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Kindheit

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13. Grischa

Wenn es auch niemand zugab, so gruselte uns allen doch in der Dunkelheit, und wir rückten dicht nebeneinander. Nicht lange hatten wir gewartet, da trat Grischa mit seinem Stab in der einen und einem Talglicht im Messingleuchter in der anderen Hand leise ins Zimmer. Wir wagten kaum zu atmen.

Unaufhörlich betete Grischa: »Erbarme dich unser, Herr Jesus Christ, heil'ge Mutter Gottes« mit verschiedenen Betonungen und Abkürzungen, wie sie nur diejenigen gebrauchen, die die Worte häufig aussprechen. Unter Beten stellte er seinen Stab in die Ecke, besah das Bett und begann sich auszukleiden. Zunächst wickelte er seinen alten schwarzen Gürtel los und zog dann den zerrissenen langen Nangkingrock aus, faltete ihn zusammen und legte ihn über die Stuhllehne – alles das geschah mit Sorgfalt, langsam. Sein Gesicht sah jetzt nicht wie gewöhnlich zerfahren, unruhig und stumpfsinnig aus, sondern war im Gegenteil ruhig, achtunggebietend und nachdenklich.

Nur noch mit dem Hemd bekleidet, ließ er sich langsam auf das Bett nieder und zog, wie man sehen konnte, mit Anstrengung – denn er verzog das Gesicht dabei – die Ketten unter dem Hemde hoch. Nachdem er einen Augenblick gesessen hatte, stand er auf, hob unter Gebet das Licht bis zur Höhe des Heiligenschreins, in dem ein paar Bilder standen, bekreuzigte sich und kehrte das Licht mit der Flamme nach unten. Es verlosch knisternd.

In die nach dem Walde zu gelegenen Fenster schien der Vollmond. Auf der einen Seite sah man die vom Mondlicht beschienene Gestalt des Pilgers, auf der anderen Seite einen langen Schatten, der mit dem des Heiligenschreins auf den Fußboden und die Wand fiel und bis zur Decke reichte. Draußen klopfte der Wächter gegen die Eisenplatte.

Grischa kreuzte die Arme über der Brust, senkte den Kopf und seufzte unaufhörlich; endlich sank er mühsam auf die Knie und begann zu beten; anfangs leise, nur einige Worte hervorhebend, dann mit stets zunehmender Erregung. Er sprach keine bekannten Gebete mehr, – die hatte er bereits hergesagt – sondern gebrauchte seine eigenen, einfachen, kunstlosen Worte mit slawischen Endungen. Er betete für sich, bat, Gott möge ihm verzeihen, betete für Mama, für uns und schloß: »Gott, vergib meinen Feinden.« Dann erhob er sich ächzend, wiederholte immer dieselben Worte, fiel auf den Fußboden nieder, schlug mit der Stirn auf die Dielen und richtete sich mit den schweren Ketten, die beim Berühren des Bodens laut klirrten, wieder auf.

Wolodja kniff mich ins Bein und zwar sehr heftig; ich sah mich aber nicht um, sondern rieb mir mit der Hand das Bein und verfolgte mit einem Gefühl kindlichen Erstaunens, Mitleids und frommer Rührung alles, was da nebenan geschah.

Statt der lustigen Scherze und des Lachens, auf die ich in dem Versteck gerechnet hatte, fühlte ich Zittern und Herzklopfen.

Lange, lange blieb Grischa in diesem Zustand religiöser Verzückung und sprach seine selbsterfundenen Gebete. Die Worte waren einfach, aber rührend. Bald wiederholte er mehrmals hintereinander: »Herr, erbarme dich unser! Herr, erbarme dich unser!« aber jedesmal mit neuer Inbrunst und anderem Ausdruck – bald betete er: »Verzeih mir, Gott! Zeig mir, was ich tun soll; zeig mir, was ich tun soll! mein Gott!« mit einem Ausdruck, als wenn er mit jemandem spräche und sofort eine Antwort erwartete. Dann wieder ertönte klägliches Schluchzen. Endlich erhob er sich auf die Knie, kreuzte die Arme auf der Brust, richtete die Augen gen Himmel und verstummte.

