Kostenlos

Kindheit

Text
Als gelesen kennzeichnen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

9. Spiele

Die Jagd war zu Ende. Im Schatten war ein Teppich ausgebreitet, auf dem die ganze Gesellschaft sich im Kreise lagerte. Der Küchenchef Gabriel hockte vor einem Korbe nieder und nahm daraus Birnen und Pfirsiche, die in Blätter eingewickelt waren. Um von diesen schönen Sachen etwas abzubekommen, mußte man geduldig warten, bis Gabriel jedes Stück ausgewickelt hatte, dann Teller holte, sie abwischte, alles darauf legte, die Teller symmetrisch auf den Teppich setzte, jeden einzelnen Teller noch einige Male zurechtrückte, als wenn das auf Wunsch und Willen dieser schönen Sachen geschähe, die nicht in ganz gleichem Abstand voneinander dalägen. Wenn ich diese Vorbereitungen sah, überkam mich stets ein Gefühl der Unzufriedenheit. Ich war überzeugt, daß das alles absichtlich und nur geschähe, um mich zu ärgern, besonders, weil ich an den Korb herangelassen den ganzen Inhalt mitsamt den Blättern verzehrt haben würde.

Als wir unsere Portion Gefrorenes und Früchte bekommen hatten, gab es auf dem Teppich für uns nichts mehr zu tun. Trotz der schrägen, sengenden Sonnenstrahlen standen wir auf, um zu spielen.

»Also was?« sagte Ljubotschka im Grase hüpfend und wegen der Sonne mit den Augen blinzelnd. »Laßt uns ›Robinson‹ spielen.«

»Nein, das ist langweilig,« sagte Wolodja, der sich faul im Grase wälzte und Blätter kaute. »Immer und ewig Robinson! Wenn ihr schon spielen wollt, laßt uns eine Laube bauen.«

Wolodja wollte sich augenscheinlich wichtig machen. Wahrscheinlich war er stolz auf sein Jagdpferd und stellte sich nun müde. Vielleicht besaß er auch zu viel gesunde Vernunft und zu wenig Einbildungskraft, um an dem Robinsonspiel Gefallen zu finden. Dieses bestand in der Darstellung von Szenen aus dem Schweizer Robinson, den wir kurz zuvor gelesen hatten.

»Nein bitte, warum willst du uns nicht den Gefallen tun!« drangen die Mädchen in ihn. »Du bist Charles oder Ernest oder Vater – was du willst,« sagte Katja, die ihn am Ärmel vom Boden hochzuziehen suchte.

»Ich mag wirklich nicht; ist so langweilig!« erwiderte Wolodja, sich dehnend, mit selbstgefälligem Lächeln.

»Dann kann man ja lieber zu Hause bleiben, wenn niemand spielen will,« brachte Ljubotschka unter Tränen heraus. Sie war eine schreckliche Heulliese.

»Also kommt; nur bitte, nicht weinen; das kann ich nicht ausstehen.«

Wolodjas gnädige Herablassung machte uns wenig Vergnügen. Sein faules und langweiliges Benehmen nahm dem Spiel den Reiz. Als wir auf der Erde saßen und auf den Fischfang fuhren, wobei wir aus Leibeskräften ruderten, saß Wolodja mit gekreuzten Armen in einer Haltung da, die mit der eines Fischers nicht die geringste Ähnlichkeit hat. Ich sagte ihm das, aber er erwiderte, daß wir durch unser stärkeres oder schwächeres Armschwenken nichts profitierten und nicht im geringsten vorwärts kämen. Darin mußte ich ihm unwillkürlich recht geben. Als ich mit einem Stock auf der Schulter dem Walde zuschritt und sagte, ich ginge jetzt auf die Jagd, legte Wolodja sich auf den Rücken, schlang die Hände um den Hinterkopf und sagte, er ginge jetzt auch auf die Jagd.

Dieses Benehmen und solche Worte kühlten unseren Spieleifer merklich ab, besonders, da wir im Grunde unseres Herzens Wolodjas Worte für ganz vernünftig erklären mußten.

