Der Mann, der Troja erfand

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Eine Woche nach dem Wiedereinzug der Dienstmagd, es war ein herbstlicher Sonntag, wurde das morgendliche Vogelgezwitscher um Ankershagen von einem Moment auf den anderen jäh unterbrochen: Ohrenbetäubendes Klirren und Scheppern hallte von den Häuserwänden über die Dorfstraße hinweg. Mehr als zweihundert Menschen hatten sich vor dem Pfarrhaus versammelt und schlugen mit Stöcken auf Töpfe ein. Dazu brüllten sie Spottgedichte. Von dem plötzlichen Lärm verängstigt versteckten sich Heinrich und seine Geschwister im Haus; trotz verschlossener Fenster hörten sie jedes der hasserfüllten Schimpfworte mit scharfer Deutlichkeit. Irgendwann hielt es Heinrich nicht mehr aus und wollte sehen, was sich auf dem Vorplatz abspielte. Er schob einen der zugezogenen Vorhänge vorsichtig beiseite und sah durch einen schmalen Spalt nach draußen: Nur wenige Meter vor ihm stand die aufgebrachte Gruppe und johlte in seine Richtung. Die meisten der zornerfüllten Gesichter kannte Heinrich gut, fast jeden von ihnen hatte er zumindest schon einmal gesehen. Das waren seine Nachbarn, die Bewohner von Ankershagen und den ringsum liegenden Dörfern. Als er bemerkte, wie sich ein Mann in der vordersten Reihe nach einem Stein auf dem Boden bückte, sprang er erschrocken vom Fenster weg und duckte sich. Eine Sekunde später klirrte es nebenan. Der Mann hatte offenbar mit dem Stein auf das Küchenfenster gezielt und es erfolgreich getroffen. Irgendwann beendete die Gruppe ihre Kesselmusik und ging wieder auseinander. Doch nicht für lange.

Ernst Schliemann, Heinrichs Vater

Den Skandal, den Ernst Schliemann mit seinem Verhalten verursacht hatte, wollte die Gemeinde Ankershagen nicht länger hinnehmen. Ihre Proteste wiederholten sie an den drei folgenden Sonntagen. Und mehr noch: Die Bewohner vermieden von nun an den Gottesdienst von Ernst Schliemann, und die Kirchengemeinde schickte eine Abordnung nach Waren, um sich über das Fehlverhalten ihres Pastors zu beschweren. Die Dorfbewohner wollten in erster Linie den Pastor treffen, aber mindestens so schwer trafen sie seine Kinder. Heinrichs Freunde tauchten nicht mehr bei ihm auf – ihre Eltern verbaten ihnen den Kontakt zu ihm. Auch Minna durfte nicht mehr mit Heinrich spielen; fortan musste er seine Streifzüge zu den geheimnisvollen Orten allein unternehmen. Solche Ausflüge machte er aber ohnehin kaum noch. Zu sehr spürte er die Blicke und das demonstrative Schweigen, wenn er im Dorf unterwegs war.

Als Großherzog Friedrich Franz I. persönlich eine Ermittlung gegen Ernst Schliemann einleitete, um den Vorwürfen zu dessen angeblich unmoralischem Verhalten und den übrigen Verfehlungen auf den Grund zu gehen, sah Heinrichs Vater den Zeitpunkt gekommen, seine Kinder von Ankershagen wegzuschicken. Nicht einmal ein Jahr nach dem Tod der Mutter brach die Familie auseinander und zerstreute sich in unterschiedliche Richtungen. Heinrichs Geschwister wurden bei verschiedenen Verwandten untergebracht. Er selbst zog bei der Familie seines Onkels in Kalkhorst ein und wurde in den folgenden eineinhalb Jahren von einem Privatlehrer auf den höheren Bildungsweg vorbereitet.

Im Herbst 1833 war es dann soweit: Der elfjährige Heinrich kam auf das Gymnasium Carolinum in Neustrelitz. Doch die Folgen des Skandals in Ankershagen wirkten immer noch nach. Heinrichs Vater war mittlerweile suspendiert worden und konnte das Schulgeld bald nicht mehr bezahlen. Heinrich musste nach drei Monaten das Gymnasium verlassen und auf die kostengünstigere Realschule wechseln. Die Enttäuschung über diesen aufgezwungenen Rückschritt bleibt ein Thema in Heinrichs Leben. Einen Versuch, dieses ungewollte Ereignis zu kompensieren, es metaphorisch in den Griff zu kriegen, könnte man aus seiner Selbstbiografie herauslesen, die er Jahrzehnte später niederschrieb. Dort formuliert Heinrich das Verlassen des Gymnasiums als eine Entscheidung, die er selbstständig getroffen hätte, um die wenigen Mittel des Vaters nicht überzustrapazieren.

