtsvorschriften beibehalten oder in künftigen Rechtsvorschriften Bestimmungen vorsehen, die zum Zeitpunkt der Annahme dieser Richtlinie bestehende einzelstaatliche Gepflogenheiten widerspiegeln und wonach eine Ungleichbehandlung wegen der Religion oder Weltanschauung einer Person keine Diskriminierung darstellt, wenn die Religion oder die Weltanschauung dieser Person nach der Art dieser Tätigkeiten oder der Umstände ihrer Ausübung eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts des Ethos der Organisation darstellt.

Eine solche Ungleichbehandlung muss die verfassungsrechtlichen Bestimmungen und Grundsätze der Mitgliedstaaten sowie die allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts beachten und rechtfertigt keine Diskriminierung aus einem anderen Grund.“

In Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 2 heißt es:

„Sofern die Bestimmungen dieser Richtlinie im übrigen eingehalten werden, können die Kirchen und anderen öffentlichen oder privaten Organisationen, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen oder Weltanschauungen beruht, im Einklang mit den einzelstaatlichen verfassungsrechtlichen Bestimmungen und Rechtsvorschriften von den für sie arbeitenden Personen verlangen, dass sie sich loyal und aufrichtig im Sinne des Ethos der Organisation verhalten.“

a) Genese

Art. 4 Abs. 2 RL 2000/78/EG ist das kompromisshafte Ergebnis einer kontroversen Gesetzgebungsdebatte.621

Der erste Vorschlag der Kommission lautete:

„Mitgliedstaaten können in Bezug auf öffentliche oder private Organisationen, die in den Bereich der Religion oder des Glaubens im Hinblick auf Erziehung, Berichterstattung und Meinungsäußerung unmittelbar und überwiegend eine bestimmte weltanschauliche Tendenz verfolgen und innerhalb dieser Organisationen hinsichtlich spezieller beruflicher Tätigkeiten, die unmittelbar und überwiegend diesem Zweck dienen, vorsehen, daß eine unterschiedliche Behandlung dann keine Diskriminierung darstellt, wenn sie durch ein bestimmtes Merkmal begründet ist, das mit der Religion oder dem Glauben zusammenhängt und wenn aufgrund der Eigenschaft dieser Tätigkeiten, dieses bestimmte Merkmal eine wesentliche berufliche Anforderung darstellt.“622

Dieser restriktive Vorschlag klammerte wichtige Bereiche der kirchlichen Dienste von dem Anwendungsbereich der Rechtfertigungsnorm aus, da der kirchliche Dienst auch jenseits von Erziehung, Berichterstattung und Meinungsäußerung im karitativen Handeln verwirklicht wird.623 Das Europäische Parlament kritisierte an diesem Entwurf u.a. das Fehlen einer Verhältnismäßigkeitsklausel und verlangte die Klarstellung, dass die Norm keine Rechtfertigung aus anderen Gründen als der Religion oder Weltanschauung zulasse.624 Infolge der Beratungen erging der wie folgt geänderte Vorschlag der Kommission:

„Ungeachtet Absatz 1 können die Mitgliedstaaten in Bezug auf religiöse oder weltanschauliche öffentliche oder private Organisationen und die berufliche Tätigkeiten dieser Organisationen, die unmittelbar und überwiegend mit Religion oder Weltanschauung zusammenhängen, vorsehen, daß eine unterschiedliche Behandlung aufgrund der Religion oder Weltanschauung dann keine Diskriminierung darstellt, wenn eine Religion oder Weltanschauung aufgrund der Art der Tätigkeit oder der Umstände ihrer Ausübung eine wesentliche berufliche Anforderung darstellt. Diese unterschiedliche Behandlung rechtfertigt jedoch keine Diskriminierung aus den übrigen in Artikel 13 EGV genannten Gründen.“625

Dieser Entwurf gab die Limitation des Anwendungsbereichs der Rechtfertigungsnorm auf bestimmte Tätigkeiten im kirchlichen Dienst zugunsten einer universellen Regelung auf, differenzierte nun aber hinsichtlich der Art und der Umstände der Tätigkeiten. Auch enthielt der Entwurf der Kritik des Parlaments folgend eine Klarstellung hinsichtlich der Begrenzung der Rechtfertigung auf eine unterschiedliche Behandlung aufgrund der Religion oder Weltanschauung.

