Buch lesen: «Parasiten des 21. Jahrhunderts»

Schriftart:

Leopold Federmair

PARASITEN DES
21. JAHRHUNDERTS

Essais aus beiden Welten


Die Drucklegung dieses Buches wurde gefördert von

den Kulturabteilungen von Stadt und Land Salzburg sowie vom

Land Oberösterreich.


www.omvs.at

ISBN 978-3-7013-1289-4

eISBN 978-3-7013-6289-9

© 2021 OTTO MÜLLER VERLAG SALZBURG-WIEN

Alle Rechte vorbehalten

Satz: Media Design: Rizner.at

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck-Germany

Covermotiv: Collage von Thomas Hartz aus der Serie „Parasit“

Pigmentdruck 90 x 60 cm, 2017

Copyright © Thomas Hartz

www.thomashartz.com

Grafische Gestaltung: Leopold Fellinger

INHALT

Vorwort

I Lob des Parasiten

II Ironie off!

III Flüchtlingsgespräche in Oberösterreich

IV Gräuel der Gegenwart

VORWORT

Welche zwei Welten? Zunächst einmal die beiden, in denen im 21. Jahrhundert so gut wie jeder lebt, und zwar gleichzeitig und weltweit: die digitale und die „analoge“, die virtuelle und die reale, die sekundäre und die (immer noch) primäre, in der wir essen, trinken, schlafen, lieben, uns als beseelte Körper bewegen.

Zwei Welten, aber in Wahrheit sind es noch mehr, es sind viele Welten. Nur daß sich oft zwei aus dieser Vielheit gegenübertreten, Gegensätze bilden und/oder einander ergänzen. Wir können nicht alles auf einmal überblicken, nicht alles gleichzeitig haben. Das wäre eine schlechte, abstrakte Globalisierung, deren digitaler Nebel die Einzelnen und ihr konkretes Leben umspinnt, so daß sie vor lauter Wald die Bäume nicht mehr sehen.

Eine zweite Bedeutung der Formulierung verweist darauf, daß ich meine Lebenserfahrungen in sehr unterschiedlichen kulturellen Kontexten gemacht habe und dazu neige, sie miteinander zu konfrontieren, zu vergleichen, in den Texten nebeneinander zu montieren. Ich kann nicht behaupten, daß ich alle Welten kenne, bei weitem nicht. Aber einige kenne ich, soweit man sie eben kennen kann – „Was weiß ein Fremder?“ –, und diese Außenperspektive erlaubt manchmal Erkenntnisse, die allzu große Vertrautheit mit dem „Meinigen“ nicht zuläßt. Diese Erfahrungen wirken dann zurück und verfremden den Blick auf das Meinige, das – für mich – Ursprüngliche: Oberösterreich, Österreich, Mittel- und Westeuropa.

Michel de Montaigne ließ sich von einem Mann, der zwölf Jahre lang in Brasilien gelebt hatte und nach Darstellung des Autors ein naiver Charakter und eben deshalb glaubwürdig war, ausführlich über die Sitten und Gebräuche in jener „neuen Welt“ berichten. Auch Montaigne kannte einiges von der Welt, hatte Reisen in Italien gemacht und davon berichtet, war aber höchst neugierig in Bezug auf neue, fernere, exotische Welten. Trotz aller Naivität scheint sein Gewährsmann die südamerikanischen Gesellschaften, die er kennenlernte, in etwas rosigem Licht dargestellt zu haben. Das spielt für die Qualität der Essais aber keine Rolle, denn erstens ist der Blick, ob naiv oder reflektierend, immer subjektiv, und zweitens kam es im 16. Jahrhundert darauf an, der geläufigen Verachtung der „Wilden“ etwas entgegenzusetzen. Ähnlich wie später Rousseau hegte Montaigne die Vorstellung, im Anfang der Zeiten, vor aller Zivilisierung, hätten die Menschen ein paradiesisches Leben ohne „künstliche Zwangsmittel“ geführt.

Im 21. Jahrhundert bestünde nun dank fortgeschrittener Zivilisierung und Technisierung die Möglichkeit, sich im Alltagsleben von vielen dieser Zwangsmittel zu befreien. Das Gegenteil ist der Fall. Als wollten wir alle das Parkinsonsche Gesetz vom unweigerlichen Wachstum der Bürokratie bestätigen, ziehen wir die sozialen Daumenschrauben immer weiter an. Auch diese Sehnsucht nach einem einfacheren, dabei aber reflektierten Leben teile ich mit Montaigne.

