Der Mann, der Troja erfand

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Die Kommunikation mit Schröder zeigt ihm letztendlich nur, dass die Entscheidung, nach Russland zu ziehen, die einzig richtige war. Unter Schröders Fittichen fühlte sich Schliemann eingeengt, in zweitausend Kilometern Entfernung kann er hingegen seine Persönlichkeit schon viel besser entfalten. Er findet, dass die Ergebnisse, die er im vergangenen Jahr erzielt hat, für sich sprechen:



Im Januar 1846 war Schliemann innerhalb von sechzehn Tagen auf dem Landweg von Amsterdam nach St. Petersburg gezogen. Aus der Perspektive eines Kaufmanns war er hier auf eine wahre Schatzgrube gestoßen. Was in Europa an Waren fehlte, gab es in Russland scheinbar im Überfluss; für die Güter, mit denen Europa wiederum das Zarenreich beliefern konnte, ließen sich in Russland große Gewinne erzielen. Innerhalb kurzer Zeit schloss er in St. Petersburg wichtige Kontakte mit russischen Händlern und reiste bereits nach sechs Tagen weiter nach Moskau, um dort dasselbe zu tun. Das Land, von dem er so viel Unheimliches gehört hatte, gefiel ihm mit jedem Tag besser. Schliemann, ein aufgeschlossener junger Ausländer, dem die gewiefte Art seiner älteren Kollegen noch zu fehlen schien und mit dem sie sich endlich einmal in der eigenen Landessprache auf einer persönlicheren Ebene unterhalten konnten, gefiel auch den Russen. Er gewann bald das Vertrauen der Reichsten von St. Petersburg und machte immer lukrativere Geschäfte.



Im Oktober 1846 reiste er zehn Wochen lang durch Westeuropa, um auch in anderen Ländern berufliche Beziehungen aufzubauen. Erneut stellte Schliemann fest: Seine Sprachgewandtheit räumt ihm gegenüber seinen Konkurrenten klare Vorteile ein. Als er mit dem Schiff von Danzig nach Westen fährt und die mecklenburgische Küste sieht, regt sich nichts in ihm. Als sie im Nebel verschwindet und die Entfernung zur einstigen Heimat wieder größer wird, wendet er sich zum Bug hin und blickt kein einziges Mal zurück.



*



Gleich muss es vorbei sein. Das Licht ist weg. Eben noch sah er es und hoffte, es erreichen zu können. Der schäumende Strudel hinderte ihn daran und zog ihn gnadenlos in die entgegengesetzte Richtung, in die Tiefe. Die Wasserwände vereinten sich über seinem Kopf zu einer einzigen Masse, und das Licht verschwand dahinter. Oben und unten existiert nicht mehr, es gibt nur noch eine Dimension. Er weiß nicht, wohin. Er traut sich nicht zu atmen, denn dann würde Wasser seine Lungen füllen und er würde ertrinken. Jetzt muss es wirklich gleich vorbei sein.



Da wacht Schliemann auf. Er liegt in seinem Bett und kann nur schemenhaft den Raum erkennen. Er horcht. Nichts. Selbst von draußen dringen keine Geräusche in die Wohnung, weder die klackernden Schritte von Fußgängern, noch das Hufgeklapper von Pferden auf den gepflasterten Straßen. Niemand ist unterwegs. Schliemann steht nach einigen Momenten auf und zieht sich einen Morgenrock über. Er weiß, dass es keinen Sinn mehr macht, liegen zu bleiben – das Einschlafen fällt ihm schwer, erst recht, wenn er von einem Albtraum wach geworden ist.



