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Kindheit

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17. Die Kindheit

Glückliche, selige, unwiederbringliche Tage der Kindheit! Wie soll man die Erinnerung an euch nicht hegen und pflegen! Sie erhebt und erquickt meine Seele und bildet für mich die Quelle der besten Genüsse.

Man hat sich müde gelaufen und sitzt matt auf seinem hohen Kinderstuhl am Teetisch; es ist schon spät, die Tasse Milch mit Zucker ist längst geleert, Schlaf fällt auf die Augen, aber man rührt sich nicht von der Stelle – sitzt da und hört und sieht.

Wie soll man nicht hören! Mama spricht mit jemandem, ihre Stimme klingt so lieb, so unbeschreiblich freundlich. Der bloße Klang sagt meinem Herzen so unendlich viel!

Mit schlafbeschwerten Augen blicke ich unverwandt in ihr Gesicht, und plötzlich kommt es mir vor, als würde sie ganz, ganz klein, ihr Gesicht nicht größer als ein Knopf, aber dabei sehe ich alles ganz deutlich, wie sie mich ansieht und lächelt. Ich habe es gern, daß sie so klein ist. Ich schließe die Augen noch mehr, und nun wird sie so klein, wie Jungen im Augapfel; aber dann bewege ich mich und das Zauberbild verschwindet. Ich mache die Augen kleiner, drehe mich hin und her, bemühe mich, das Bild wieder hervorzuzaubern, aber es ist umsonst. Ich stehe auf, schlage die Beine unter und lege mich bequem in den großen Lehnstuhl.

»Du schläfst wieder ein, Nikolas; solltest nach oben gehen,« sagt Mama.

»Ich will nicht schlafen,« erwidere ich, und undeutliche aber süße Träume erfüllen die Phantasie. Ein gesunder Kinderschlaf schließt die Augen, und eine Minute später ist man bewußtlos und schläft, bis man aufgeweckt wird.

Bisweilen fühlt man im Halbschlaf die Berührung einer zarten Hand; an der Berührung schon erkennt man sie und ergreift sie noch im Schlaf dicht vor dem Gesicht und preßt sie fest, fest gegen die Lippen.

Alle sind bereits fortgegangen; im Gastzimmer brennt nur noch ein Licht. Mama hat gesagt, sie würde mich wecken. Dann kommt sie, setzt sich auf den Lehnstuhl, auf dem ich schlafe, fährt mit ihrer wunderbar zarten Hand über mein Haar und flüstert mit der lieben bekannten Stimme dicht an meinem Ohr: »Steh auf, mein Liebling, es ist Zeit zu Bett zu gehen.« Kein gleichgültiger Blick stört sie, ungescheut gießt sie all ihre Zärtlichkeit und Liebe über mich aus.

Ich rühre mich nicht, presse aber ihre Hand noch stärker an meine Lippen.

»Steh doch auf, mein Engel!«

Mit der anderen Hand umfaßt sie meinen Hals, und ihre kleinen Finger bewegen sich und kitzeln mich.

Im Zimmer ist es still, halbdunkel; durch das Kitzeln und Erwachen sind meine Nerven erregt; Mama sitzt dicht neben mir, berührt mich, ich spüre ihren Duft und ihre Stimme. Das alles veranlaßt mich, aufzuspringen, meine Arme um ihren Hals zu schlingen, den Kopf gegen ihre Brust zu legen und atemlos zu rufen: »Ach liebe, liebe Mutter, wie habe ich dich lieb!«

Sie lächelt auf ihre traurige bezaubernde Art, nimmt meinen Kopf, küßt mich auf die Stirn, die Nase und die Augen und setzt mich auf ihren Schoß.

»Also du hast mich sehr lieb?« Sie schweigt einen Augenblick und sagt dann: »Hörst du, hab mich stets lieb und vergiß mich nicht. Wenn deine Mutter nicht mehr da ist, mußt du sie nie vergessen! Hörst du: nie, Nikolas.«

Und sie küßt mich noch zärtlicher.

»Hör auf, sag das nicht, liebste beste Mutter!« rufe ich, ihre Knie küssend, und dabei stürzen Tränen aus meinen Augen, Tränen der Liebe und des Entzückens.