Ob er tatsächlich immer nur „sich selbst gemalt“ hat und sein einziger Gegenstand war, wie Montaigne im Vorwort zu den Essais behauptet, kann man getrost bezweifeln. Hier wird wohl auch das Understatement eine Rolle spielen. Montaigne steigert dieses klassisch-rhetorische Mittel bis zu dem Paradox, daß er dem Leser, an den er sich eingangs wendet, von seinem Buch abrät, weil dessen Gegenstand nicht sonderlich interessant sei. Die Rezeptionsgeschichte sollte erweisen, daß er interessanter war als das meiste, was in jener Epoche geschrieben wurde. Aber nicht nur deshalb, weil er oft Innenschau hielt, sondern wegen seiner Neugier auf die diversen Welten.

Der Essai – heute meist in der englischen Schreibweise – ist ein eminent und essentiell subjektives Genre. Interessant wird er dann, wenn die Persönlichkeit des Autors dies und jenes aus den Welten, den zeitgenössischen wie den historischen, durch Bücher vermittelten, aufgenommen hat und zu bewerten und durch seine Sprache und seinen Geist transformiert wiederzugeben weiß. Indem Montaigne von sich selbst erzählte, schrieb er über beide Welten – mindestens. Der Subjektivismus des Essays kann im 21. Jahrhundert, das sich so gern und so total dem Trug von Objektivierung und Optimierung ausliefert, als Kampfmittel gegen einen Zeitgeist dienen, der der Mehrheitsgesellschaft selbst gefährlich werden könnte, je mehr diese Tendenz kraft Automatisierung zur zweiten Natur wird. In diesem Sinn ist der Essai ein ebenso parasitäres wie notwendiges Genre.

In Ricardo Piglias Tagebüchern und in einem seiner Romane kommt eine „Bar beider Welten“ vor, irgendwo am Rand des Randes der Welt, in Mar del Plata. Frequentiert wird sie vom jugendlichen Autor und von einem „Engländer“, einem virtuellen Schriftsteller, den es absurder Weise in diese argentinische Provinzstadt verschlagen hat. El bar Ambos Mundos, die Konjunktion von alter und neuer Welt, wie sie Spanien einst verfolgte. (Heute gibt es sogar in Tokyo eine Bar, die sich so nennt.) Auf deutsch hat der Ausdruck zwei Bedeutungen: Wer zuviel hin und her schwingt, sich zuviel an mehreren Orten gleichzeitig aufhält, könnte die Orientierung verlieren und am Ende mit leeren Händen dastehen, ohne die eine, ohne die andere Welt, ein im atlantischen oder indischen Ozean versunkener Kolumbus. Verloren im transversalen Liniengewirr, in der gespenstischen Leere des Netzes: Dieser Gefahr zu wehren, hat sich der Verfasser der vorliegenden Essais vorgenommen.

I
LOB DES PARASITEN

Es ist noch nicht lange her, da erhielt ein südkoreanischer Spielfilm mit dem Titel Parasite den Oscar für den besten Film des Jahres, also die berühmteste Auszeichnung, die es weltweit auf diesem Gebiet gibt. Ich war, als ich den Film sah, fasziniert wie die meisten Zuschauer, doch fiel es mir schwer, bei den gegen Ende immer grausameren Szenen, die das Werk vollends zum Horrorfilm werden lassen, den Blick auf die Leinwand geheftet zu lassen. Diese Parasiten da, für die man zu Beginn des Films Sympathie oder wenigstens Mitleid empfinden konnte, werden Schritt für Schritt zu Schlächtern. Die Underdogs, die sich aus dem Elend erhoben haben, erweisen sich, sobald sie etwas wie Macht und Einfluß bekommen, als noch weit ärger als jene, denen sie einst ihren Wohlstand neideten. Letzten Endes sind alle Beteiligten Parasiten, die Reichen, die sich auf die Dienste der Armen stützen, um ihren Reichtum zu mehren, und die Armen, die die ganze Hand an sich reißen, sobald ihnen ein kleiner Finger gereicht wird. Im Normalfall spielt sich das ganze Geschehen als Austausch ab, die soziale Maschinerie schnurrt dahin, tagein, tagaus, die Dienste werden recht und schlecht bezahlt, so haben alle ihr Auskommen, ihren angestammten, überlieferten, schwer zu verlassenden Platz in der sozialen Hierarchie.