Am Schreibtisch geht er seine Pläne für den Tag durch. Die eingegangene Korrespondenz muss längst wieder in die Kopierbücher abgeschrieben werden, das wird ihn sicherlich den gesamten Vormittag kosten. Am Mittag will er sich mit dem Besitzer einer Baumwollspinnerei treffen, um eine Lieferung des Farbpulvers Indigo neu auszuhandeln. Am Nachmittag schaut er wie immer auf der Börse vorbei, und zum Dinner ist er mit Peter Alexejew verabredet, einem steinreichen St. Petersburger Großhändler. Dessen Vermögen umfasst wohl einhundert Millionen Rubel, sein Privatvermögen noch nicht einmal einberechnet. Schliemann ist überzeugt davon, dass Alexejew nach Rothschild der reichste Mann sein muss. Heute Abend will er sich mit ihm über Produkte auf dem Markt unterhalten, deren Potenzial Schliemann bereits zu riechen glaubt: Salpeter, zur Herstellung von Sprengstoff beispielsweise. Papier könnte ebenfalls bald sehr begehrt sein – davon ist er überzeugt, seit er von Russlands Plänen erfahren hat, ein neues Gesetzbuch herausgeben zu wollen. Er wird versuchen, das Essen mit Alexejew möglichst in die Länge zu ziehen, bevor er wieder in seine Wohnung zurückkehren wird, in der außer ihm nur ein Bediensteter lebt. Er hält die Stille momentan nur schwer aus, vor allem, seit er vor einigen Wochen einen Brief aus Mecklenburg erhalten hat – seit er weiß, dass Minna vergeben ist.



Zehn Jahre vor der niederschmetternden Nachricht hatte Schliemann sie das letzte Mal gesehen. Es kommt ihm vor, als wäre es gestern gewesen: das vierzehnjährige Mädchen, groß gewachsen, in einem schlichten schwarzen Kleid. Schliemann zählt die Begegnung zu einem dieser großen starken Momente des Lebens, wenn die Unendlichkeit in wenige Sekunden hineinpasst. Beide sahen sich, rangen vergeblich um Worte und gaben sich schließlich dem Zauber der Situation hin. Erst als ihre Eltern den Raum betraten, endete der Augenblick, der nur Heinrich und Minna gehört hatte.



Seit er sich in St. Petersburg erfolgreich etabliert hat, sehnt sich Schliemann nach jenem Gefühl zurück: in Zweisamkeit von der banalen Realität entrückt zu sein. Und inmitten der vielen positiven Veränderungen – Geld, abenteuerliche Reisen, Sprachen, Gönner und Bewunderer, Vierzimmerwohnung samt persönlichem Diener – spürt er eine Lücke in seinem Leben. Ihm fehlt eine treue Wegbegleiterin, und für diesen Platz konnte er nur Minna in Betracht ziehen. So sendete Schliemann über einen gemeinsamen Freund einen Heiratsantrag an seine Kindheitsfreundin. Doch es war zu spät: Minna hatte vor Kurzem einen zwanzig Jahre älteren Gutspächter geheiratet.



Seit er davon erfahren hat, muss er in jeder freien Minute daran denken. Ihm fallen fast vergessene Situationen aus seiner Kindheit in allen Details wieder ein, als ob sich ein schwerer verstaubter Vorhang von seiner Erinnerung gehoben hat. Da waren nicht nur die Abenteuer mit Minna, bei denen sie sich auf die Jagd nach Zeugnissen der Vergangenheit begaben, sondern auch die vielen Pläne, die sie für die Zukunft geschmiedet hatten: eine gemeinsame Zukunft. Einige Zeit macht ihn der Gedanke an die verpasste Gelegenheit unkonzentriert und krank. Dann fängt er an, die Stunden, in denen das Geschäft geschlossen ist, in denen die Handelspartner sich längst im Kreise ihrer Familien befinden und der Großstadtlärm endlich verebbt ist, mit noch mehr Ablenkungen zu füllen. Dazu gehört vor allem Korrespondenz. Allein im Jahr 1847, als er vergeblich um Minnas Hand angehalten hat, schreibt er mehr als sechshundert Briefe an Geschäftspartner, Freunde und Bekannte und an seine Verwandten in Mecklenburg. Während er den Schwestern schon kurz nach der Ankunft in Amsterdam geschrieben hatte, meldet er sich jetzt auch regelmäßig beim Vater sowie den beiden jüngeren Brüdern und erkundigt sich nach deren Ergehen. In St. Petersburg ist Schliemann über die Lebenssituation von nahezu allen Mitgliedern seines engsten Familienkreises informiert.