Kommt man dann nach oben und steht in seinem wattierten Schlafrock vor dem Heiligenbild, welch wunderbares Gefühl empfindet man dann bei den Worten: »Lieber Gott, beschütze meine Eltern, Papa, Mama und Großmama, den Lehrer Karl Iwanowitsch, meinen Bruder Wolodja und meine Schwester Ljubotschka.«

Wenn ich diese Worte sprach, die meine Lippen zuerst der lieben Mutter nachstammelten, floß die Liebe zu Gott und den Eltern sonderbar in ein Gefühl zusammen. Ich wußte und fühlte, daß Gott groß, gerecht und gut sei; ich war überzeugt, daß all meine Bitten erfüllt, alle Vergehen bestraft würden, daß ich ihm für alles, alles dankbar sein müsse und daß er mich nie verlassen würde.

Kein Zweifel störte damals meine Ruhe.

Nach dem Gebet wickelte ich mich, leicht und fröhlich ums Herz, in meine Decke ein. Ein schöner Traum folgte dem anderen; aber was hatten sie zum Gegenstande? Flüchtige Dinge, dabei war ich erfüllt von Hoffnung auf helles Glück und reine Liebe. Dann fiel mir wohl Karl Iwanowitsch mit seinem traurigen Schicksal ein, der einzige Mensch, den ich für unglücklich hielt. Er tat mir so leid und ich empfand so viel Liebe für ihn, daß mir Tränen in die Augen traten und ich wünschte, Gott möge ihn glücklich machen und es mir ermöglichen, ihm meine Liebe zu zeigen – ich wollte gern alles für ihn opfern. Dann stopfte ich mein liebstes Spielzeug, ein Häschen oder Hündchen aus Porzellan, in eine Ecke des Federkissens und freute mich, wie gut, warm und behaglich es dort liegen könne. Dann bat ich noch den lieben Gott, allen Glück und Zufriedenheit zu geben und morgen zum Spazierengehen schönes Wetter zu machen, legte mich auf die andere Seite, Gedanken und Träume vermischten sich, und ich schlief leise und sanft mit tränenfeuchtem Gesicht ein.

Werden sie je wiederkehren, die Frische, Sorglosigkeit und Glaubensstärke, die ich unbewußt in der Kindheit besaß? Welch schönere Zeit kann es geben, als die, in der die zwei höchsten Tugenden: unschuldige Heiterkeit und ein unendliches Bedürfnis zu lieben, die Haupttriebfedern im Leben waren. Wo sind die gläubigen Gebete geblieben? wo die schönste Gabe: reine Tränen der Rührung? Kam ein tröstender Engel geflogen, trocknete lächelnd diese Tränen und hauchte der reinen Phantasie des Kindes süße Träume ein? Hat das Leben wirklich so schwere Spuren in meinem Herzen hinterlassen, daß dieses Entzücken und diese Tränen auf ewig verschwunden und nur Erinnerungen geblieben sind?

18. Verse

Am 8. September 1836, fast einen Monat nach unserer Ankunft in Moskau war Großmutters Geburtstag. Um zehn Uhr morgens saß ich im Moskauer Hause im Klassenzimmer an einem großen Tisch und schrieb; auf der anderen Tischseite machte der Zeichenlehrer die letzten Verbesserungen an einer Bleistiftzeichnung, die einen Türken im Turban darstellte. Wolodja stand mit ausgerecktem Halse auf den Zehenspitzen hinter ihm und blickte dem Lehrer über die Schulter. Dieser Kopf war Wolodjas erste Zeichnung, die heute an Großmutters Geburtstag mit folgender Inschrift auf dem Ärmel des Türken überreicht werden sollte: »Woldemar Irtenef, 8. Sept. 1836, Moscou.«

»Wollen Sie hier nicht noch etwas mehr Schatten hinbringen?« fragte Wolodja, auf den Hals des Türken deutend.

»Nein, das ist nicht nötig,« erwiderte der Zeichenlehrer, Bleistifte und Reisfeder in die Schieblade legend, »jetzt ist es gut; rühren Sie es nicht mehr an. Nun aber Sie, Nikolenka,« er erhob sich, den Türken weiter von der Seite betrachtend – »verraten Sie uns doch endlich Ihr Geheimnis: was schenken Sie der Großmutter? Am besten wäre ebenfalls ein Kopf. Adieu, meine Herren.« Er nahm seinen Hut und verließ das Zimmer.