Parasite ist zunächst nichts anderes als ein Sozialdrama, das man als Kritik an der zeitgenössischen Konsumgesellschaft und den immer noch wachsenden Ungleichheiten verstehen kann. Etwas mehr als hundert Jahre vor diesem Film wurde ein ganz anderes Werk über einen Parasiten geschrieben, eine viel seltsamere Erzählung; so seltsam, daß sie in den Kanon der phantastischen Literatur eingegangen ist, wo sie heute einen der Spitzenplätze einnimmt. Die Rede ist von Franz Kafkas Verwandlung. Die Familie, die wir da kennenlernen, ist irgendwo in der Mitte der Gesellschaft angesiedelt, nicht arm, aber auch nicht sonderlich reich. Das Parasitentum Gregor Samsas ist anderer Natur als das der Familie Kim, die sich nach und nach bei einer anderen, weniger zahlreichen, aber weitaus wohlhabenderen Familie einschleicht. Anders nicht nur deshalb, weil Gregor ja zur Familie gehört, sondern wegen seines zugleich naturhaften und imaginären Charakters, absurd und von einer anderen, nicht-logischen Konsequenz. Gregor findet sich eines Morgens, noch im Bett liegend, „zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt“. Von jetzt an ist er ein Schmarotzer, die Familie wird ihn aushalten, wird ihn ertragen, seine Schwester kümmert sich um ihn, doch zum Wohl der Familie kann er künftig nichts beitragen, er ist überflüssig, nein, schädlich, ein Familienschädling und damit ein Volksschädling von der Art, wie sie Hitler und seine Kameraden in den Winkeln der deutschen Gesellschaft aufspürten, um sie zusammenzutreiben und... Die Versuchung liegt nahe, Kafkas Erzählung als allegorische Vorwegnahme späterer Ausrottungsstrategien gegenüber den Juden zu lesen; gleichzeitig aber weiß man aus Kafkas Tagebüchern und Briefen, wie sehr er sich selbst am Rand der Gesellschaft sah und darunter litt, auf einem feinen Grat zu balancieren und zugleich in einem unterirdischen Bau zu hausen, dem Bau seiner Sprachkunst nämlich, und wie er sich doch keine andere Existenz vorstellen konnte und wollte als diese. Das, was er tat und tun mußte, gegen alle Ansprüche der Familie, der Gesellschaft, wie auch gegen die inneren Blockaden, von welchen die Dokumente ebenfalls Zeugnis ablegen, war das einzige, was er beizutragen hatte, der „Mehrwert“, den er aus sich zu ziehen verstand. Ein paradoxer, wertloser Mehrwert. „Legs auf den Nachttisch!“ (Der Vater mit verächtlichem Blick auf das erste Buch des Sohnes.) Die Texte als Schmutz, von dem sich die soziale Familie nicht reinigen kann – und heute auch nicht mehr reinigen will, weil sie erkannt hat, daß Kafkas Gesamtwerk etwas über sie sagt, das anders nicht gesagt werden kann, und eben dieses Werk sie in gewisser Weise erst konstituiert. „Wir müssen es“ – das Ding, den Nicht-Menschen, das Unwesen – „loszuwerden suchen“, hieß es damals. Heute wird es in Schulen und Hochschulen gehegt und gehätschelt, von Weltautoren fortgeschrieben: Samsa in love.

Von diesen Figuren, diesen realen, real leidenden, von einer Meute verfolgten oder in sich zurückgezogenen, selbstzerstörerischen Außenseitern, von den Juden, Sinti und Roma, den Homosexuellen, den Hexen, den Henkern, den Minderwertigen, den Arbeitsscheuen, den Überqualifizierten, den Geistesgestörten, den Arbeitslosen des elektronischen Zeitalters, den Aussätzigen und Unberührbaren finde ich in einem umfangreichen Buch, das diesen Titel trägt, Der Parasit, kaum eine Spur. Stattdessen Spaßmacher und Wortedrechsler, die sich bei den Reichen zum Bankett einladen. Die bei deren Gelagen mitnaschen und nichts dafür geben, buchstäblich nichts, sie drehen den Wohlhabenden, die vielleicht darüber lachen, eine lange Nase. Fabeln, Legenden, allerlei Geschichtchen, selbsterfundene und überlieferte, oft aus der Antike, von der Zeit, als die Philosophen noch etwas zu sagen hatten. Michel Serres hat dieses vorsätzlich disparate und verspielte, mehr oder weniger referenzlose, „unrealistische“ Buch in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts geschrieben. Man sollte es als Roman mit all den Flausen lesen, die sich Romane erlauben dürfen, solche wie Italo Calvinos Wenn ein Reisender in einer Winternacht, wo der Leser ebenfalls vom Hundertsten ins Tausendste geschubst wird. Und trotzdem vermisse ich die Figuren, die Leidenden, vermisse die Ernsthaftigkeit. Das Parasitendasein ist kein Honigschlecken!