Seinen Schwestern Wilhelmine, Dorothea, Elise und Louise, allesamt noch unverheiratet und bei verschiedenen Verwandten untergekommen, sendet er bei Bedarf Geld. Seinem ein Jahr jüngeren Bruder Ludwig hat er zu einer Anstellung in Amsterdam verholfen, kurz bevor er selbst Amsterdam verließ und nach St. Petersburg zog. Ludwig geriet schon bald mit seinen Arbeitgebern in Streit über das Gehalt und fand durch Vermittlung von Schröder & Co. eine Anstellung in einem anderen Handelshaus. Ludwigs Briefe, in denen er es schafft, seinen älteren Bruder zu bitten, seine Beziehungen für Ludwigs Karriere spielen zu lassen, und ihm dabei gleichzeitig altkluge berufliche Ratschläge zu erteilen, empfindet Heinrich zwar als lästig, lässt sich davon aber nicht weiter beirren. Ludwig hat er noch nie viel zugetraut. Die berufliche Zukunft seines jüngeren Bruders Paul macht ihm hingegen tatsächlich Sorgen. Paul, der erst wenige Wochen alt war, als ihre leibliche Mutter starb, ist sechzehn Jahre alt und lebt beim Vater und dessen neuer Familie.



Der Weg, Pauls Schicksal zu beeinflussen, führt nur über Ernst Schliemann. Heinrich versucht zunächst, seinen Vater davon zu überzeugen, dass eine kaufmännische Lehre in Amsterdam eine gute Möglichkeit für Paul wäre. Er würde seinem kleinen Bruder den Aufenthalt finanzieren. Sein Vater reagiert erst zwei Monate später und nach mehrmaliger Aufforderung auf seinen Vorschlag: Paul habe eigenständig entschieden, dass er lieber in der Landwirtschaft tätig sein wolle – und er würde ihm da auch gar nicht reinreden wollen. Paul traue sich das Erlernen von Sprachen und das kaufmännische Rechnen eben nicht zu. Heinrich ist nicht weiter überrascht über die ablehnende Reaktion seines Vaters. Er kennt es schon aus anderen Situationen: Weder will der Vater Geld von Heinrich annehmen, noch die Zeitungen lesen, die Heinrich extra für ihn abonniert hat. Er schickt ihm trotzdem weiterhin Geld und bezahlt ihm Zeitungen. Ebensowenig lässt er von seinem Plan ab, Pauls Schicksal in eine vernünftige Richtung zu lenken – in möglichst großer Distanz zum Wohnort von Ernst Schliemann. Dessen zweite Frau, die zwischenzeitlich zu einem anderen Mann gezogen war, ist wieder zurückgekehrt. Laut dem Vater verhält sie sich unberechenbar und aggressiv, rennt durch das Haus und zerschlägt Gegenstände, droht überall mit Brandstiftung und Mord. Durch dieses unberechenbare und aggressive Verhalten könnte sie ihn, so befürchtet Ernst Schliemann, sogar in einen zweiten Skandal hineinziehen.



Heinrich will Paul so schnell wie möglich aus diesen Zuständen retten, auch seine Schwestern sind entsetzt. Dorothea fasst es in einem Brief so zusammen:



»Ach mein Heinrich warum sind unsere Verhältnisse auch so schrecklich – daß wir lieber das väterliche Haus meiden und unser Brod unter fremden Leuten essen und uns verdingen als zu Hause zu sein, wie gerne möchte ich bleiben wenn es möglich wäre, aber die Verhältnisse sind nun einmal so und nicht anders!«

 



Während sich Schliemann über die familiäre Situation in Mecklenburg und Amsterdam auf dem Laufenden hält, geht es für ihn selbst weiterhin aufwärts, zumindest beruflich. Er hat ein eigenes Handelshaus gegründet und macht seine Geschäfte für Schröder & Co. fortan auf eigene Rechnung. Zugleich kommt ihm die Idee, Paul gar nicht erst nach Amsterdam zu schicken, sondern lieber direkt zu sich nach St. Petersburg zu holen. Seine Pläne stoßen weiterhin auf wenig Enthusiasmus. Irgendwann erhält er von Paul persönlich eine Antwort: Er könne sich einfach nicht dazu entschließen, seine Tage »in dem rauhen, barbarischen Rußland« zu verbringen. Diese Formulierung möge er ihm bitte nicht übelnehmen.