Ich weiß selbst, daß man mit einem Stocke keinen Vogel töten und nicht schießen kann. Es ist Spiel. Wenn man so denkt, kann man auch auf Stühlen nicht fahren; ich denke aber, Wolodja weiß noch recht gut, wie wir an langen Winterabenden einen Sessel mit Tüchern bedeckten und einen Wagen daraus machten – einer war Kutscher, der andere Lakai, die Mädchen kamen in die Mitte; drei Stühle bildeten die Troika und dann ging's los. Und was für mannigfache Zwischenfälle passierten auf dieser Fahrt, und wie schnell und fröhlich vergingen die Winterabende! …

Wenn man alles genau nimmt, gibt es gar kein Spiel. Wenn das aber fehlt, was bleibt dann?!

10. Etwas wie eine erste Liebe

Als Ljubotschka im Spiel von einem Baum amerikanische Früchte pflückte, riß sie ein Blatt mit einer großen grünen Raupe ab. Erschreckt schleuderte sie es auf den Boden und schnitt dabei eine komische Grimasse; hob die Hände hoch und sprang beiseite, als fürchtete sie, mit etwas bespritzt zu werden. Das Spiel hörte auf und wir bückten uns alle und steckten die Köpfe zusammen, um dieses Wundertier zu betrachten. Katja war so mutig, die Raupe aufzuheben, schob ihr einen trockenen Grashalm in den Weg und machte, um das besser zu können, eine Bewegung mit der Schulter, über die Mimi stets ärgerlich wurde und sagte: »C'est un mouvement de femme de chambre.«

Das Kleid mit dem Halsausschnitt rutschte den Mädchen beim Bücken von der Schulter. Sie brachten es dadurch wieder in die richtige Lage, daß sie die Schulter senkten und schnell hoben. Über die Raupe gebeugt, machte Katja eben diese Bewegung, als ich ihr über die Schulter blickte. Der Wind hob das Busentuch von ihrem weißen Halse. Ich blickte schon nicht mehr auf die Raupe, sondern auf die nur zwei Finger breit von meinen Lippen entfernte nackte Schulter. Ich sah und sah, und preßte dann meine Lippen so heftig darauf, daß Katja zurückwich, und empfand dabei solchen Genuß, daß ich am liebsten nie aufgehört hätte. Katja wandte sich nicht einmal um; aber ich bemerkte, daß nicht nur die Stelle, die ich geküßt, sondern ihr ganzer Hals rot wurde. Wolodja sagte verächtlich, ohne den Kopf zu heben: »Was sind das für Zärtlichkeiten!« und beschäftigte sich weiter mit der Raupe. Mir aber traten vor Lust und Scham Tränen in die Augen.

Dieses Lustgefühl war für mich ganz neu; nur einmal, als ich meinen bloßen Arm betrachtete, hatte ich etwas Ähnliches empfunden.

Obgleich ich mich sehr schämte, verwandte ich von jetzt ab kein Auge von Katja.

Während wir spielten, überredete Mama den Vater, die Trennung bis auf morgen nach dem ersten Frühstück zu verschieben, und davon wurde uns sofort Mitteilung gemacht.

Auf dem Heimweg ritten wir neben dem Jagdwagen. Wolodja und ich suchten uns gegenseitig an Schneidigkeit und Reitkunst zu überbieten und galoppierten um den Wagen herum. Mein Schatten war jetzt länger als vorhin; daraus schloß ich, daß ich einen stattlichen Reiteranblick böte. Das Gefühl der Zufriedenheit, das ich darüber empfand, wurde aber bald durch folgenden Vorfall beeinträchtigt.

In dem Wunsche, alle Insassen des Wagens endgültig für mich einzunehmen, besonders Katja, die zwar selten, aber doch nach mir ausschaute, blieb ich etwas zurück, trieb dann mein Pferdchen mit Gerte und Füßen vorwärts, nahm eine ungezwungen graziöse Haltung an und wollte im Galopp auf der Seite, wo Katja saß, am Wagen vorübersprengen. Ich war nur bezüglich eines Punktes unschlüssig, ob ich nämlich schweigend oder mit Hurrageschrei vorübersprengen sollte.

Als der unausstehliche Gaul aber neben den Wagenpferden war, blieb er trotz all meiner Bemühungen so unerwartet stehen, daß ich vom Sattel auf den Hals flog und fast gefallen wäre. Krebsrot vor Scham suchte ich wieder Haltung anzunehmen und ritt dann, ohne mich weiter umzusehen, hinter den anderen her. Im Augenblick meines Mißgeschicks hatte ich Geschrei, Kreischen und Gelächter aus dem Wagen gehört; und unter den Lachenden war Katja. Deswegen war ich ihr schrecklich böse.