Zwanzig Jahre, nachdem er sein Patchwork-Buch fertiggestellt hatte, schrieb Serres für eine Neuausgabe ein Vorwort, das mir in wenigen Sätzen luzider scheint als die Hunderten Seiten, die folgen, so daß es mir als Anstoß und Einführung in mein eigenes Parasitenwerk geeignet scheint: Ich zweige es ab wie damals der halbwüchsige villero, den ich in einer Vorstadt von Buenos Aires beobachtete, als er mit einer unscheinbaren Siphonpumpe Benzin aus dem Tank eines allzu stattlichen Autos absaugte. Die Entwicklung eines Kindes, seine Erziehung, seine Bildung und Ausbildung, schreibt Serres, laufen darauf hinaus, aus uns einen „Akteur des Austauschs zu machen, indem sie uns nach und nach von unserem ursprünglich parasitären Verhalten abbringen“. Auf diese Art entsteht Gesellschaft, werden sozial verträgliche, mehr oder minder gemeinschaftsdienliche Individuen erzeugt. Zunächst aber sind Kleinkinder – und schon die Föten – Parasiten, vollkommen abhängig von ihrer unmittelbaren Umgebung, die sie auf das selbstverständlichste aussaugen. Das Parasitentum ist die Vorform des Sozialen, das im Lauf der Zeit zurückgedrängt wird, und bleibt gewissermaßen dessen Voraussetzung, später auch seine Gegenform. Daran erinnern euch die erwachsenen Parasiten, die ihre Position selbst gewählt haben oder nicht anders können. Die Bettler, die Verrückten, die Alkoholiker, die Hikikomori, die sich wie Gregor Samsa für den Rest ihres Lebens im Zimmer verschanzen, die Ausländer, die Schwulen – nein, die nicht mehr, die haben sich zur angesehenen Untergruppe gemausert, dürfen sogar heiraten und Kinder aufziehen. Aber vielleicht die Pädophilen? Oder müssen wir diese zwanghaften Störenfriede des Gesellschaftskörpers entfernen, wenn wir unsere Kinder vor Bedrohungen schützen wollen (aber schützen wir sie im allgemeinen nicht zuviel)? Und natürlich die Künstler, die Schriftsteller, die Taugenichtse, die nicht heimkehren wollen, und die Philosophen – nein, die auch nicht mehr, denn wenn sie nicht professoral werden und ein entsprechendes, wohlverdientes Gehalt beziehen (denn auch sie geben und nehmen), dann sind sie Medienstars, Kommentatoren, Konsultanten von Entscheidungsträgern, oder zumindest Workshopveranstalter, Betreiber eines Philosophencafés. Alle gehören dazu. Alle!

Alle? Wenn alle dazugehören, geht die Zugehörigkeit flöten, sie verliert den Zusammenhalt, der im Innersten negativ ist, eine Leerstelle, eine Abwesenheit, ein blinder Fleck ohne Sinn. „Ich hab mein’ Sach auf nichts gestellt“: Goethe, der Arrivierte, der Angekommene, wußte davon. Goethe, der alte Säufer. Die Parasiten, die nicht Zugehörigen, sind schon da, bevor menschliche Kollektive gebildet werden, und sie werden diese überleben. „Indem sie ihn negieren, bereiten sie den Austausch vor“, und so helfen sie, „das soziale und kulturelle Gebäude zu errichten“ (noch einmal Michel Serres). Ein parasitärer Künstler ist einer, der unfähig oder unwillens ist, erwachsen zu werden. Ein Erwachsener, der ewig Kind bleibt. Ein Kind, das klarer sieht und unumwundener spricht als die Erwachsenen. Ein Stotterer, der eine neue Sprache hervorbringt. Jemand, der in der Muttersprache eine Fremdsprache erzeugt. Der Mißverständnisse nicht aus-, sondern einräumt. Der kommuniziert, indem er sich einigelt. Der den Sinn aufs Spiel setzt, indem er mit den Zeichen spielt, aus denen, wenn er Glück hat, etwas anderes sprießt, ein vorsintflutlicher Nachsinn vielleicht.