Heinrich lässt einige Tage vergehen. Dann überkommt ihn die Stimmung, wieder einmal über sein eigenes Leben zu sinnieren und diese Gedanken seinem Vater mitzuteilen. Zufrieden sei er derzeit nicht, aber das Glück liege ja auch nicht in den sechstausend Talern, die er 1847 verdiente, oder in den zehntausend Talern, die er in diesem Jahr erwarte. Es liege auch nicht in seiner prächtigen Wohnung, in köstlichen Speisen oder im guten Wein. Eigentlich fühle er sich weit weniger glücklich, als damals hinter dem Tisch des Krämerladens in Fürstenberg. Über den Vater bedankt er sich indirekt bei seinem Bruder für die Zeilen, lässt aber auch sein Bedauern über Pauls unsinnige Vorurteile gegenüber Russland ausrichten – einem Land, das dem Ausland dreihundert Jahre voraus sei. Schliemann schätzt sich glücklich, mittlerweile russischer Staatsbürger zu sein: »Unser Kaiser liebt sein Volk wie seine Kinder.«



Heinrich überlegt zum Schluss, ob er auf des Vaters erneute Bitte im letzten Brief eingehen soll, nun doch endlich das Abonnement für verschiedene Hamburger Zeitungen abzubestellen. Er entschließt sich, es zu ignorieren. Was auch immer seinem Vater daran missfällt, von seinem Sohn unterstützt zu werden, es kümmert Schliemann nicht.



Während Heinrich sich über Pauls undankbare Zurückweisung aufregt, nervt ihn zugleich die Aufdringlichkeit seines anderen Bruders. Ludwig würde nur zu gerne zu ihm nach St. Petersburg kommen, da er schon wieder arbeitslos ist. Eine Begründung für die plötzliche Kündigung habe er von seinem Arbeitgeber nicht erhalten. Heinrich will ihn nicht zu sich holen, da er ihn für überheblich und selbstherrlich hält. Erst, wenn er Russisch beherrsche, könne er Heinrich nützlich sein, und das würde bei seinem geringen Talent ja wohl noch an die vier Jahre dauern. Was Ludwig aber wirklich verletzt, ist Heinrichs Angebot, ihm fünfhundert Taler vorzuschießen, wenn er nach Mecklenburg zurückkehren und dort ein Geschäft eröffnen würde. Beleidigt antwortet Ludwig, dass er nur gefesselt oder als Leiche nach Mecklenburg zurückgebracht werden könnte, und dass er künftig kein Geld mehr von dem älteren Bruder annehmen werde.



Im März 1848 erhält Heinrich einen ausführlichen Brief von seiner Schwester Wilhelmine. Sie schildert ihm darin ihre Gedanken über die anderen Familienmitglieder. Um Ludwig mache sie sich Sorgen. Dorothea, von Wilhelmine Dörtchen genannt, habe eine gute Stelle als Wirtschafterin in Sternberg in Aussicht. »Püpping«, ihre jüngste Schwester Louise, sei vom Winter noch etwas kränklich, und Elise, die sich um eine Tante in Vipperow kümmert, bemitleide sie um die anstrengende Arbeit. Paul habe keinen eigenen Willen und tue nur, was der Vater verlange; der wiederum wolle nicht vom jüngsten Sohn ablassen. Heinrich aber sei ein herzensguter Mensch, und sie alle hätten ihn zu Unrecht für kalt und keiner edlen Gesinnung fähig gehalten. Wilhelmine stellt fest: »Alle müssen wir so verlassen in der Welt umher irren und unser Brod verdienen – wenn ich so recht darüber nachdenke, werde ich immer sehr sehr traurig und blicke mit Zagen in die Zukunft!«



Ernst Schliemann beobachtet Ludwigs Verhalten eher mit Misstrauen als mit Sorge, seit dieser von ihm die Auszahlung seines mütterlichen Erbteils gefordert hat. Er informiert Heinrich darüber, dass er diesem unbesonnenen Menschen nichts davon aushändigen werde, damit er das Geld nicht genauso vergeude wie jenes, das ihm von seinem »guten Sohn« Heinrich und ihm selbst bereits geliehen wurde.