Zu Hause angelangt, ließ Mama Lichter bringen, nahm ein Notenheft und setzte sich ans Klavier. Wolodja, Ljuboschka und Katja liefen in den Saal, um zu spielen; ich kletterte mit den Füßen auf den Großvaterstuhl im Gastzimmer und legte mich hin, um zuzuhören. Katja kam, um mich auch in den Saal zu holen; aber ich war ihr böse und bat sie, mich in Ruhe zu lassen.

11. Die Musik

Mama spielte leicht und flüchtig mit beiden Händen eine Tonleiter, rückte dann den Klavierbock näher und spielte das graziöse scherzhafte zweite Konzert von Field – ihrem Lehrer.

Sie spielte herrlich, hämmerte nicht auf den Tasten herum, wie die Schüler und Schülerinnen der neuen Schule, trat nicht Pedal bei Harmoniewechsel, griff nicht Arpeggio und verlangsamte nicht unnötig das Tempo, um, wie viele tun, ihrem Spiel mehr Ausdruck zu geben; fügte auch nicht eigene Modulationen hinzu.

Mir gegenüber führte die Tür ins Arbeitszimmer von Papa. Ich sah, wie Jakob und einige bärtige Leute mit langen Röcken dort eintraten; hinter ihnen wurde die Tür sofort wieder geschlossen.

Jetzt beginnt da die Arbeit – dachte ich. Es kam mir vor, als wenn es etwas Wichtigeres, als im Arbeitszimmer geschah, in der ganzen Welt nicht geben könnte. Hierin bestärkte mich noch der Umstand, daß alle Leute ins Arbeitszimmer stets auf den Zehenspitzen und flüsternd eintraten, während von drinnen her laute Stimmen und Zigarrengeruch kamen, welcher Duft mir stets, ich weiß nicht warum, Ehrfurcht einflößte. Ich wollte bei den einfach herzlichen Klängen des Fieldschen Konzerts gerade in süße Träumerei versinken, als ich im Dienerzimmer plötzlich sehr bekanntes Stiefelknarren hörte und die Augen öffnete. Karl Iwanowitsch schritt, zwar mit einer Miene, die Entschlossenheit ausdrückte, aber ebenfalls auf Zehenspitzen, mit Papieren in der Hand zur Tür und klopfte leise an. Er wurde eingelassen, dann schlug die Tür wieder zu.

Wenn da nur nicht ein Unglück passiert, dachte ich. Karl Iwanowitsch ist böse und in solchen Augenblicken zu allem fähig.

In diesem Augenblick spielte Mama das Konzert von Field zu Ende, erhob sich von dem runden Klavierbock, nahm ein anderes Notenheft, stellte es auf das Pult, schob die Lichter näher und setzte sich, nachdem sie ihr Kleid geordnet, wieder an den Flügel. Die Aufmerksamkeit, mit der sie das alles tat, und der nachdenklich strenge Gesichtsausdruck deuteten an, daß sie ein sehr ernstes Stück spielen wollte. Was mochte das sein? dachte ich, schloß wieder die Augen und lehnte den Kopf gegen die Sesselecke. Der Geruch des Staubes, den ich beim Umdrehen aufwirbelte, kitzelte mir die Nase; die längst bekannten Klänge des Stückes, das Mama spielte, übten einen süßen und gleichzeitig beunruhigenden Eindruck auf mich aus … Sie spielte die Sonate pathétique von Beethoven. Obgleich ich diese ganze Sonate so gut kannte, daß mir nichts in ihr neu war, konnte ich vor Unruhe nicht einschlafen. Wenn nun plötzlich nicht das käme, was ich erwartete? Das verhaltene, majestätisch erhabene, aber unruhige Einleitungsmotiv, das gleichsam Scheu trägt, sich zu äußern, ließ mich den Atem anhalten. Je schöner und komplizierter die Phrasierung, um so stärker wurde das Angstgefühl, es könnte etwas diese Schönheit stören, und um so stärker das Gefühl der Freude, wenn die Phrase harmonisch endete.