Ich schob langsam den Kopf durch die Tür und blickte mit verhaltenem Atem auf Grischa. Er rührte sich nicht; aus seiner Brust drang schweres Stöhnen; sein blindes Auge wurde vom Mond beschienen, der trübe, weißfarbene Augapfel war feucht und an den Wimpern hing eine Träne.

»Dein Wille geschehe!« rief er plötzlich mit nicht wiederzugebendem Ausdruck, fiel mit der Stirn auf den Boden und schluchzte wie ein Kind.

Viel Wasser ist seitdem zu Tal geflossen; viele Erinnerungen haben ihre Bedeutung verloren und sind leere Träume geworden; sogar der Pilger Grischa hat längst seine letzte Pilgerfahrt beendet – der Eindruck aber, den er auf mich machte, und das Gefühl, das er in mir hervorrief, werden niemals aus meinem Gedächtnis schwinden.

O, du großer Christ Grischa! Wie stark war dein Glaube! Du wußtest, daß Gott dich hört; deine Liebe war so groß, daß die Worte von selbst über deine Lippen strömten – du hast sie nicht mit dem Verstand abgewogen. Und welch hohes Lob warst du für Seine Größe, als du ohne Wort dich in Tränen auf den Boden warfst! …

14. Im Verschlag

Das Gefühl der Rührung, mit dem ich Grischa zuhörte, konnte nicht lange anhalten, weil meine Neugierde befriedigt war, weil bei dem Sitzen auf demselben Fleck meine Füße eingeschlafen waren und weil ich mich an dem Flüstern und Stoßen der anderen im Verschlage beteiligen wollte.

Da faßte jemand meine Hand und flüsterte: »Wer ist das?«

Es war so dunkel in dem Verschlage, daß wir uns nicht sehen konnten; an der Berührung und der Stimme dicht an meinem Ohr erkannte ich sofort Katja.

In demselben Augenblick empfand ich ein süßes Zittern und dachte an die Stelle unter dem Busentuch, die ich heute im Walde geküßt hatte. Ich erwiderte nichts auf ihre Frage, sondern ergriff mit beiden Händen ihren Arm, preßte ihn gegen meine Lippen und küßte ihn heftig. Aber damit begnügte ich mich nicht; ohne ihren Arm loszulassen, knöpfte ich vorsichtig den Ärmel auf und bedeckte den Arm von der Handwurzel bis zum Ellbogen an der Stelle, an der zur Ader gelassen wird, mit leidenschaftlichen Küssen. Als ich die Lippen in dieses Grübchen schmiegte, empfand ich einen unbeschreiblichen Genuß und dachte nur an eins – nämlich mit den Lippen nicht zu viel Geräusch zu machen, um mich nicht zu verraten.

Katja zog ihre Hände nicht zurück, sondern suchte mit der anderen meinen Kopf, streichelte mein Gesicht und das Haar und suchte mich fortzudrängen. Dann zog sie, als ob sie sich schämte, schnell ihren Arm zurück und streifte den Ärmel herunter; ich packte ihn aber wieder und preßte ihn noch stärker, bis mir Tränen aus den Augen rannen. Ich tat ihr leid, sie beugte sich über mich und berührte mein Haar. Jetzt war mir so angenehm wie nie im Leben; ich wünschte nur, dieser selige Zustand möchte nie aufhören.

Wie soll ich den Genuß beschreiben, den ich empfand. Es kam hinzu, daß die Haut auf dem Arm, den ich küßte, so zart und weich war, und der Gedanke, daß dieser Arm Katja gehörte, die ich stets geliebt hatte, und von der ich mich morgen, vielleicht auf immer, trennen sollte. Aber was bedeutete dieses süße Weh, das ich empfand und das mir Tränen in die Augen trieb?

Beim Versuch, mich bequemer hinzusetzen, stieß ich unversehens mit dem Fuß gegen einen zerbrochenen Stuhl im Verschlage. Ich weiß nicht, warum das Wolodja sehr komisch vorkam; ich hörte voll Schreck, wie er Ljubotschka etwas (wahrscheinlich sehr Komisches) zuflüsterte und wie beide sich umsonst bemühten, das Lachen zurückzuhalten; dann brachten bald der eine, bald die andere mit der Nase sonderbare, abgerissene Töne hervor, ähnlich dem Wiehern eines Füllens. Die Töne wurden häufiger und lauter. Grischa erhob den Kopf, sah sich um und schlug betend das Kreuz nach allen Seiten. Das kam nun allen so komisch vor, daß Ljubotschka und Wolodja plötzlich in schallendes Gelächter ausbrachen, in das auch Katja einstimmte. Natürlich blieb ich nicht zurück, und wir brachen lärmend und schreiend aus dem Versteck hervor.