Selbst Paul erwähnt Ludwig in einem Brief, den er Heinrich im Mai 1848 sendet. Er glaubt, dass Ludwig sich in bitterster Not befände und durch Heinrichs Abreise aus Amsterdam seinen Halt verloren habe. Den Brief schließt er mit folgenden Worten: »Nun lieber, guter Heinrich, lebe mir wohl, recht wohl, wahrscheinlich die letzten Zeilen in diesem Erdenthal hienieden! – Bitte mitunter zu denken, Deines Dich liebenden Bruders Paul.«



Nur wenige Wochen später erhält Heinrich einen Brief von Ludwig, dessen Inhalt ihn überrascht: In wenigen Stunden werde Ludwig auf einem Schiff nach New York reisen. Er teilt ihm mit, dass er von Schröder Geld bekommen habe, das Heinrich in Rechnung gestellt würde – Ludwig würde es ihm zurückzahlen, sobald er könne. Versöhnlich schlägt er vor, an ihrem früheren guten Verhältnis wieder anzuknüpfen. Sein Brief endet mit dem Satz: »Vielleicht sehe ich Europa nicht wieder! – Ach ich habe noch so sehr viel zu arrangiren.«



*



Am 21. Mai 1850, zwei Jahre nach seiner Abreise aus Europa, stirbt Ludwig mit fünfundzwanzig Jahren an Typhus. Bis nach Sacramento City war er gekommen, und hatte dort in den letzten Monaten vor seinem Tod eine abenteuerliche Zeit verbracht. Ein ehemaliger Geschäftspartner Ludwigs sendet Heinrich die Todesanzeige aus einer Zeitung.



Wiederum zwei Jahre später, im Oktober 1852, wird sich Paul mit einundzwanzig Jahren das Leben nehmen. Bis zum Schluss weiß er nicht, wohin er will. Mal möchte er nach Amerika auswandern, mal in einer Gärtnerei sein berufliches Glück suchen. Einige Zeit arbeitet er als Aufseher auf einem gräflichen Gut, zuletzt bewirbt er sich um die Stelle eines Wirtschafters. Vom Vater zieht er niemals weg. Wenige Wochen vor seinem Tod verfasst Paul in einem Brief an Wilhelmine auch ein Gedicht, das seiner Hoffnungslosigkeit Ausdruck verleiht. Es trägt den Titel Betrachtungen der Einsamkeit.



Ernst Schliemann kann es kaum fassen, wie das Schicksal ihm mitspielt. »Er, der mir eine mächtige Stütze in meinem hohen Alter hätte seyn können, ist nun das Gegentheil geworden und hat gleichsam meine Grabstätte schnell bereitet!«, schreibt er über Pauls Tod.



Und über den Tod seines Sohnes Ludwig: »Oh Ludwig! – Wärst Du in Europa geblieben, so hättest Du jetzt meinen Gasthof übernehmen können!«



Mit dem Kauf des Grundstücks, auf dem die Gaststätte stand, hatte sich Ernst Schliemann in finanzielle Schwierigkeiten gebracht.



Heinrich ist der letzte Sohn, der aus der Ehe von Ernst und Luise Schliemann übrig geblieben war. Auf ihm ruhen nun die Hoffnungen der gesamten Familie.