Der gewissenhafte, aber auch ein wenig anarchistische Richard Rorty, einstmals bestallter Professor am Trinity College und an der Stanford University, hat das ähnlich gesehen. Er schrieb und dachte und sprach recht normal, aber Diskurse, die er „nichtnormal“ nannte, hatten es ihm angetan. Diese nichtnormalen Rede- und Schreibformen fußen zwar auf den konventionellen, überlieferten, kurz: normalen Diskursen, doch sie saugen sie aus, verletzen das Copyright, verstoßen gegen Denkschemata und Vorstellbarkeitsgrenzen, zehren davon wie der ungebetene Gast beim Bankett und bezahlen am Ende dann doch, obwohl es die längste Zeit nicht danach aussieht, in einer ganz anderen Währung, mit Späßen, mit guter Laune, mit Unverständlichkeiten, mit heißer Luft und unerträglichen Furzen – nein, im Ernst, sie bezahlen mit Kunstwerken, deren Wert man, wie bei Kafka, van Gogh und Konsorten, erst im nachhinein, Jahrzehnte später, erkennt. „Er kreuzt und diagonalisiert den Austausch“ (noch einmal Serres, den ich hier ein wenig plündere). Der Parasit handelt nicht, sondern ändert flugs die Währung, die Sprache, die Ebene, auf der wir uns befinden. Er knüpft transversale Beziehungen, überrascht mit Anknüpfungspunkten, trennt das Untrennbare auf, macht unsichtbare Knoten, wechselt plötzlich das Thema, schweigt peinlich und – unterbricht.

II
IRONIE OFF!
Anthropologische Mutation

1972 schrieb oder, genauer gesagt, kopierte der Dichter Rolf Dieter Brinkmann folgende, zunächst in einem Brief nach Deutschland geäußerten Sätze in sein römisches Collagebuch: „Es wird nicht mehr lange dauern, bis hier das 20. Jahrhundert mit allen seinen Schrecken auch voll und ganz eingetreten ist. / Was ist der Schrecken des 20. Jahrhunderts?: Es ist die starke Automatisierung des Lebendigen (…), ich habe es immer bezeichnend empfunden in Köln an der Ecke Ehrenstraße: ‚Der sprechende Automat‘ sobald man das Geld in den Zigarettenkasten geworfen hatte und automatisch kam heraus/: ‚Vielen Dank!‘“1

Was würde der Dichter heute sagen, wo in einem fort aus allen Richtungen lebendige und künstliche, in jedem Fall digital gespeicherte und abgerufene Stimmen an unser Ohr dringen, die uns bitten oder bedanken, warnen oder locken, Floskeln und Zahlen formulieren, uns auf den nicht angelegten Sicherheitsgurt aufmerksam machen, auf einen abbiegenden oder rückwärts fahrenden Lastwagen, einen Artikel im Supermarkt, wo man an der automatischen Kassa auch Tierstimmen hören kann? Würde er sich in Alexa und Siri verlieben? Hätte er sich, wie die meisten Zeitgenossen heute, an all diese Automatiken und Künstlichkeiten längst gewöhnt? An das Wasserrauschen auf den Toiletten? An das künstliche oder lebendige – läßt sich nicht entscheiden – Frauenstimmchen im Aufzug, das uns mitteilt, jetzt gehe es nach oben oder nach unten?

Wollte man im Jahr 1972 in einem Lokal Musik hören, schlenderte man cool zur Jukebox (wie in Brinkmanns Erzählung Wurlitzer), die nach zwei, drei Minuten in Schweigen fiel, wenn man sie nicht weiter fütterte. Die Dauerbeschallung durch seichte Pop- und Kaufhausmusik war noch nicht Realität, Kopfhörer, Ohrstöpsel, Bluetooth noch nicht gebräuchlich. Ist denn das alles so schrecklich? Was sind die wahren Gräuel der Gegenwart? Was würde Brinkmann zu den allgegenwärtigen, immer unauffälligeren Überwachungskameras sagen? Zum Verlust der Privatsphäre, zur sanften Kontrolle bis hinein ins Wohn- und Schlafzimmer? Zur ständigen Mitteilung von visuellen Daten, ermöglicht durch digitale Photographie und Handys, die zur zweiten Natur geworden sind und uns an das sogenannte Netz anschließen, in dem mehr und mehr auch die intelligenten Dinge zusammengeschlossen sind? Wobei die Mitteilungen, die Informationen oft nur von Maschinen gespeichert, aber kaum von Menschen angesehen, noch weniger besprochen oder diskutiert, im Glücksfall oder bei geschickter Eigenwerbung „gelikt“ werden oder sich „viral“, das heißt im Selbstlauf, verbreiten: Kommunikationslosigkeit. Fast jeder liefert sich freiwillig aus, verschenkt seine Daten, regt sich hernach über NSA und Big Data auf, verschleudert weiterhin seine Daten, gebraucht tagein, tagaus die Geräte, die sich jederzeit gegen ihn wenden können wie Panzer eines Landes gegen die eigene Bevölkerung.