15. Natalie Sawischna

Mitte des vorigen Jahrhunderts lief im Dorfe Chabarowka in einem dunklen Kleidchen vom Kaufmann Satrapesnikow ein barfüßiges, lustiges, dickes, rotbäckiges Mädchen umher – das war Natascha. Wegen der Verdienste und auf Bitten ihres Vaters, des Klarinettenbläsers Sawwa, nahm mein Großvater sie unter die weiblichen Dienstboten Großmamas auf. Als Stubenmädchen zeichnete Natascha sich durch Bescheidenheit und Pflichteifer aus. Als Mama geboren wurde und eine Wärterin nötig war, fiel dieses Amt Natalie zu. Auch in dieser neuen Tätigkeit erntete sie Lob und Belohnungen wegen ihrer Treue und Anhänglichkeit an die junge Herrin. Aber die zärtlichen blauen Augen, der gepuderte Kopf und die wohlgeformten Beine in Schnallenschuhen, im Verein mit den Liebkosungen und heimlichen Anträgen des Dieners Foka raubten dem jungen unerfahrenen Ding die Herzensruhe und veranlaßten sie zu einem Schritt, der ihre Zukunft für immer verderben konnte: sie bat um Erlaubnis, Foka heiraten zu dürfen. Großvater wurde zornig auf Natalie und verbannte sie ins Dorf Beresowka auf den Viehhof. Nach dreijähriger Verbannung wurde Natalie, da niemand sie bei der Mutter ersetzen konnte, zurückgerufen. Mit schuldiger Miene erschien sie vor Großpapa, erklärte, sie wüßte selbst nicht, wie sie zu einer solchen Dummheit gekommen sei und bat um Verzeihung.

Von da ab wurde aus Natascha eine Natalie Sawischna, und außerdem trug sie ein Häubchen. Fokas Blicke beunruhigten ihr Herz nicht mehr – den ganzen Vorrat von Liebe, den sie besaß, übertrug sie auf ihre Herrschaft, besonders auf Mama.

Als Großmutter dann eine Gouvernante engagierte, erhielt sie die Schlüssel zur Vorratskammer und ihr wurden die Wäsche und alle Haushaltungsgegenstände anvertraut. Überall sah sie Verschwendung, Verlust und Mißbrauch des Herrschaftsgutes und suchte mit allen Mitteln dagegenzuwirken. Von dem früheren Verhältnis zu Foka war nicht mehr die Rede; im Gegenteil, als Büfettier war er ihrem Zorn mehr als andere ausgesetzt.

Als Mama heiratete, wollte sie Natalie Sawischna für ihre zwanzigjährigen Dienste und ihre Anhänglichkeit danken, rief sie zu sich, drückte ihr in schmeichelhaften Worten ihre Erkenntlichkeit und Liebe aus und händigte ihr einen Stempelbogen ein, laut welchem Natalie Sawischna die Freiheit erhielt. Gleichzeitig teilte sie ihr mit, sie würde, einerlei ob sie in unserem Hause weiterdiente oder nicht, eine jährliche Pension von dreihundert Rubeln erhalten.

 

Natalie Sawischna hörte alles schweigend mit an, dann nahm sie den Freibrief, starrte ihn ärgerlich an, murmelte etwas vor sich hin und lief, die Tür hinter sich zuschlagend, aus dem Zimmer. Da Mama den Grund dieses Benehmens nicht begriff, ging sie etwas später in Natalies Zimmer. Diese saß mit verweinten Augen auf ihrem Koffer, drehte das Schnupftuch zwischen den Fingern und blickte unverwandt auf die Fetzen des zerrissenen Freibriefes vor ihr auf dem Fußboden.

»Was ist mit dir, liebe Natalie?« fragte Mama fassungslos und ergriff ihre Hand.