*



Ein Segelschiff glitt über das Wasser. Fuhr es mitten im weiten Ozean oder auf einem schmalen Fluss? Bewegte es sich überhaupt? Von dichtem weißen Nebel eingehüllt, hätte es überall sein können, es hätte ankern oder dahingleiten können, backbord oder steuerbord. Ohne einen landschaftlichen Hintergrund, ohne jedweden Zusammenhang schien es in diesem Moment von allem losgelöst zu sein und einfach zu existieren. Auf Deck hatten sich alle Passagiere versammelt, keiner von ihnen hielt es noch länger in den engen Kabinen aus. Die lange Reise hatte ihre Spuren in den erschöpften Gesichtern hinterlassen, aber in den Augen der meisten sah man ein Funkeln, eine Vorfreude auf etwas, das hinter dem Nebel liegen musste. Der Augenblick würde gleich kommen, manche hofften, manche wussten es. Er musste gleich kommen. Schließlich hatte der Kapitän es gestern Abend angekündigt. Aber noch sahen sie nichts und hörten nichts – außer dem sanften Klatschen des Wassers an der Schiffswand.



Plötzlich schimmerte eine Stelle in der Nebeldecke. Tatsächlich, bei genauem Hinsehen erkannten immer mehr Passagiere Schemen und Kontraste von Hell und Dunkel. Zunächst sahen sie es nur durch angestrengtes Fokussieren, dann gelang es immer müheloser. Der Nebel verzog sich, schob sich wie ein Vorhang zu beiden Seiten weg. Für einige Minuten diente er noch wie die Umrahmung eines Bildes: ein Anblick, der bei vielen Passagieren ein erleichtertes Seufzen auslöste. Vor ihnen lag eine Küste, nicht allzu weit entfernt. Und da entdeckten sie andere Schiffe, manche von ihnen nur als Punkt am Horizont. Als säße ein unsichtbarer Riese an Land, der die Schiffe mit Bindfäden langsam zu sich zog, steuerten sie aus unterschiedlichen Seiten in die gleiche Richtung: in die Bucht von San Francisco. Alle Menschen kamen mit demselben Ziel. Gold soll es hier geben, war ihnen zu Ohren gekommen.



Kaum ein halbes Jahr zuvor war das Sensationelle geschehen: Ein Arbeiter hatte am American River rein zufällig ein Goldnugget gefunden. Trotz der Versuche, die Nachricht geheim zu halten, verbreitete sie sich rasant. Erst flüsterten es sich die Bewohner der Gegend zu. Sie ließen die angefangene Arbeit liegen und stürzten davon, vergaßen ihr Vieh, ihre Häuser, ihr Land, das sie wenige Jahre zuvor mit so großem Stolz zu ihrem Eigentum erklärt hatten. Der Wunsch, Gold zu finden, war größer. Am Fundort angekommen, mussten sie nur etwas Sand auf die Siebe streuen und es hin und her schütteln. Bald blieben kleine Goldstücke im Geflecht hängen, glitzerten verführerisch in den Händen des Finders. So einfach war es also: mit einigen Schwenkern zu Glück und Reichtum.



Die Nachricht zog immer größere Kreise. Bald wusste ganz Kalifornien Bescheid. Auch die Landesgrenzen waren kein Hindernis. Als der Weg von Mund zu Mund nicht mehr weiterging, kam der Telegrafenmast zum Einsatz. So gelangte sie über Ozeane hinweg und wurde in die Welt verkündet. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Von überallher reisten die Menschen, überwanden größte Distanzen, um nach Kalifornien zu kommen. Zu wenig hatten sie in ihrer alten Heimat zu verlieren, zu groß war der Wunsch, den traditionellen Strukturen zu entfliehen und ein neues Leben zu beginnen. Die Nachricht versprühte einen suchterregenden Geruch von Freiheit und Reichtum.