Dabei denken wir noch gar nicht an die Probleme der Arbeitswelt, an ihr tendenzielles Verschwinden und das seltsame Phänomen, daß wir trotz der Steigerung der Produktivität immer mehr Arbeit am Hals haben, wenn wir Arbeit haben, und uns immer gestreßter fühlen auf dem Weg zum Burn-out. „Man stelle sich vor, mehr als 90 Prozent aller Jobs würden verschwinden; ersatzlos gestrichen, weil Maschinen sie übernehmen. Ein grauenvoller Gedanke: Was wird dann aus uns Menschen, wovon werden wir leben, womit füllen wir unsere Zeit?“, fragt Christoph Kucklick, derzeit (2021) Leiter der Henri-Nannen-Schule in Hamburg.2 Wenn wir versuchsweise mal ein paar Antworten geben: Vielleicht leben wir von dem, was die Maschinen erwirtschaften? Der Reichtum verschwindet ja nicht mit der Arbeit. Aber verschwindet sie überhaupt? Werden nicht ständig neue Arbeiten erfunden, konstruiert, bereitgestellt, damit wir nicht arbeitslos werden? Unnötige Tätigkeiten, doch immerhin sind wir beschäftigt. Der Mensch als Beiwerk der Maschinen, die er wartet, beaufsichtigt, verbessert. Bis sie sich eines nicht fernen Tages selbst warten, beaufsichtigen, verbessern werden? Diese Zukunft hat ebenfalls schon begonnen, Maschinen können immer besser, immer schneller lernen. Trial and error, alles durchprobieren, dazu sind sie unermüdlich – und rasend schnell. Frustrationstoleranz 100 Prozent. Hundertmal verlieren, einmal gewinnen. Werden die Menschen dann Gedichte schreiben wie Rolf Dieter Brinkmann? Werden sie lernen, studieren, neugierig sein, einfach so, ohne bestimmtes Ziel, Bildung als Selbstzweck? Oder sich tagein, tagaus über Politiker, über „Eliten“ ereifern und empören, die vielleicht auch gar nicht mehr nötig sind? Werden sie die heile Welt schrecklich finden? Oder den halben Tag Sport treiben? Meditieren? Shoppen? Oder sich betrinken, betäuben mit Drogen, Internet, Fußball, Shopping, Surfen, Pornos?

Zögerliche Antworten münden in neue Fragen. Es ist vor allem eine bequeme, praktische Welt, und zwar schon heute, für die meisten Menschen in den entwickelten Ländern. Ich erinnere mich an den Beschwerdespruch meiner Mutter zu einer Zeit, die noch nicht ganz so bequem war, als die Menschen weniger motorisiert und weniger mobil waren, sich aber noch viel mehr bewegten, einen Spruch, den sie ab und zu einem ihrer Kinder an den Kopf warf: „Recht faul und bequem!“ Heute sehe ich die jungen Leute mit dem Handy vor der Nase wie der Esel mit der Karotte und denke, oft gegen meinen Willen: Recht faul und bequem! Das Praktische, Annehmliche, Naheliegende, leicht zu Habende, leicht Erreichbare, leicht zu Verstehende ist in unseren heutigen Gesellschaften zum Inbegriff des Wertvollen geworden, Bequemlichkeit schlägt jeden anderen Wert, soweit noch Werte in Umlauf sind. Und warum auch nicht, was spricht dagegen, worüber regst du dich auf? Das Allzweckgerät Smartphone genügt im Verbund mit dem Hypersupermarkt Amazon, der eines Tages vollautomatisiert sein wird (3-D-Drucker, Drohnen etc.), um uns ein ewiges Leben im Schlaraffenland zu gewähren.