»Nichts, Mütterchen,« erwiderte sie, kaum die Tränen zurückhaltend, »ich bin Ihnen wohl zuwider geworden, daß Sie mich aus dem Hause jagen. Gut, ich gehe schon.«

Sie riß ihre Hand los und wollte das Zimmer verlassen. Aber Mama hielt sie zurück, umarmte sie und beide brachen in Tränen aus.

Solange ich etwas von mir weiß, erinnere ich mich auch an Natalie Sawischna und ihre Liebe und Zärtlichkeit; aber erst jetzt weiß ich sie zu schätzen – damals kam mir nie in den Sinn, welch seltenes, wunderbares Geschöpf diese Alte war. Sie sprach nicht nur niemals von sich, sondern dachte auch niemals an sich: ihr ganzes Leben war Liebe und Aufopferung; deswegen legte ich mir auch niemals die Frage vor, ob sie glücklich und zufrieden sei. Ich war an ihre uneigennützige, zärtliche Liebe zu uns so gewöhnt, daß ich nie auf den Gedanken kam, es könne anders sein und ihr innerlich nie dankte.

Bisweilen lief man unter dem Vorwande eines Bedürfnisses aus der Schulstunde in ihr Zimmer, ließ sich da nieder und träumte und sprach mit sich selbst, ohne sich durch ihre Anwesenheit geniert zu fühlen. Stets war sie beschäftigt. Sie zählte Wäsche oder kramte in den Kisten und Kasten, die ihr Zimmer füllten oder strickte Strümpfe und erwiderte auf den Unsinn, den ich schwatzte: »Ja, mein Liebling, ja.« Gewöhnlich wenn ich aufstand und fortgehen wollte, öffnete sie den blauen Kasten, auf dessen Deckel innen, wie ich noch weiß, das bunte Bild eines Husaren, ein Bogen mit Pomadenbüchsen und Wolodjas Bleistiftzeichnung geklebt waren. Dann nahm sie eine Räucherkerze aus dem Kasten, zündete sie an, schwenkte sie hin und her und sagte: »Das ist noch Räucherwerk aus Otschakow, mein Liebling. Als dein verstorbener Großvater – Gott hab ihn selig – gegen die Türken zog, brachte er das mit. Das ist schon das letzte Stück,« schloß sie mit einem Seufzer.

In den Kisten in ihrem Zimmer war einfach alles. Wenn jemand irgend etwas brauchte, hieß es gewöhnlich »frag Natalie«. Und wirklich, nach kurzem Stöbern fand sie den gewünschten Gegenstand und sagte: »Da hab' ich's gerade noch aufbewahrt.«

In diesen Kisten waren tausend Dinge, von denen niemand wußte als sie.

Nur ein einziges Mal war ich ihr böse. Das kam so. Als ich mir zum Mittagessen Kwas einschänkte, warf ich die Karaffe um und begoß das Tischtuch.

»Ruf mal Natalie Sawischna, damit sie sich über ihren Liebling freut,« sagte Mama.

Sie kam, sah die Überschwemmung, die ich angerichtet hatte und schüttelte den Kopf. Dann sagte Mama ihr etwas ins Ohr, und sie ging, mir mit dem Finger drohend, hinaus. Als ich nach Tisch in den Saal ging, sprang plötzlich Natalie Sawischna mit dem Tischtuch in der Hand hinter der Tür hervor, packte mich und fuhr mit den Worten: »Mach das Tischtuch nicht schmutzig, mach das Tischtuch nicht schmutzig!« über mein Gesicht. Das brachte mich so in Wut, daß ich laut brüllte.

Wie! sagte ich mir unter Tränen, Natalie Sawischna, einfach Natascha, unsere Leibeigene, sagt »du« zu mir und fährt mir mit dem nassen Tischtuch ins Gesicht wie einem Hofjungen! Nein, das ist schrecklich!

Als Natalie Sawischna sah, daß ich Speichel ließ, lief sie fort. Ich aber wanderte im Saal auf und ab und brütete, wie ich mich wegen dieser Beleidigung an der frechen Natalie rächen könnte.

Nach einigen Minuten kehrte sie zurück, trat schüchtern an mich heran und begann mich zu trösten.