Der spektakuläre Fund hatte sich im Januar 1848 ereignet. Während in San Francisco zu diesem Zeitpunkt ungefähr neunhundert Seelen lebten, waren bereits ein halbes Jahr später mehr als doppelt so viele Menschen hierher gezogen. Am Ende desselben Jahres war die Einwohnerzahl auf zwanzigtausend gestiegen. Täglich ankerten neue Schiffe in der Bucht. Mit den Passagieren gingen zumeist auch die Matrosen an Land und kehrten nie mehr zurück an Bord. Die Neuankömmlinge zogen weiter ins Landesinnere, entlang des American River, oder ließen sich direkt in San Francisco nieder. Denn wer nicht Gold suchen wollte, kam mit anderen Ideen, aus denen sich Geld machen ließ. Die vielen Goldsucher brauchten schließlich Zelte zum Wohnen, Kleidung, Lebensmittel – und jemanden, der ihnen das Gold abkaufen würde. In San Francisco entstanden Banken und Unternehmen wie Levi Strauss & Co. Die Stadt entwickelte sich zum wirtschaftlichen Zentrum Kaliforniens.



Während in den ersten Jahren nach der Entdeckung des Goldnuggets endlose Karawanen aus Reitern, Pferdewägen und Fußgängern von der Ostküste monatelang durch die Prärien zogen und sich mühsam über die Rocky Mountains kämpften, gab es für die besonders Ungeduldigen noch zwei andere Wege. Einer führte per Schiff um das Kap Horn, der andere über den Isthmus von Panama. Letztere Möglichkeit war deutlich schneller als die anderen Wege, dafür aber auch viel gefährlicher.



Als Heinrich Schliemann sich nach dem Tod seines Bruders Ludwig entscheidet, nach Kalifornien aufzubrechen, muss er nicht lange überlegen, auf welchem Weg er sein Ziel erreichen will.



*



Im Frühjahr 1850 ist es so weit. Schliemann verlässt St. Petersburg mit dem Gefühl, nicht viel verlieren zu können. Oder anders gesagt: Den Inhalt seines Lebens, sein Vermögen, nimmt er einfach mit. Verpflichtungen gegenüber anderen hat der Achtundzwanzigjährige nicht. Für Schröder arbeitet er mittlerweile auf eigene Rechnung, sodass er ihm bezüglich seiner Lebenspläne keine Rechenschaft mehr schuldig ist. Und seine Versuche, eine Ehefrau zu finden, sind bislang gescheitert. Nachdem Schliemann über Minna Meinckes Hochzeit informiert worden war, hatte er seine Suche innerhalb der St. Petersburger Gesellschaft fortgeführt. Zwei auserwählte Frauen hätte er sich tatsächlich als lebenslange Begleiterinnen vorstellen können. Sophie Hecker hieß eine von ihnen, eine gebürtige Deutsche, die mit ihren Eltern nach Russland gezogen war. Schliemann schätzte drei ihrer Talente ganz besonders: Sie beherrschte drei Sprachen, spielte Klavier und war bescheiden. Gekränkt musste Schliemann die Beziehung aufgeben, als er ihre unangemessene Offenheit gegenüber einem Offizier bemerkt hatte.

 



Dann war da noch eine andere Bekanntschaft, in der Schliemann Potenzial für eine gemeinsame Ehe zu erkennen glaubte: Jekaterina Lyshina, eine ebenfalls gebildete junge Dame aus einer einflussreichen russischen Familie. Seine Avancen lehnte sie allerdings bislang ab.



Schließlich kehrt Schliemann, frei von jeglichen Verpflichtungen vor Ort und mit der Aussicht auf noch mehr Freiheit, Russland den Rücken zu und bricht im Dezember 1850 mit fünfzigtausend Reichstalern in der Tasche auf nach Amerika.



Der erste Versuch, den Atlantik zu überqueren, misslingt. Mitten auf dem Ozean, tausendvierhundert Meilen von New York, tausendachthundert Meilen von Liverpool entfernt, gerät der Dampfer namens Atlantic, auf dem Schliemann reist, in einen Orkan. Die Maschinen funktionieren nicht mehr, die Mannschaft versucht, mit gehissten Segeln weiter Richtung Westen zu fahren. Aber gegen die Stürme kommen sie nicht an, sodass der Kapitän schließlich den Beschluss fasst, nach Europa zurückzukehren. Schliemann ist nicht allzu missgestimmt. Zum Glück gibt es genügend interessante Gestalten unter den Passagieren, mit denen er sich über viele Themen unterhalten kann. Nach etwa zwei Wochen, am 22. Januar 1851, sichten sie die irische Küste.