Die den Entwurf anschließend beratende Gruppe „Sozialfragen“ des Rates fasste am 13. Juni 2000 einen wesentlich restriktiveren Entwurf:

„Ungeachtet des Absatzes 1 können Mitgliedstaaten in bezug auf öffentliche oder private Organisationen, die unmittelbar und überwiegend das Ziel verfolgen, bestimmte Werte auf Grundlage von Religion oder Weltanschauung zu vermitteln, und hinsichtlich der beruflichen Tätigkeiten innerhalb dieser Organisationen, die unmittelbar und überwiegend diesem Zweck dienen, vorsehen, daß eine Ungleichbehandlung aufgrund eines Umstandes, der mit der Religion oder Weltanschauung zusammenhängt, keine Diskriminierung darstellt, wenn dieser Umstand aufgrund der Art dieser Tätigkeiten oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt und sofern es sich um einen rechtmäßigen Zweck und eine angemessene Anforderung handelt.“626

Die Verschärfungen wurden von der deutschen und der irischen Delegation kritisiert.627 Die irische Delegation sprach sich insbesondere für die Verankerung des „Ethos“ der kirchlichen Arbeitgeber anstelle der Begriffe „Ziele der Organisation“628 bzw. „Ethik“629 in der Richtliniennorm aus und forderte weitere Privilegierungen kirchlicher Arbeitgeber.630 Auf ihr Drängen hin wurde der bis dahin nur als 24. Erwägungsgrund631 angedachte zweite Unterabsatz des Art. 4 Abs. 2 RL 2000/78/EG in den Richtlinientext aufgenommen.632 Die Forderungen der irischen Delegation wurden damit zur Grundlage der endgültigen Gesetzesfassung.

b) Verhältnis zu Art. 4 Abs. 1 RL 2000/78/EG

Art. 4 Abs. 1 RL 2000/78/EG räumt den Mitgliedstaaten die Möglichkeit ein, Ausnahmeregelungen zu schaffen, nach denen eine Ungleichbehandlung wegen eines Diskriminierungsmerkmals gem. Art. 1 keine Diskriminierung darstellt. Das Merkmal muss dann aber aufgrund der Art der bestimmten beruflichen Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche, entscheidende und angemessene berufliche Anforderung darstellen, die einem rechtmäßigen Zweck dient.

Die beiden Absätze des Art. 4 RL 2000/78/EG stehen in einem Spezialitätsverhältnis.633 Art. 4 Abs. 2 enthält einen Rechtfertigungsgrund, der erstens nur das Diskriminierungsmerkmal der Religion bzw. Weltanschauung betrifft und zweitens nur bestimmte Arbeitgeber entlastet, nämlich Organisationen, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen oder Weltanschauungen beruht. Demgegenüber findet der allgemein gefasste Rechtfertigungsgrund des Art. 4 Abs. 1 RL 2000/78/EG auf sämtliche Arbeitgeber und sämtliche Differenzierungsmerkmale des Art. 1 GG Anwendung. Sofern die Kirche als Arbeitgeberin daher berufliche Anforderungen an ihre Mitarbeiter stellt, die nicht (nur) die Religion, sondern bspw. die sexuelle Ausrichtung betreffen, kann sie sich ggf. (kumulativ) auf Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie stützen.634

Da die Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung aufgrund der Religion, anders als die Ausnahmeregelung für die altersbedingte Ungleichbehandlung635 (Art. 6 RL 2000/78/EG), nicht in einer eigenständigen Norm geregelt wurde, lässt sich ferner schlussfolgern, dass Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie durch den Gesetzgeber bewusst in einem engen Zusammenhang mit Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie gestellt wurde.636 Dieser Umstand wirkt sich auf die Auslegung des Art. 4 Abs. 2 RL 2000/78/EG aus. In Zweifelsfällen ist die Norm in Einklang mit den Wertungen des Art. 4 Abs. 1 RL 2000/78/EG zu deuten.637

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