 

Ich beruhigte mich erst, als das Einleitungsmotiv alles aussprach und geräuschvoll in das Allegro überging. Der Anfang des Allegro ist zu gewöhnlich; deswegen liebe ich es nicht. Man hat unterdessen Gelegenheit, von den starken Empfindungen des ersten Teiles auszuruhen. Was kann es aber Schöneres geben, als die Stelle, wo das Fragen und Antworten beginnt! Zunächst ist die Unterhaltung leise und zärtlich; dann spricht plötzlich jemand im Baß zwei so strenge, dabei von Leidenschaft erfüllte Phrasen, auf die man, scheint's, nichts antworten kann … Doch nein – es gibt eine Antwort, und noch eine und wieder eine, immer schöner, immer stärker, bis endlich alles in ein undeutliches Murren zusammenfließt. Diese Stelle hat mich stets in Erstaunen versetzt, und das Erstaunen war stets so stark, als wenn ich sie zum erstenmal hörte. Dann ertönt im Lärm des Allegro plötzlich ein Nachklang des Einleitungsmotivs; dann nochmals das Zwiegespräch, abermals der Widerhall, und plötzlich, im Moment, wo die Seele durch diese unaufhörliche Unruhe so erregt ist, daß sie um Schonung bittet, hört alles auf, unerwartet und schön …

Während des Andante träumte ich; im Herzen war mir ruhig und freudig; ich wollte lächeln und träumte etwas Leichtes, Vergangenes, Helles. Aber das Rondo in D-Moll weckte mich auf. Wovon handelte es? Wohin strebte, was wollte es? Man wünschte, daß alles schnell, schnell zu Ende ging. Als das Weinen und Bitten aber aufhörte, hätte ich gar zu gern den leidenschaftlichen Ausdruck des Wehs noch einmal gehört.

Die Musik wirkt weder auf den Verstand noch auf die Einbildungskraft. Wenn ich Musik höre, denke ich an nichts und stelle mir nichts vor, aber ein sonderbar wonniges Gefühl erfüllt in dem Maße meine Seele, daß ich das Bewußtsein meiner Existenz verliere; und dieses Gefühl ist – Erinnerung. Es scheint, als erinnert man sich an das, was nie da war.

Ist nicht die Grundlage des Gefühls, das jede Kunst in uns erweckt, Erinnerung? Rührt nicht der Genuß, den Malerei und Skulptur uns verschaffen, von der Erinnerung an bestimmte Gefühle und Gefühlsübergänge her? Ist das Gefühl der Poesie nicht die Erinnerung an Bilder, Gefühle und Gedanken?

Die Musik war schon bei den alten Griechen imitativ; Plato erklärte in seiner »Republik« als unbedingte Voraussetzung der Musik, daß sie edle Gefühle ausdrückte. Jede musikalische Phrase drückt ein Gefühl aus: Stolz, Freude, Kummer, Verzweiflung usw. oder eine der unendlichen Kombinationen dieser Gefühle. Musikwerke, die kein Gefühl ausdrücken, sind in der Absicht komponiert, entweder etwas zur Schau zu stellen, zu erklären, oder Geld zu verdienen – mit einem Wort, in der Musik gibt es, wie überall, Mißgeburten, nach denen man nicht urteilen kann. (Zu diesen Mißgeburten gehören Versuche in der Musik, Bilder zum Ausdruck zu bringen.) Gibt man zu, daß Musik die Erinnerung an Gefühle ist, so wird verständlich, warum sie so verschieden auf die Menschen wirkt. Je reiner und glücklicher die Vergangenheit eines Menschen war, um so mehr liebt er seine Erinnerungen und um so stärker fühlt er die Musik; umgekehrt, je schwerer die Erinnerungen für jemanden sind, um so weniger Sympathie hat er für sie. Daher kommt es, daß einige Menschen Musik nicht ertragen können. Es wird auch verständlich, warum das eine Musikstück diesem, das andere jenem gefällt. Für den, der dasjenige Gefühl erlebt hat, das die Musik ausdrückt, ist es eine Erinnerung, und er findet Genuß darin; für einen anderen aber hat es keine Bedeutung.