Am 2. Februar – nicht ohne zuvor in Liverpool ein Theater besucht, in Amsterdam einige Geschäfte erledigt und sich in Dover von einem Schiffsbauer Informationen über Kalifornien eingeholt zu haben –, startet Schliemann von Liverpool aus den nächsten Versuch, auf einem Schiff namens Africa nach Amerika zu gelangen. Diesmal klappt es. Am 15. Februar fährt das Schiff in die Bucht von New York ein. Während der Einfahrt lässt der Kapitän Raketen abfeuern, die Tausenden von Menschen, die gebannt am Ufer warten, eine verheißungsvolle Nachricht ankündigen sollen. Schließlich weiß bis dahin niemand von ihnen vom Schicksal des Vorgängerschiffs Atlantic, dessen Überquerung des Ozeans zwar missglückt war, dessen Passagiere jedoch alle überlebt haben.



Schliemann nutzt die Tage in New York, um sich in verschiedenen Handelshäusern vorzustellen und sich auf das geplante Geschäft in Kalifornien vorzubereiten. Nach sorgfältiger Überlegung überlässt er sein Vermögen einem Bankhaus, das ihm vertrauenswürdig erscheint. Neben der Arbeit erkundet er das kulturelle, kulinarische und weibliche Angebot der Stadt. Die Theaterhäuser gefallen ihm nicht, das Essen schmeckt ihm gut, die »Yankee-Ladies« findet er zu lebhaft und äußerlich verbraucht. Die amerikanischen Männer scheinen ihm mitteilsam und fleißig zu sein, von guter Konstitution, wenn auch etwas schwächlicher als Engländer.



Schliemann verweilt nicht lange in New York. Immerhin steht ihm noch die Umrundung des nordamerikanischen Kontinents bevor, um sein eigentliches Ziel zu erreichen. Mit der Eisenbahn fährt er nach Philadelphia. Von dort aus geht es Ende Februar weiter auf einem Schiff nach Chagres, den atlantischen Hafen am Isthmus von Panama. Je mehr er sich dem Äquator nähert, desto höher steigen die Temperaturen. Schliemann hasst es. Das tägliche Bad am Morgen hilft ihm kaum gegen die unerträgliche Hitze.



Am 9. März erreicht das Schiff Chagres – den erbärmlichsten Ort, den Schliemann bis zu diesem Zeitpunkt jemals gesehen haben will. Er und seine Reisegefährten fahren nun auf Booten weiter durch den Chagres-Fluss in Richtung Panama. Nach dem Anblick der heruntergekommenen Hütten von Chagres hält Schliemann die Landschaft, in die er nun eintaucht, wiederum für das Entzückendste, was er je gesehen hat. Die Ufer des Flusses sind von Zitronenbäumen und Kokospalmen gesäumt. Dennoch missfällt ihm auch vieles. In sein Tagebuch schreibt er regelmäßig und schildert seine Reiseerlebnisse: die reiche Vegetation, die feuchten Dünste der Sümpfe, der Gestank verwesender Tiere und Pflanzen, der warme Dauerregen. Und über allem die drückende Hitze. Gegen diese hilft gar nichts mehr, selbst völlig unbekleidet würde der Körper kaum abkühlen. Schliemann glaubt, in diesem Klima mit jedem Atemzug Gift einzusaugen.










Heinrich Schliemann in New York, ca. 1851



Das Trinkwasser ist lauwarm und meist voller Insektenlarven; nur mit Branntwein gemischt wird es genießbar; gegen das Durstgefühl hilft es trotzdem nur wenig. An den Abenden, wenn sie am Ufer ihr Nachtquartier aufgeschlagen haben, ist für Schliemann kaum an Schlaf zu denken. Selbst in den Hütten, die keine Wände haben und nur aus Laubdächern und vier Pfählen bestehen, hört er ni