In diesem Augenblick war ich auch der Ansicht, daß ein Kopf besser sei als die Arbeit, mit der ich mich quälte. An dem Abend, als man uns mitteilte, wir sollten ein Geschenk zu Großmutters Geburtstag vorbereiten, kam mir der Gedanke, ihr bei dieser Gelegenheit ein Gedicht zu machen, und ich verfaßte sofort zwei gereimte Strophen in der Hoffnung, die übrigen ebensoleicht hinzufügen zu können. Meinen Plan vertraute ich niemandem an; alle Fragen beantwortete ich damit, ich würde sicher ein Geschenk darbringen, aber niemandem sagen, worin es bestände. Dann ging ich sogleich ans Werk.

Wider Erwarten stellte sich heraus, daß ich außer den beiden im ersten Feuereifer ersonnenen Strophen, trotz aller Anstrengung nichts Gescheites mehr zustande bringen konnte.

Um mir die Mühe zu erleichtern, nahm ich Zuflucht zu einer List. Ich las alle Verse, die mir in die Hände fielen; da die Auswahl aber nicht groß war und ich nirgends Glückwünsche fand, überzeugte mich die Lektüre von Puschkin, Dershawin und anderen noch mehr von meiner Ohnmacht und Talentlosigkeit. Dann kramte ich unter Karl Iwanowitschs Papieren, der, wie ich wußte, oft Gedichte verfaßte. Unter seinen Manuskripten fand ich ein Produkt, das wahrscheinlich seiner Feder entstammte. Hier ist es:

An Frl. L.

Denke mein: nahe,

Denke mein: fern,

Denke mein: immerdar,

Denke mein: gern.

Denke mein bis an das Grab,

Wie ich so treu geliebt dich hab!

Petrowskoie, 12. Juni 1828.

Karl Mauer.

Dieses mit großen runden Buchstaben auf dünnes Briefpapier geschriebene Gedicht gefiel mir wegen des rührenden Gefühls, von dem es durchdrungen ist. Ich las es einigemal durch und lernte es auswendig. Vorher, als ich mir die gedruckten Verse zum Muster genommen hatte, sah ich deutlich, daß meinen eigenen etwas mangelte und geriet darüber in Verzweiflung. Jetzt, mit dem Rückhalt dieser Verse, die ich nachzumachen suchte, ging die Sache weit leichter. Am Geburtstage war ein Glückwunsch aus zwölf Strophen fertig; am Tisch im Klassenzimmer schrieb ich ihn auf Velinpapier ab.

Schon waren zwei Bogen verdorben … nicht, weil ich etwas ändern wollte – die Verse schienen mir ausgezeichnet; aber von der dritten Zeile an kletterten die Versenden immer höher und höher, so daß man schon von weitem sah, wie schief das Gedicht war und daß es nichts taugte.

Obgleich die dritte Abschrift ebenso schief war wie die übrigen, beschloß ich, jetzt nichts mehr abzuschreiben. Dagegen machte mir ein ganz anderer Umstand Schwierigkeiten. In meinem Gedicht gratulierte ich zunächst der Großmutter zum Geburtstag, wünschte ihr viele, viele Jahre Gesundheit, dankte ihr dann für ihre Liebe und schloß, meine Gefühle beschreibend:

 

»So will ich dich auch stets erfreun,

Du sollst wie meine Mutter sein.«

Die Sache war nicht übel, aber der letzte Vers gefiel mir nicht, er beleidigte direkt mein Ohr. »Wie meine Mutter« wiederholte ich für mich, »Du sollst wie meine Mutter sein –« es ging; ich wollte es doch aber lieber ändern. Wie einen anderen Schluß finden? Dein? Weih'n? Ich will dir alle Kräfte weih'n. Ach was, sagte ich mir, es geht schon. Immer noch besser als Karl Iwanowitschs Verse. So schrieb ich die letzte Strophe hin. Dann ging ich ins Schlafzimmer und deklamierte alles laut mit Gesten und sehr ausdrucksvoll.