»Nun hören Sie doch auf, Liebling, weinen Sie nicht mehr … ist gut; verzeihen Sie mir Närrin. Ich habe unrecht. Verzeihen Sie mir … da ist etwas.«

Sie wickelte aus ihrem Tuch eine Schachtel aus rotem Papier mit zwei Brustbonbons und einer Weinbeere und reichte sie mir mit zitternder Hand. Ich hatte nicht die Kraft, der braven Alten ins Gesicht zu sehen; nahm abgewandt das Geschenk entgegen, und die Tränen flossen noch reichlicher, aber nicht mehr aus Ärger, sondern aus Liebe und Scham.

16. Die Trennung

Einen Tag nach den beschriebenen Ereignissen hielten um zwölf Uhr mittags ein Reisewagen und ein offener Wagen vor der Anfahrt. Nikolas war reisemäßig gekleidet, das heißt er hatte die Hosen in die Stiefel gesteckt und seinen alten Rock mit einem Gürtel festgeschnürt. Er stand in dem offenen Wagen und legte Mäntel und Kissen unter den Sitz; als dieser ihm hoch genug schien, setzte er sich auf die Kissen und drückte sie, auf und nieder springend, zusammen.

Mit den Worten: »Seien Sie so liebenswürdig, Nikolai Dmitritsch – kann man bei Ihnen nicht die Schatulle des gnädigen Herrn unterbringen?« kam Papas Diener aus dem Reisewagen hervorgekrochen. »Sie ist nur klein.«

»Das hätten Sie auch früher sagen können, Michail Iwanitsch,« erwiderte Nikolas hastig und schleuderte dabei ärgerlich ein Bündel auf den Boden des Wagens. »Mir dreht sich, weiß Gott, schon alles im Kreise;« er lüftete die Mütze und wischte sich dicke Schweißtropfen von der verbrannten Stirn. »Jetzt machen Sie was Sie wollen – ich kann Ihre Schatullen nicht mehr unterbringen.«

Bauern in Röcken, Kaftanen, Hemden, ohne Mützen, Weiber in Baumwollenkleidern und gestreiften Kopftüchern, sowie barfüßige Kinder standen an der Treppe, starrten auf die Wagen und unterhielten sich. Ein vom Alter gebeugter Fuhrmann in Wintermütze und langem dicken Rock hielt die Wagendeichsel in der Hand, bewegte sie tiefsinnig hin und her und achtete auf den Hauseingang; ein anderer junger stattlicher Bursche in weißem Hemd mit roten Achselzwickeln und schwarzem kuchenförmigen Filzhut, den er, sein Blondhaar krauend, von einem Ohr auf das andere schob, legte seinen Rock auf den Bock, warf die Zügel hin, klatschte dann mit der Peitsche ins Gras und schaute den Kutschern zu, die den zweiten Wagen schmierten. Parthenius hielt den Hebebaum, Iwan schmierte, über das Rad gebeugt, sorgfältig die Achse und Nabe, und damit keine Schmiere verloren ging, schmierte er sie von unten her rund um. Die zerzausten, abgetriebenen Postpferde am Gitter wedelten mit den Schwänzen die Fliegen ab, scharrten mit den zottigen, warzenbedeckten Beinen und zupften harte dunkelgrüne Farnkrautblätter ab, die an der Treppe wuchsen. Einige Barsois (Windhunde) lagen schweratmend in der Sonne, andere schlichen um die Wagen herum und leckten das von der Achse triefende Fett auf. Keine Wolke stand am Himmel, dabei bog ein starker Westwind die hohen Linden- und Birkenwipfel und trug fallende gelbe Blätter weithin. Ich saß am Fenster, sah das alles mit an und erwartete mit Ungeduld das Ende all der Vorbereitungen. Endlich war es so weit; ich wurde ins Gastzimmer gerufen.

Als hier alle um den runden Tisch versammelt waren, um zum letztenmal ein paar Minuten zusammen zu verbringen, kam mir nicht in den Sinn, welch trauriger Moment uns bevorstand. Die müßigsten Gedanken zogen mir durch den Kopf; ich fragte mich, welcher Kutscher den Reisewagen und welcher die Kalesche führe. Wer neben Papa und wer neben Karl Iwanowitsch säße, und warum man mich in einen Schal und langen Schlafrock wickeln wollte. Ich war doch kein Weichling und würde schon nicht erfrieren.

Wenn das alles nur bald ein Ende hätte, wenn man einsteigen und losfahren könnte!