Zu bequem sind wir nicht bloß, um unseren Arsch zu bewegen, sondern zunächst und vor allem, um Entscheidungen zu treffen. Algorithmen treffen sie für uns, dein Personalcomputer3 kennt dich, er berechnet und prognostiziert dich, du bist seine Person, sein Ehepartner, er sagt dir, was du kaufen, welche Musik du hören, welchen Film du sehen wirst. Meistens ist er mit dir per Du, was angemessen ist, weil er dich besser kennt und dir näher ist als fast alle Menschen. Die hundertprozentigen digital natives der jüngeren Generationen wollen gar keine Entscheidungen treffen, sie verzichten gern auf ihre Freiheit, weil dieser Verzicht ihre Bequemlichkeit vermehrt, auch wenn sie verbal-ideologisch womöglich nach wie vor für Freiheit eintreten: Sie wollen sich doch von niemandem etwas sagen lassen! (Außer von Spotify, TikTok, GPS, Partneragentur, Suchmaschine, Rechtschreibkorrektor, alles natürlich im Internet, ihrem eigentlichen Lebensraum.) Auch in vorgeblich freien Gesellschaften, schreibt Yuval Noah Harari („allegedly free societies“), werden wir mehr und mehr den Algorithmen vertrauen und im selben Maß unsere Fähigkeit einbüßen, Entscheidungen auf eigene Faust, im eigenen Namen zu treffen. Auf den Widerspruch zwischen der Haltung des Bedauerns und futuristischer Begeisterung sowie auf die Ironie, die diesen Widerspruch bedient, werde ich noch zurückkommen. Ich fürchte, daß ich ihm (und ihr, der Ironie) selbst nicht entgehen kann. Unter solchen Bedingungen, die ich als automatisiert bezeichnen würde, insofern die technische Automatisierung auf das Verhalten der Personen abfärbt – wir passen uns den allwissenden Geräten an –, optieren wir in der Regel für das Leichtere, Einfachere, schnell zu Habende. Durch Klicks und Pop-ups, durch das ständige und mühelose Aufspringen von Fenstern, ist alles in unserer Reichweite, die Abstände werden viel radikaler reduziert als beim Fernsehen, weil unsere Individualität, das „Persönliche“, das freilich schon durch die Geräte und ihre Algorithmen façonniert ist, und unsere Mobilität einberechnet werden (dennoch sehe ich die Internetpraktiken immer auch als Fortsetzung der Fernsehkultur). Wir brauchen keine Anstrengung und wollen sie auch nicht, wir ziehen das Einfache dem Komplexen vor, das Bild dem Text, den wir allenfalls überfliegen, das Triviale dem Elaborierten, die Verschwörungstheorie der Analyse, den Slogan dem Zweifel, das Poppige der Klassik, das Flüchtige dem Traditionsbeladenen. Roberto Simanowski bezeichnet dieses Prinzip, das Facebook vielleicht am besten verkörpert, als verbrecherisch („Facebooks Verbrechen …“). Daß er sich am Ende – ironisch, versteht sich – zum digitalen Smalltalk und den Banalitäten à la TikTok „bekehrt“, verweist auf den Widerspruch, von dem auch das Schreiben Hararis zehrt.

Ein Problem, das sich aus der Bequemlichkeit ergibt, besteht darin, daß die digitalisierten, bis zu einem gewissen Grad automatisierten Subjekte selbst dann, wenn sie lernen, sich bilden, etwas wissen wollen, die Gegenstände und Themen nicht mehr durchdringen, weil sie ohnehin sämtliche Daten – und anders als in Datenform, als Informationsbits, werden Inhalte von digital natives nicht wahrgenommen – ständig verfügbar haben, auf grenzenlosen Speicherplätzen außerhalb ihrer selbst, in einer virtuellen Wolke, einem Datenhypermarkt. „Was du ererbt hast von den Vätern, erwirb es, um es zu besitzen“ – solche Sprüche findet man gesammelt, kopiert und „gepastet“ auf zahllosen Sites im Internet, aber was sie bedeuten … Wissensbereiche werden unter heutigen Bedingungen nicht erworben, sondern angeklickt (und meistens sofort wieder vergessen), Gegenstände werden nicht durchdrungen, Probleme und Zusammenhänge nicht erkannt, sondern nur gestreift, Bildung eignet man sich nicht an, man braucht sie im Grunde genommen nicht, und wenn doch, dann genügt es, wenn sie in den Speichern des Allzweckgeräts konserviert ist. Dementsprechend sind die beliebtesten, d. h. zeitgemäßesten Genres der Epoche des Kulturüberflusses, auch Postmoderne genannt, die Anthologie, die digitale Enzyklopädie, das Florilegium und die Zitatensammlung.4 Das jederzeit und jedermann zugängliche Internet, wie es sich im 21. Jahrhundert ausgeprägt hat, ist letzten Endes nichts anderes als die Hyperstruktur dieser Auswahlgenres, einschließlich Wikipedia, wo der User neben höchst ernsthaften, mitunter taxfrei wissenschaftlichen Artikeln so viel Information über sämtliche Kleinstädte, Dörfer und Stadtviertel, über viertklassige Fußball- und Schauspieler oder auch Pornosternchen finden kann, daß er als User gar nicht anders kann, als sich in diesem Labyrinth zu verlieren (auch „surfen“ genannt). Das Problem ist weniger, daß uns inmitten solcher Überfülle die Bildung abhandenkommt, als daß wir uns selbst nicht mehr zu Persönlichkeiten bilden, die selbständig auswählen, verwerfen, bewerten und sich das als wertvoll Erachtete aneignen: Die Notwendigkeit und schließlich die Möglichkeit dazu bleibt im digital vernetzten Lebensraum auf der Strecke. An die Stelle des Subjekts des Wissens, des Zweifelns und des Erkennens ist der Wissensmanager getreten. „Möglich ist diese Vorstellung nur“, schreibt Konrad Paul Liessmann, „weil die Wissensgesellschaft die Beziehung des Wissens zur Wahrheit gekappt hat“.5 Da sie sämtliche Daten sofort haben können, verlernen die User der digitalen Welt auch das Warten, die Geduld, das Reifen, die Introspektion. Gleichzeitig unterliegen Erholung und Unterhaltung einer Transformation: Luststeigerung, oft auch noch gratis, ohne vorhergehende Anstrengung führt leicht zur Sucht, zum unkontrollierbaren Konsum (der dem kommerziellen Ideal des Spätkapitalismus entspricht). Das Internet und die Geräte, die uns damit verbinden, machen an sich süchtig, nicht erst durch bestimmte Inhalte (Spiele, Pornographie, Wetten …), die wir darin finden. Der Süchtige ist die Verkörperung des Subjekttypus, der sich endlos gehen läßt. Er will und muß nicht denken, sich zur Verantwortung rufen, Entscheidungen treffen. Sucht ist bequem – kann aber Probleme im wirklichen Leben nach sich ziehen. Reale Nebenwirkungen sozusagen.