Die ersten Strophen hatten gar kein Versmaß; aber dabei hielt ich mich nicht lange auf. Die letzte Zeile dagegen berührte mich immer stärker und unangenehmer. Ich setzte mich auf mein Bett und überlegte. Warum hatte ich geschrieben: »wie meine Mutter.« Warum sie erwähnen? Sie war doch nicht hier! Ich liebte und verehrte Großmutter, weil sie so respektgebietend war; aber das war doch nicht das! Warum, warum hatte ich die Worte geschrieben? Ich begriff es wohl undeutlich, fühlte aber dabei, daß, der Großmutter sagen, sie solle wie meine Mutter sein – erstens falsch und zweitens überflüssig sei. Wozu ihr das sagen? Nein, es war nicht hübsch! Ich zerbrach mir den Kopf, wie ich die letzte Zeile ändern könnte; aber das ging nicht so einfach – ich mußte dann die letzten vier Zeilen des Gedichts, die alle den gleichen Reim hatten, umdichten – ein Drittel des ganzen Gedichtes. Vielleicht hätte ich auch das noch fertiggebracht; aber jetzt hörte ich, wie der Schneider mit meinem neuen Frack kam.

»Also mag es schon so bleiben,« sagte ich ärgerlich, schob die Verse unter das Kissen und lief, um den Moskauer Anzug anzuprobieren.

Er erwies sich als vorzüglich. Der zimtbraune Frack mit blanken Knöpfen lag prall am Körper an, nicht so auf Zuwachs berechnet, wie auf dem Lande für uns gearbeitet wurde; die schwarze, ebenfalls enge Hose umspannte wundervoll die Schenkel und fiel gefällig auf die Stiefel.

»Endlich richtige Hosen mit Strippen,« dachte ich, vor Freude außer mir und besah von allen Seiten meine Beine. Obgleich mir der neue Anzug eng und unbequem war, verheimlichte ich das vor allen und sagte im Gegenteil, er säße sehr bequem, und wenn er einen Mangel hätte, wäre es der, daß er etwas weit sei. Dann nahm ich eine Bürste und bearbeitete eine ganze Stunde lang meinen stark pomadisierten Kopf vor dem Spiegel. Aber wie sehr ich mich auch bemühte, die Borsten auf dem Scheitel glatt zu legen – sie gehorchten nicht; sobald ich mit bürsten aufhörte, richteten sie sich auf, starrten nach allen Seiten und gaben meinem Gesicht einen lächerlichen Ausdruck.

Karl Iwanowitsch kleidete sich im Nebenzimmer an. Durch das Klassenzimmer wurde ihm ein blauer Frack und Wäsche gebracht. An der nach unten führenden Tür hörte man die Stimme von Großmutters Kleinmädchen; ich ging hinaus, um nachzusehen, was sie wünschte. Sie hielt ein steifgestärktes Oberhemd in der Hand und sagte, das sei für Karl Iwanowitsch; sie hätte die ganze Nacht nicht geschlafen, um es rechtzeitig fertigzubringen. Ich nahm ihr das Hemd ab und fragte, ob Großmutter schon aufgestanden sei.

»Gewiß doch! Hat schon längst Kaffee getrunken; der Protopop ist schon da. Wie nett Sie heute aussehen!« schloß sie lächelnd. Diese Bemerkung ging mir durch und durch und machte mich erröten; ich drehte mich auf einem Fuß um, hüpfte und schnalzte mit den Fingern, um ihr zu verstehen zu geben, daß sie noch gar nicht recht wisse, wie nett ich in Wirklichkeit sei.

Als ich Karl Iwanowitsch das Oberhemd brachte, hatte er es bereits nicht mehr nötig; er hatte ein anderes angezogen. Er stand gebückt vor dem kleinen Spiegel auf dem Tisch, hielt mit beiden Händen seine Halsbinde und probierte, ob sein rasiertes Kinn sich in der Binde hin und her bewegen könne.

Nachdem Karl Iwanowitsch unseren Anzug überall zurechtgezogen und Nikolas um den gleichen Dienst bei sich gebeten hatte, führte er uns zur Großmutter. Ich muß noch jetzt lachen, wenn ich daran denke, wie stark wir drei nach Pomade rochen, als wir die Treppe heruntergingen.