Das Fahren mit Postpferden war nämlich einer unserer stolzesten sehnlichsten Wünsche, dessen Erfüllung mich fast davon überzeugte, daß wir erwachsen wären.

»Wem soll ich das Verzeichnis der Kinderwäsche geben?« fragte Natalie mit verweinten Augen, indem sie auf Mama zutrat.

»Geben Sie es Nikolas,« sagte Mama, »und kommen Sie nachher, um von den Kindern Abschied zu nehmen.«

Die Alte wollte etwas erwidern, stockte aber plötzlich, bedeckte das Gesicht mit dem Taschentuch und verließ mit einer abwehrenden Handbewegung das Zimmer. In meinem Herzen rührte sich etwas, als ich diese Bewegung sah, aber meine Ungeduld war stärker als dieses Gefühl des Mitleids, und so hörte ich weiter gleichgültig die Unterhaltung zwischen Papa und Mama an. Sie sprachen von Dingen, die offenbar beide nicht besonders interessierten: was für den Haushalt einzukaufen wäre, was man der Fürstin Sophie und Madame Julie sagen sollte und ob der Weg gut wäre. Über die Trennung fiel kein Wort.

Foka erschien, blieb in der Tür stehen und sagte im selben Tonfall, in dem er zu melden pflegte: »Das Essen ist angerichtet« – »Die Wagen sind vorgefahren.« Ich bemerkte, daß Mama bei dieser Meldung zusammenfuhr als käme sie ihr unerwartet, und blaß wurde.

Jetzt mußte Foka alle ins Zimmer führen und dann die Türen schließen, was mich sehr amüsierte und wunderte. Es war, als ob alle sich vor jemandem versteckten.

Jetzt ließ Foka sich auf eine Stuhlecke fallen. Aber kaum war das geschehen, da knarrte die Tür, alle setzten sich nun, und, mit dem Schnupftuch in der Hand, trat Natalie Sawischna hastig ins Zimmer und ließ sich auf demselben Stuhl mit Foka dicht an der Tür nieder. Noch jetzt sehe ich den Glatzkopf und das unbewegliche Runzelgesicht Fokas neben der gebeugten braven Alten im Häubchen, unter dem sich graues Haar hervorstahl. Sie drückten sich auf demselben Stuhl herum, und es war beiden ungemütlich.

Ich blieb nach wie vor unbekümmert und ungeduldig; die zehn Sekunden, die wir bei geschlossenen Türen saßen, kamen mir wie eine Stunde vor. Endlich erhob sich alles, bekreuzigte sich und fing an, Abschied zu nehmen. Papa umarmte Mama und küßte sie mehrmals auf die Lippen. Das wiederholten beide so oft, daß es mir komisch vorkam, und ich dachte, wann das alles wohl ein Ende nehmen würde.

»Genug, mein Liebling,« sagte Papa, »wir trennen uns ja nicht auf immer.«

»Es ist aber doch schwer,« erwiderte Mama, wobei ihre Stimme vor Tränen zitterte.

Als ich diese Stimme hörte und Mamas Augen voll Tränen sah, vergaß ich alles, und die liebe Mutter tat mir so leid, und die Trennung wurde mir so schwer, daß ich bange den Augenblick erwartete, wo die Reihe des Abschiednehmens an mich kommen würde. Ich fühlte und begriff in dieser Minute, daß Mama, als sie Papa umarmte, sich schon von uns verabschiedet hatte.

Dann küßte und segnete sie Wolodja so häufig, daß ich im Glauben, jetzt ebenfalls an die Reihe zu kommen, mich schon mehrmals vordrängte. Aber Mama segnete ihn immer wieder und drückte ihn ans Herz.

Endlich umarmte auch ich Mama, schmiegte mich fest an sie und weinte helle Tränen, nur an meinen Kummer denkend.

Als wir zum Wagen gingen, drängte das lästige Gesinde zum Abschiednehmen ins Zimmer. Ihr »Bitte das Händchen«, die schallenden Küsse auf die Schulter und der Fettgeruch von den Köpfen ärgerten mich fast bis zur Erbitterung, wie das bei sensitiven Naturen vorkommt. Unter dem Einfluß dieses Gefühls küßte ich Natalie Sawischna, als sie ganz in Tränen von mir Abschied nahm, sehr kühl auf die Haube.