12. Ljubotschka

Mama hörte auf zu spielen. Ich erwachte, schob den Kopf hinter der Sessellehne hervor und sah, daß Mama auf derselben Stelle saß, aber nicht mehr spielte, sondern horchte. Aus dem Saal drang lautes Weinen.

»Ach Gott!« rief Mama, »sicher ist eins von den Kindern zu Schaden gekommen!« Damit stand sie vom Klavierbock auf und lief fast in den Saal.

Ljubotschka saß zwischen zwei Stühlen auf dem Fußboden; über ihr Gesicht flossen Blut und Tränen. Wolodja und Katja standen mit erschreckten Gesichtern neben ihr.

»Was ist? Wo tut es dir weh? Sag, was ist mit dir! Liebling, Ljubotschka, Herzblatt, mein Engel!« rief Mama besorgt und selbst dicht vor dem Weinen. Als sie die Hand fortnahm, mit der Ljubotschka ihre Nase hielt, sah man, wie Mama sich freute, als sie wahrnahm, daß das Blut aus der Nase kam und daß nichts Ernstliches passiert war. Sofort änderte sich ihre Miene und sie fragte Wolodja strenge: »Wie ist das gekommen?«

Wolodja erklärte, Ljubotschka hätte einen Hasen gemacht und sei schon ganz weit fort gewesen, da wäre sie plötzlich gestolpert und mit der Nase gegen einen Stuhl gefallen.

»So, so,« sagte Mama und hob Ljubotschka auf. »Das wird dir eine Lehre sein, daß du nicht mehr so läufst wie eine Wahnsinnige. Geh ins Gastzimmer, Liebling, hast genug getollt.«

Ljubotschka ging vorauf; hinter ihr Mama; dann folgten wir drei.

Ljubotschka schluchzte noch immer, und dieses Schluchzen glich sehr einem Rülpsen. Aus den Augen flossen Tränen, aus der Nase Blut, aus dem Munde Speichel; beim Abwischen mit dem Taschentuch schmierte sie das alles über das ganze Gesicht. Die Füße setzte sie stets wie eine Gans; jetzt war ihr breitbeiniger Gang noch komischer – ich habe eine so klägliche und gleichzeitig lächerliche Gestalt nie wieder gesehen. Sogar Mama deutete beim Umblicken nach uns lächelnd auf Ljubotschka.

»Ihr könnt weiter spielen,« sagte sie zu uns.

Wolodja aber erwiderte, ohne Ljubotschka könnten wir unmöglich Hasen spielen, und so gingen wir alle ins Gastzimmer.

»Setz dich und ruh dich aus,« sagte Mama zu Ljubotschka und wischte ihr die Nase mit Essig und Wasser ab. »Weil du Dummheiten gemacht hast, stehst du nicht eher wieder auf, bis du die Lektion kannst, die Mimi dir aufgeben wird.«

Mimi gab der immer noch weinenden Ljubotschka eine Häkelnadel und eine fünf Ellen lange Aufgabe.

Gewöhnlich, wenn jemand von uns etwas ausgefressen hatte, wurden wir alle bestraft, indem man uns anempfahl, uns hinzusetzen und auszuruhen. Heute dagegen erlaubte Mama uns zu spielen, woraus ich schloß, daß heute der letzte Abend sei, wo wir zusammen wären, und Mama uns keinen Kummer machen wollte – als wenn sie uns Kummer machen könnte.

Jetzt kam Papa mit Karl Iwanowitsch aus dem Arbeitszimmer.

Karl Iwanowitsch ging nach oben, Papa aber kam mit heiterer Miene ins Gastzimmer, ging auf Mama zu, legte ihr die Hand auf die Schulter und sagte: »Weißt du, was ich soeben beschlossen habe?«

»Nun?«

»Ich behalte Karl Iwanowitsch bei den Kindern. Im Wagen ist noch Platz; sie haben sich an ihn und er an sie gewöhnt; siebenhundert Rubel jährlich spielen schließlich keine Rolle. Est puis, au fond, c'est un bon diable,« fügte er hinzu.

»Das freut mich sehr, der Kinder wie seinetwegen. Er ist ein prächtiger Alter,« sagte Mama.