Karl Iwanowitsch trug eine selbstverfertigte Schachtel, Wolodja die Zeichnung, ich das Gedicht, das ich vor unserem Aufbruch unter dem Kissen hervorgeholt hatte. Jeder hatte den Spruch auf der Zunge, mit dem er sein Geschenk überreichen wollte.

In dem Augenblick, als Karl Iwanowitsch die Tür öffnete, legte der Priester sein Gewand an und das Gebet begann.

Großmutter war schon im Saal; auf eine Stuhllehne gestützt stand sie an der Wand und betete inbrünstig. Neben ihr stand Papa. Er wandte sich nach uns um und lächelte, als wir schnell unsere Geschenke auf dem Rücken versteckten und dicht an der Tür stehenblieben, um nicht bemerkt zu werden.

Die ganze Überraschung, auf die wir gerechnet hatten, war dahin.

Als nach Schluß des Gebets das Kreuz geküßt wurde, war ich unentschlossen, ob ich sogleich das Gedicht überreichen und Großmutter gratulieren sollte oder nachher. Das sofortige Überreichen war mir sehr unangenehm, weil ich bei der Vorbereitung auf diesen Augenblick nicht daran gedacht hatte, daß der Vorgang sich vor einem Publikum abspielen würde, das jetzt aus Papa und dem Protopopen bestand. Namentlich vor Papas Spott hatte ich Angst. Ich hielt mein Gedicht auf dem Rücken und stand so unbeschreiblich schüchtern und verlegen da.

Karl Iwanowitsch beglückwünschte Großmutter in den gewähltesten Ausdrücken, nahm die Schachtel aus der linken Hand in die rechte, händigte sie ihr ein und trat ein paar Schritte zurück, um Wolodja Platz zu machen. Großmutter schien von der Schachtel mit Goldrand entzückt und gab mit verbindlichem Lächeln ihrem Dank Ausdruck. Man merkte aber, daß sie die Schachtel nirgend hinzustellen wußte und wahrscheinlich aus diesem Grunde Papa bat, einmal zu sehen, wie erstaunlich kunstfertig sie gearbeitet sei.

Nachdem Papa seine Neugierde befriedigt hatte, übergab er die Schachtel dem Geistlichen, dem das Ding anscheinend sehr gefiel. Er wiegte den Kopf hin und her und blickte neugierig bald auf die Schachtel, bald auf den Meister, der solch schönen Gegenstand fertiggebracht hatte.

Wolodja überreichte seinen Türken mit dem Signum und erntete von allen Seiten das höchste Lob.

Jetzt war die Reihe an mir; mit einem Lächeln, das besagte: »Nun, mein Junge, jetzt kommst du,« wandte sich Großmutter an mich.

Wer jemals Schüchternheit empfunden hat, weiß, daß dieses Gefühl mit der Zeit zunimmt, während die Entschlossenheit umgekehrt nachläßt. Das heißt: Je länger die Schüchternheit dauert, um so unbezwinglicher wird sie und um so weniger Entschlossenheit bleibt übrig.

Die letzte Spur von Entschlossenheit verließ mich, als Karl Iwanowitsch und Wolodja ihre Gaben darbrachten; und jetzt, als ich fühlte, daß ich unbedingt hervortreten müsse, erreichte sie den Höhepunkt. Ich fühlte, wie mir das Blut vom Herzen unaufhaltsam zu Kopf schoß, wie mein Gesicht die Farbe wechselte und wie dicke Schweißtropfen auf Stirn und Nase traten. Die Ohren brannten, im ganzen Körper fühlte ich Zittern und kalten Schweiß; ich trat von einem Fuß auf den anderen, knüllte die verhängnisvolle Papierrolle in der schweißigen Hand zusammen und rührte mich nicht vom Fleck.

»Nun, Herr Poet, deklamieren Sie uns Ihre Verse vor,« sagte plötzlich Papa, der, ich weiß nicht wie, hinter mein Geheimnis gekommen war.

Da war nichts zu machen; mit zitternder Hand überreichte ich Großmutter das zerknüllte Papier, anstatt aber dabei meinen Glückwunsch zu sagen, stammelte ich unzusammenhängende Worte. Obgleich damit die Hauptsache getan war, konnte ich den Gedanken nicht fassen, daß sogleich in aller Gegenwart die Worte »wie meine Mutter« gelesen und meine Gemeinheit aller Welt offenbar würde.