Wunderbar, daß ich alle Gesichter des Gesindes noch jetzt so deutlich vor mir sehe, daß ich sie mit den kleinsten Einzelheiten zeichnen könnte; Mamas Gesicht und Stellung dagegen ist mir vollständig entschwunden. Wahrscheinlich rührt das daher, daß ich mir während der ganzen Zeit nicht einmal das Herz faßte, sie anzusehen. Mir schien, daß, wenn ich das täte, ihr und mein Schmerz unerträglich werden würde.

Ich stürmte zuerst in den großen Wagen, um niemanden mehr zu sehen, und setzte mich auf den Rücksitz. Obgleich ich wegen des Verdecks des Wagens nichts sehen konnte, sagte mir mein Gefühl, daß Mama noch hier sei.

Soll ich sie noch einmal küssen oder nicht? Na, zum letztenmal, sagte ich zu mir selbst und beugte mich aus dem Wagen zur Treppe. Im selben Augenblick trat Mama mit dem gleichen Gedanken an die andere Wagenseite und rief mich beim Namen. Beim Hören ihrer Stimme wandte ich mich um, aber so schnell, daß wir mit den Köpfen zusammenstießen; sie lächelte schmerzlich und küßte mich fest, zum letztenmal.

Ich wagte sie erst anzusehen, als wir schon einige Schritte gefahren waren. Der Wind lüftete ihr blaues Tuch, das sie beim Hinaustreten um den Kopf geschlungen hatte. Jetzt senkte sie den Kopf, bedeckte das Gesicht mit den Händen und ging langsam hinein. Foka stützte sie.

Papa saß neben mir, Wolodja – gegenüber. In seinen Augen war keine Spur einer Träne, aber er war blaß wie ein Taschentuch und schnitt bisweilen mit dem Munde schreckliche Grimassen. Ich wimmerte und schluchzte vor Tränen und dabei schnürte mir etwas die Kehle zusammen, daß ich zu ersticken fürchtete.

 

Papa sagte kein Wort und sah uns bisweilen teilnahmsvoll an; diese Teilnahme gefiel mir, und der Gedanke, daß meine Tränen Herz verrieten, machte mir Vergnügen und tröstete mich.

Ich setzte mich bequemer hin und betrachtete aufmerksam die nächsten Gegenstände vor meinen Augen – das Hinterteil des Beipferdes auf meiner Seite. Ich sah, wie es mit dem Schweif wedelte, wie ein Bein das andere streifte, wie die Peitsche des Kutschers es berührte und wie es aus dem Trab in Galopp verfiel; sah, wie der Längsriemen und an diesem Längsriemen die Schnallen hin- und herrutschten – sah so lange hin, bis sich das Geschirr an einigen Stellen mit Schaum bedeckte. Dann schaute ich in die Runde, auf die wogenden reifen Kornfelder, die dunkle Brache, auf der am Horizont ein Bauer mit Pflug und ein Pferd mit Füllen sichtbar wurden, und auf die Werstpfähle; blickte sogar auf den Kutschbock, um zu sehen, welcher Kutscher uns führe, und die Tränen in meinem Gesicht waren noch nicht getrocknet, als meine Gedanken schon weit von der Mutter schweiften, von der ich mich vielleicht für immer getrennt hatte.

Dennoch lenkte jede Erinnerung meine Gedanken zu ihr. Als wir zwanzig Werst gefahren waren, fiel mir ein, daß ich vor zwei Tagen im Garten einen kleinen Birkenpilz gefunden hatte. Ich hatte ihn nicht abgebrochen, sondern mit trockenen Blättern bedeckt, da ich warten wollte, bis er gewachsen wäre.

Jetzt fuhr ich fort und hatte ihn vergessen. Wer würde ihn pflücken? Vielleicht zertrat ihn der Gärtner, vielleicht fanden ihn Ljubotschka und Katja.

Dabei fiel mir ein, wie die beiden, besonders Ljubotschka, beim Abschied von uns geweint hatten.

Sie taten mir leid, und Natalie Sawischna ebenfalls, und die Birkenallee, und sogar die böse Mimi – alle, alle! Und die arme Mama. Tränen traten wieder in meine Augen, aber nicht für lange.