»Wenn du gesehen hättest, wie gerührt er war, als ich ihm sagte, er möchte die fünfhundert Rubel als Geschenk betrachten. Das Komischste ist aber die Rechnung, die er mir brachte; die mußt du sehen!« Damit gab Papa ihr ein Schriftstück von Karl Iwanowitschs Hand. Reizend!

Dieses der Inhalt des Schriftstückes:


Wer diese Rechnung liest, in der Karl Iwanowitsch alles für Geschenke verausgabte Geld und sogar Zahlung für ein ihm versprochenes Geschenk verlangt, wird sicher glauben, Karl Iwanowitsch sei ein gefühlloser eingefleischter Egoist. Und doch würde man irren.

Als er mit dem Schriftstück in der Hand und der vorbereiteten Rede im Kopf in das Arbeitszimmer trat, war seine Absicht, Papa in schöngesetzten Worten alle Ungerechtigkeiten vorzuhalten, die er in unserem Hause erlitten hatte. Als er dann aber mit der rührenden Stimme und ausdrucksvollen Betonung, mit der er uns diktierte, zu sprechen begann, wirkte seine Beredsamkeit am stärksten auf ihn selbst, und als er an die Stelle kam, wo es hieß: »So schwer es mir auch wird, mich von den Kindern zu trennen,« kam er ganz aus dem Text, seine Stimme schlug über, und er mußte sein gewürfeltes Taschentuch herausnehmen.

»Ja, gnädiger Herr Peter Alexandrowitsch,« sagte er unter Tränen (diese Stelle kam in der vorbereiteten Rede gar nicht vor), »ich habe mich so an die Kinder gewöhnt, daß ich nicht weiß, was ich ohne sie anfangen soll. Lieber werde ich ohne Gehalt bei ihnen bleiben,« schloß er, mit der einen Hand die Tränen abtrocknend und mit der anderen die Rechnung überreichend.

Daß Karl Iwanowitsch in diesem Augenblick aufrichtig sprach, kann ich bestätigen, da ich sein gutes Herz kenne; wie aber die Rechnung zu seinen Worten stimmte, bleibt für mich ein Rätsel.

»Wenn es Ihnen schwer wird, so wird mir die Trennung von Ihnen noch schwerer,« sagte Papa, ihn auf die Schulter klopfend, »ich habe es mir jetzt anders überlegt.«

»Was ist denn das?« meinte Papa, Ljubotschkas blaue Nase und verweinte Augen bemerkend. »Wir haben wohl einen Streich begangen?«

Ljubotschka hatte sich schon fast ganz beruhigt; sobald sie aber bemerkte, daß die allgemeine Aufmerksamkeit sich ihr zuwandte, brach sie wieder in Tränen aus.

»Laß sie, Liebster,« sagte Mama, »sie muß ihre Arbeit fertigmachen.«

Papa nahm die Häkelnadel aus Ljubotschkas Händen und begann selbst zu häkeln.

»Zu zweien werden wir eher fertig; noch besser: wir bitten um Verzeihung,« er faßte sie an der Hand. »Komm!«

Ljubotschka hörte auf zu weinen, ging zu Mama und wiederholte die Worte, die Papa ihr ins Ohr flüsterte.

»Heute ist der letzte Abend, Mama, daß wir … ich und Papa … will … also … verzeih … uns … sonst … will er … mich nicht mehr … liebhaben … wenn ich … weine.«

»Verzeih uns,« sagte auch Papa und natürlich geschah das.

Kurz vor dem Abendessen kam Grischa ins Zimmer. Seitdem er unser Haus betreten, hatte er unaufhörlich geseufzt und geweint, so daß nach Ansicht derer, die an seine Prophetengabe glaubten, unserem Hause sicher ein Unglück bevorstand.

Jetzt nahm er Abschied und sagte, er würde morgen früh weiterwandern. Ich blinzelte Wolodja zu und ging zur Tür.

»Was denn?«

»Wenn ihr Grischas Ketten sehen wollt, so kommt schnell ins Leutezimmer nach oben; Grischa schläft im zweiten Zimmer; wir können nebenan im Verschlag sitzen, da sehen wir alles.«

»Famos! Wart hier, ich will die Mädchen rufen.«

Die Mädchen kamen herausgelaufen und wir begaben uns nach oben. Da wurde zunächst gestritten, wer zuerst in das dunkle Loch gehen sollte; dann setzten wir uns und warteten.