Wie soll ich meine Qualen schildern, als Großmutter laut mein Gedicht vorzulesen begann, als sie es nicht entziffern konnte, in der Mitte steckenblieb und mit einem Lächeln, das mir spöttisch vorkam, Papa ansah, als sie die Worte nicht so betonte wie ich wollte, und schließlich, wegen ihrer schwachen Augen, Papa das Schriftstück gab und ihn bat, es ihr von Anfang an vorzulesen. Mir war, als täte sie das deswegen, weil sie keine Lust hatte, solch schlechte, schief geschriebene Verse zu lesen, die zeigten, wie schnell ich meine Matter vergessen hatte. Ich erwartete, daß man mir meine Verse um die Ohren schlagen und sagen würde »Nichtsnutziger Bengel, vergiß deine Mutter nicht, da hast du was!« Aber nichts dergleichen geschah; im Gegenteil, als alles vorgelesen war, sagte Großmutter: »Charmant! merci, mon cher Nicolas!« und küßte mich auf die Stirn.

Schachtel, Zeichnung und Gedicht wurden auf einen kleinen Tisch neben Großmutters Stuhl gelegt, neben die beiden Batisttücher und die Tabatiere mit Mamas Bild, von dem Großmutter sich niemals trennte.

»Die Fürstin Barbara Iljinitschna Kornakowa!« meldete einer der riesigen Diener, die hinten auf Großmutters Wagen fuhren.

Großmutter betrachtete nachdenklich das Bild auf der Schildpatdose und gab keine Antwort. Sie dachte in diesem Augenblick sicherlich an Mama, ihre Lieblingstochter und überlegte: Warum ist sie heute nicht bei mir? Was mag sie treiben?

»Wünschen Durchlaucht zu empfangen?« sagte der Diener.

»Bitte.«

19. Die Fürstin Kornakowa

»Ich lasse bitten,« sagte Großmutter, sich tiefer in den Sessel setzend.

Karl Iwanowitsch stand auf, strich mit der Hand seine Frackschöße glatt – beim Hinsetzen und Aufstehen vergaß er das nie – machte einen Kratzfuß und trat zu Großmutters Sessel.

»Sie erlauben mir, hochverehrte Frau Gräfin,« begann er, wie gewöhnlich, gedehnt und mit kläglicher Betonung, »den heutigen Tag bei meinem alten Freunde Schönheit zu verbringen, dessen Gattin, Madame Schönheit, Geburtstag feiert.«

Großmutter gab sofort ihre Einwilligung, bemerkte aber dabei, sie hätte ihn an ihrem eigenen Geburtstag lieber bei sich gesehn; indessen hätten die alten Freunde vor den neuen gerechterweise den Vorzug.

»Sie können gehen,« sagte Papa ziemlich kurz zu Karl Iwanowitsch, als dieser mit verlegenem Lächeln vor ihn hintrat. Und als er fort war, meinte Papa zu Großmutter: »Ich fürchte, er geht hier zugrunde.«

»Wieso?« fragte Großmutter, die eintretende Fürstin nicht bemerkend.

Zu meinem größten Kummer konnte Papa nicht mehr erläutern, wie Karl Iwanowitsch zugrunde gehen würde.

Die Fürstin war eine etwa fünfundvierzigjährige, kleine, schwächliche, hagere, gallige Dame mit trübgrauen, unangenehmen Augen, deren Ausdruck durchaus zu dem unnatürlich sanft lächelnden Mündchen paßte. Unter dem schwarzen Samthut mit Straußenfedern blickte hellrötliches Haar hervor. Brauen und Wimpern erschienen bei der ungesunden Gesichtsfarbe noch rötlicher. Trotzdem hatte ihr Auftreten infolge der ungezwungenen Bewegungen der winzigen Hände und der Hagerkeit in allen Zügen etwas Vornehmes und Energisches.

Die Fürstin sprach sehr viel; sie gehörte zu der Gattung von Leuten, die so reden, als wenn man ihnen widerspräche, obgleich niemand ein Wort äußert; bald erhöhte sie die Stimme, bald ließ sie sie sinken, begann plötzlich mit neuer Lebhaftigkeit zu sprechen und betrachtete dabei die Anwesenden, die an der Unterhaltung nicht teilnahmen, als suchte sie in diesen Blick neue Argumente zu legen.