Durch die soziotechnischen Systeme werden uns immer mehr Bürden abgenommen, das Leben wird – oder wirkt, auf den ersten Blick – ungeheuer leicht. Unsere Spätmoderne ist, um einen Begriff Zygmunt Baumans zu gebrauchen, eine leichte Moderne, die das schwere Gepäck des Industriezeitalters und seiner Moral abgeworfen zu haben scheint (das relativierende Verb füge ich Baumans Erläuterungen hinzu). Wissen heißt heute nicht mehr, sich etwas angeeignet und in seinem Gehirn aufbewahrt zu haben; es bedeutet, eifrig im Internet herumzuklicken, geleitet von einer Suchmaschine, in den meisten Fällen Google, wobei der Suchende immer wieder auf dieselben Pages, dieselben Sites, also Orte, stößt, die eine Unzahl von Orten und Verbindungen dort- und dahin („Links“) anbieten. Was durch die mehr oder weniger intelligenten Maschinen und Systeme ausgelagert wird, sind nicht mehr nur beschwerliche körperliche Tätigkeiten wie Rasenmähen, Tagebau oder Geschirrspülen (schon seit prädigitalen Zeiten), es betrifft mehr und mehr den intellektuellen, emotionalen und sinnlich-perzeptiven Bereich: das Erinnern, das Denken, das Erstellen(-Lassen) von Korrelationen anstelle des Aufspürens von Zusammenhängen, die Orientierung, die Intuition, ja, sogar das Verlieben, das laut Harari von Algorithmen viel besser besorgt wird als durch fehlbare menschliche Subjekte, die nur auf ihre Gefühle und Eingebungen zurückgreifen können und daher oft unvernünftig agieren. Gleichzeitig verliert sich die Forderung nach Verantwortlichkeit, und spiegelbildlich dazu das Verantwortungsbewußtsein der Subjekte. Letzteres gilt nicht nur für anonyme System-User, oft als „Poster“ unter Pseudonym auftretend, die in irgendeinem „sozialen“ Medium immer wieder mal zu ihrem Vergnügen Haßbotschaften oder Drohungen absetzen, es gilt auch für die Konstrukteure dieser digitalen Systeme und wiegt bei ihnen viel schwerer, bei den Software-Entwicklern und den von ihnen geschaffenen intelligent-maschinellen Entitäten, zumal wenn sie zu raschem Selbstlernen befähigt sind: Wer ist für deren ach so reibungsloses, aber mitunter dystopisches Funktionieren verantwortlich? Wer kontrolliert es? Wer kann es rechtzeitig stoppen? „Es besteht die Gefahr, daß am Ende niemand mehr zur Verantwortung gezogen werden kann“, faßt Catrin Misselhorn in ihrem Buch über „Grundfragen der Maschinenethik“ zusammen, nachdem sie Beispiele wie den Einsatz von Drohnen in der Terrorbekämpfung, der Kreditvergabe von digitalisierten Banken und die Preisgestaltung von Tickets bei Lufthansa angeführt hat. Die geschilderten Verhältnisse könnten „dazu führen, daß die Menschen sich weniger verantwortlich fühlen und die Bedeutung ihrer Handlungen nicht mehr wirklich verstehen“.6 Algorithmen verstehen sie besser. Aber wirklich den Menschen gemäß?

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