Mit vierzehn Jahren begann Heinrich direkt nach dem Abschluss der Realschule eine Kaufmannslehre in einem Krämerladen in Fürstenberg. Die folgenden fünf Jahre arbeitete er von morgens um fünf Uhr bis nachts um elf Uhr. Er verkaufte Heringe, Butter, Kaffee, Talglichter und vieles mehr, mahlte zwischendurch Kartoffeln für die Brennerei oder fegte den Laden. Zur Weiterbildung blieb ihm keine Zeit, im Gegenteil: Das Wenige, was er zuvor gelernt hatte, vergaß er während der Lehrjahre ganz. Außerdem wohnte Heinrich zum ersten Mal weit entfernt von Familie und Verwandten. Zwar fand er in seinem Lehrherrn Hans Theodor Hückstädt einen aufgeklärten und verständnisvollen Mann, mit dem er noch viele Jahrzehnte brieflichen Kontakt pflegte. Dennoch behielt er seine Zeit in Fürstenberg in schlechter Erinnerung und stellte sie stets als einen der Tiefpunkte seines Lebens dar.

Nach fünf zähen Jahren voller anstrengender und eintöniger Arbeit folgte ein Jahr, das von wichtigen Entscheidungen und Begegnungen geradezu überhäuft war und letztendlich in dem Schiffsunglück vor Holland gipfeln sollte. Heinrichs Leben schien Fahrt aufzunehmen. Nachdem sein Arbeitsverhältnis in Fürstenberg beendet war, wollte er zunächst nach New York auswandern, landete dann aber in Rostock, von wo es ihn bald nach Hamburg zog. Nach vielen Jahren ohne Familie und Verwandtschaft traf er innerhalb weniger Monate wieder auf seinen Vater und dessen neue Ehefrau, sah seine beiden jüngsten Geschwister Louise und Paul und lernte zugleich seine neuen Halbgeschwister kennen, Karl und Ernst. Er ging nach Neubukow zum Grab seines älteren Bruders, der zwei Monate nach Heinrichs Geburt gestorben war. In Wismar traf er einen Teil seiner Verwandtschaft. Von dort gelangte er schließlich nach Hamburg.

Nach der Zeitreise durch die mecklenburgische Provinz lernte Heinrich zum ersten Mal in seinem Leben eine Stadt kennen, deren Anblick allein ihn so sprachlos machte, dass er in seiner Unterkunft eine Stunde lang nackt am Fenster stand, ohne es zu bemerken. Auf dem Weg durch die Stadt sog Heinrich das Treiben mit all seinen Sinnen auf: diese vielen Menschen, egal, wohin er blickte; wie sie liefen und rannten, wie sie Heinrich wegdrängten oder ihn vor sich herschoben. Das Dauerrauschen aus dem Geschrei der Händler, die ihre Ware feilboten, aus dem Dröhnen der vorbeifahrenden Pferdekutschen, die den zähen braunen Matsch auf den Straßen hochspritzen ließen, und aus dem mechanischen Klang der Glocken, die von den Kirchturmuhren hoch über den Gebäuden bis hinunter in die Straßenschluchten drangen.

In Hamburg kam es zu einer weiteren prägenden Begegnung. Heinrich suchte Sophie Schwarz auf, deren Affäre mit seinem Vater den Skandal in Ankershagen vor nunmehr zehn Jahren ausgelöst hatte. Sie arbeitete mittlerweile als Zimmermädchen in einem Hotel. Zwar war sie anders gekleidet, aber an ihrem plumpen Gesicht erkannte Heinrich sie trotzdem sofort. Obwohl er sie eigentlich verabscheute, berichtete Heinrich seinen Schwestern später in einem Brief von dem, was Sophie aus ihrer eigenen Perspektive über die schlimmen Ereignisse von damals zu sagen hatte. Ganz besonders ausführlich schilderte er dabei die Vorwürfe, die sie seinem Vater machte, die verlogenen Liebesversprechen eines geachteten Mannes, der das Wort des Höchsten verkündet. Er hatte sie in ihrer armseligen Lage als Dienstmagd ohne große Zukunftsaussichten geblendet. Heinrich brauchte nicht weniger als zehn Briefblätter, um die Anklage Sophies niederzuschreiben. Keine einzige ihrer Aussagen über Ernst Schliemann schien Heinrich seinen Schwestern vorenthalten zu wollen. Seine anfängliche Abscheu gegenüber Sophie schien einem anderen Gefühl gewichen zu sein – vielleicht dem Gefühl eines Leidensgenossen.