Trotzdem die Fürstin Großmamas Hand küßte und sie unaufhörlich »ma bonne tante« nannte, bemerkte ich, daß Großmutter unzufrieden mit ihr war; als die Fürstin erzählte, weshalb Fürst Michael unmöglich zum Gratulieren hätte kommen können, obgleich er es sehr gern getan hätte, schob Großmutter eigentümlich die Augenbrauen zusammen, antwortete russisch auf die französische Rede der Fürstin und sagte ihre Worte ganz besonders in die Länge ziehend: »Ich bin Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit sehr verbunden, meine Liebe; und daß Fürst Michael nicht gekommen ist – was soll man darüber reden! Ich weiß, daß er stets mit Arbeit überhäuft ist, und was für ein Vergnügen wäre es für ihn, bei einer alten Frau herumzusitzen.«

Und ohne der Fürstin Zeit zur Erwiderung zu lassen, fuhr sie fort: »Wie geht es Ihren Kinderchen, meine Liebe?«

»Gott sei Dank wachsen sie, lernen, machen dumme Streiche, ma tante; besonders der Älteste, Etienne, wird ein solcher Bengel, daß mit ihm nicht mehr auszukommen ist. Dafür ist er ein kluger Bursche: un garçon qui promet. Können Sie sich vorstellen, mon cousin,« wandte sie sich direkt an Papa, weil Großmutter sich wahrscheinlich für die Kinder der Fürstin nicht im mindesten interessierte und mit ihren eigenen Enkeln glänzen wollte, jetzt langsam meine Verse aus der Schachtel nahm und das Blatt sorgfältig umblätterte. »Können Sie sich vorstellen, mon cousin, was er neulich gemacht hat?« damit beugte sich die Fürstin zu Papa und erzählte ihm fast flüsternd etwas sehr lebhaft. Als die Erzählung beendet war, die ich nicht verstand, meinte sie, Papa direkt ins Gesicht blickend: »Ist das ein Junge, nicht wahr? Obgleich er einfach Prügel verdiente, ist der Einfall doch so klug und komisch, daß ich ihn nur ausgescholten habe, mon cousin.«

 

Dann richtete die Fürstin den Blick auf Großmutter und fuhr fort, stumm zu lächeln.

»Schlagen Sie denn Ihre Kinder?« fragte Großmutter, immer noch mit meinem Gedicht in der Hand.

»Ach, ma bonne tante,« erwiderte die Fürstin mit einem Blick auf Papa, »ich weiß nicht, wie Sie über diesen Gegenstand denken, aber erlauben Sie mir, hierin eigener Meinung zu sein. Wieviel habe ich nicht über Erziehung nachgedacht, gelesen, mir bei anderen Rat geholt – schließlich hat die Erfahrung mich doch dahin gebracht, daß, um etwas aus den Kindern zu machen, Furcht notwendig ist. Habe ich nicht recht, mon cousin?« wandte sie sich wieder an Papa. »Was aber, je vous demande un peu, fürchten Kinder mehr als die Rute?«

Dabei blickte sie streng und fragend auf uns, und ich muß gestehen, mir wurde in diesem Augenblick recht ungemütlich.

»Was Sie auch sagen, ein Junge bis zum zwölften und selbst bis zum vierzehnten Jahr ist immer noch Kind. Anders mit den Mädchen.«

Welches Glück, daß ich nicht ihr Sohn bin, dachte ich.

»Das ist ja sehr schön, meine Liebe,« sagte Großmutter, meine Verse zusammenfaltend und wieder in die Schachtel legend, als hielte sie nach diesem die Fürstin nicht mehr für würdig, mein Erzeugnis zu hören. »Das ist alles sehr schön, aber sagen Sie mir bitte, wie Sie dann noch feines Empfinden von Ihren Kindern verlangen können und welcher Unterschied dann noch zwischen den Ihrigen und Bauerkindern besteht.«

Und, ihr Argument für unwiderleglich haltend, fügte Großmutter hinzu: »Übrigens kann hierüber jeder seine eigene Meinung haben.«

Die Fürstin lächelte gnädigst, um auszudrücken, daß sie diese sonderbaren Vorurteile bei einer Person, die viele so hochschätzten, nicht weiter übelnähme.