Arbeitslos, schwach auf der Lunge und mit Schmerzen in der Brust wurde die Situation in der großen fremden Stadt für Heinrich langsam brenzlig. Um seinen Körper zu kräftigen, ging er regelmäßig in eisig kaltem Wasser baden. Um seine finanziellen Engpässe überbrücken zu können, schrieb er einen Brief an seinen Onkel in Vipperow und bat ihn darum, ihm zehn Reichstaler zu leihen. Dieser schickte ihm zusammen mit dem Geld einen Brief, dessen Inhalt Heinrich tief verletzte. Der Stolz des Neunzehnjährigen muss bereits zu diesem Zeitpunkt groß gewesen sein. Er schwor sich daraufhin, nie wieder um die Hilfe eines Verwandten zu bitten, egal, wie schwer seine Not auch sein möge.

Heinrich war schon einige Zeit in Hamburg, doch es hatten sich bislang keine beruflichen Perspektiven für ihn ergeben. Da lernte er auf der Börse einen Schiffsmakler kennen, der ihn auf eine Idee brachte. Auf die Idee eines Neuanfangs in der Ferne.

*

Als Schliemann am ersten Weihnachtstag 1841 im Amsterdamer Armenkrankenhaus liegt, ist der Enthusiasmus, mit dem er nur wenige Wochen zuvor seine Reise angetreten hatte, auf ein Quäntchen zusammengeschrumpft. Schuld daran hat sein trostloses Umfeld: ein einziges Zimmer gefüllt mit mehr als hundert wimmernden Patienten, von denen jeden Tag drei bis vier als Leichen hinausgeschafft werden. Vor allem aber die unerträglichen Schmerzen in seinem Mund quälen ihn permanent. Einen Abend zuvor, kurz bevor das gedämpfte Glockenläuten der Christmette bis in die Räume des Krankenhauses vorgedrungen war, hatte ein Arzt ihm die Wurzeln seiner abgebrochenen Vorderzähne entfernt. Dieses Jahr, das so vielversprechend begonnen hatte, könnte eigentlich kaum schlimmer enden, stellt Schliemann mit geschwollenem Gaumen fest.

In dem Augenblick, als er sich endlich aus der stundenlangen Rückenlage befreit und in eine einigermaßen bequeme Seitenposition geschoben hat, um trotz der Pein etwas Schlaf zu finden, hört er, wie die Tür geöffnet wird und Schritte durch das Zimmer hallen. Direkt vor seinem Bett werden sie langsamer und klingen ab. Schliemann blickt nach oben und erkennt nach einigen Sekunden Herrn Quack wieder, den Konsul von Mecklenburg, den er am Tag seiner Ankunft in Amsterdam aufgesucht hatte. Nachdem er ihn mit einem Nicken begrüßt hat – auf das Reden verzichtet er lieber –, überreicht der Konsul ihm einen Brief. Es ist eine Antwort vom Schiffsmakler Wendt, den Schliemann von der Insel Texel aus um Hilfe gebeten hatte. Schliemann überfliegt hastig die Zeilen. Danach braucht er einige Augenblicke, um sein Glück zu begreifen. Wendt wird ihm nicht nur Geld senden, sondern will ihn darüber hinaus auch bei der Suche nach Arbeit unterstützen. Die Nachricht wirkt auf Schliemann wie Medizin. Bereits am nächsten Morgen verlässt er das Krankenhaus – allein die Pflaster im Gesicht erinnern ihn noch einige Zeit an das scheußlichste Weihnachtsfest seines Lebens.

 

Zwei Monate nach seiner Ankunft hat sich Schliemann in Amsterdam sein neues Leben eingerichtet. Die Stadt ist nicht sehr groß und wirtschaftlich längst nicht mehr so bedeutend wie Hamburg, aber sie gefällt ihm trotzdem, zumindest als eine Zwischenstation. Sein Plan steht bereits fest: Für einige Jahre will er hierbleiben, danach wird er sein Glück außerhalb Europas suchen.

Von dem Geld des Schiffsmaklers Wendt hat sich Schliemann neue Kleider gekauft und ein kleines Zimmer im fünften Stock eines Hauses gemietet. Und dank der Empfehlung Wendts hat Schliemann auch Arbeit gefunden, und zwar im Handelskontor Hoyack & Co. Als er seinen neuen Arbeitgebern während des Vorstellungsgesprächs ein Schriftstück innerhalb von fünfzehn Minuten in vier verschiedene Sprachen übersetzt, blicken sie sich überrascht an. Schliemann wird eingestellt.