»Ach ja, machen Sie mich doch mit Ihren jungen Leuten bekannt, mon cousin,« sagte sie mit einem Blick auf uns, freundlich lächelnd.

Wir standen auf, sahen die Fürstin gerade an und wußten nicht, was wir tun mußten, um zu zeigen, daß unsere Bekanntschaft geschlossen sei.

»Küßt der Fürstin die Hand,« sagte Großmutter.

»Habt eure alte Tante lieb,« sagte die Fürstin, Wolodja auf das Haar küssend. »Ich bin zwar keine nahe Verwandte, aber ich denke, es geht hier nach den freundschaftlichen Beziehungen und nicht nach dem Verwandtschaftsgrade,« wandte sie sich besonders an Großmama, die aber noch immer unzufrieden war und erwiderte: »Ach, meine Liebe, wer rechnet denn in unserer Zeit noch solche Verwandtschaft!«

»Das ist mein junger Weltmann,« deutete Papa auf Wolodja, »und dieser ein Philosoph, ein gelehrter Herr,« fügte er hinzu, während ich mir beim Küssen der kleinen dunklen Hand der Fürstin mit wunderbarer Deutlichkeit eine Rute in der Hand, und unter der Rute auf einer Bank den kleinen Etienne mit lautem Wehgeschrei: »Au, au, au! ich will's gewiß nicht wieder tun!« samt allem Zubehör vorstellte.

»Außerdem Poet; je vous prie de croire,« fügte Papa hinzu.

»Welcher?« fragte die Fürstin, mich bei der Hand fassend.

»Dieser Struwwelpeter da,« sagte Papa mit vergnügtem Lächeln.

Brauche ich dem Leser, der sich meines neuen Moskauer Anzuges erinnert, zu sagen, wie diese Bemerkung mich kränkte?

Als ich bei dem Spiegel vorbeikam, hatte ich hineingeblickt. Mein Gesicht war rot wie Siegellack; auf der Nase, die noch breiter war als gewöhnlich, und auf der breiten Stirn standen dicke Schweißtropfen; der weiße Kragen lag schief auf dem zimtbraunen Frack; das pomadisierte Haar starrte nach oben; die grauen Augen blickten trübe drein; jeder mußte bemerken, daß ich mich bemühte, nachdenklich auszusehen, in Wirklichkeit aber ein häßlicher, zerstreuter Junge war.

Obgleich ich die sonderbarsten Vorstellungen von Schönheit hatte – sogar Karl Iwanowitsch mit seiner riesigen Nase hielt ich für den schönsten Mann der Welt – wußte ich sehr gut, daß ich häßlich sei, und darin irrte ich mich nicht.

Ich weiß noch sehr gut, wie man, als ich erst sechs Jahre alt war, beim Mittagessen über mein Äußeres sprach und wie Mama sich bemühte, in meinem Gesicht etwas Hübsches zu entdecken; sie meinte, ich hätte kluge Augen, ein angenehmes Lächeln usw., und wie sie schließlich den Einwendungen Papas und dem Augenschein nachgebend, eingestand, daß ich häßlich sei; wie sie nachher, als ich ihr gesegnete Mahlzeit wünschte, meine Wange streichelte und sagte: »Das mußt du dir merken, Nikolenka, daß dich wegen deines Gesichtes niemand lieben wird; deshalb mußt du dich bemühen, ein kluger und guter Junge zu werden.«

Dieses Vorfalls erinnere ich mich sehr gut, und die Worte gaben mir nicht nur die Überzeugung, daß ich niemals hübsch werden würde, sondern sie hatten auch Einfluß auf meine Richtung. Es kam vor, daß mich Verzweiflung ergriff; ich bildete mir ein, für einen Menschen mit so breiter Nase, so dicken Lippen und kleinen Augen gäbe es kein Glück auf Erden; ich betete zu Gott, ein Wunder zu tun und mich in einen hübschen Jungen zu verwandeln; – alles was ich besaß und jemals besitzen würde, hätte ich für ein hübsches Gesicht hingegeben.