Das Kontor liegt an der Keizersgracht, einer der Hauptgrachten, die den mittelalterlichen Stadtkern umschließen. In Hoyacks Haus laufen die Patrone und ihre rund zwanzig Mitarbeiter auf Marmorböden und -stufen. Das Hausinnere wird von Gaslampen hell erleuchtet –allein im großen Kontorsaal zählt Schliemann achtundvierzig davon. Einunddreißig Schiffe gehören zum Inventar; gehandelt wird unter anderem mit Getreide und Kolonialwaren. Während Schliemann noch vor einem Jahr auf den Regalen eines kleinen Krämerladens Staub wischte, macht er nun Botendienste für eines der größten Handelshäuser Amsterdams. Zugleich empfindet er seine Arbeitszeiten als deutlich entspannter. Vormittags beginnt das Geschäft nicht vor zehn Uhr. Nachmittags gegen drei Uhr bricht Schliemann zur Börse auf. Nach einer halbstündigen Pause arbeitet er nochmals bis acht Uhr im Kontor. Am Feierabend verabschiedet sich Schliemann vor der prächtigen Eingangstür des Kontors von seinen Kollegen, die sich in unterschiedliche Richtungen zerstreuen. Er will noch etwas frische Luft schnappen, bevor er nach Hause geht, und unternimmt einen Spaziergang. Überall beleuchten Gaslaternen den Weg durch die Gassen, spiegeln sich in den sanften Wellen des pechschwarzen Wassers der Kanäle und Grachten wider. Bei Nacht, in künstliches Licht getaucht und in friedlicher Stille, findet Schliemann Amsterdam noch viel eleganter und herrlicher – so stellt er sich eine Stadt von Welt vor.

Die vielen neuen Eindrücke auf seiner abenteuerlichen Reise und von seinem neuen Zuhause schwirren in seinem Kopf. Er möchte jemandem davon erzählen, am liebsten seinen Schwestern Wilhelmine und Doris. Als er alle Ereignisse der letzten Wochen endlich schriftlich festgehalten hat, von denen die Schwestern seiner Meinung nach wissen sollten – angefangen von den besonderen Begegnungen kurz vor der Abreise, seinem erstaunlichen Überleben des Schiffsbruchs bis hin zu seiner glücklichen Ankunft in Amsterdam, einer Stadt, von deren Pracht sich seine Schwestern in der Provinz ja keine Vorstellung machen können –, will er den Brief unterschreiben. Da hält er inne und überlegt eine Weile, wie sich der schicksalhafte Beginn seines neuen Lebens am besten vermitteln ließe. Schließlich setzt er den Stift auf das Papier und unterschreibt mit: Henry Schliemann. So wird es fortan unter all seinen Briefen stehen.

Die Abendspaziergänge bleiben Schliemanns einziges Freizeitvergnügen. Sein Verdienst reicht nicht aus, um die Schaubühnen oder eines der zahlreichen Kaffeehäuser zu besuchen, wo er vielleicht auch einem seiner Kollegen begegnen würde. Und es gibt noch einen weiteren Grund, weshalb er nach einem solchen Ausflug lieber rasch wieder in seine Dachkammer zurückkehrt. Dort angekommen, legt er seinen Rock beiseite, um zwei wollene Unterjacken anzuziehen und ein Katzenfell um seinen Bauch zu wickeln. Eine Heizung fehlt im Zimmer, und den Ofen aus Gusseisen, den er sich vom Schmied gegen eine monatliche Gebühr geliehen hat, wirft er im ersten Winter nur selten an – zu teuer sind die Steinkohlen. Er sitzt an einem kleinen Tisch und schlägt mit kalten Fingerspitzen das siebte Kapitel des Buches Ivanhoe auf. Dann fängt Schliemann, dessen Gesicht nur bis zur roten Nasenspitze aus seinem Wollschal ragt, mit lauter durchdringender Stimme an, den ersten Satz zu lesen: »The – con-dit-ion – of – the – Eng-lish – na-tion – was – at – this – time – suf-fi-cient-ly mi-se-ra-ble.« Jedes Wort, jede einzelne Silbe betont er in einer unbeirrt steten Geschwindigkeit. So fährt er lange Zeit fort, und die englischen Wörter durchschneiden im Stakkato wie Peitschenhiebe mechanisch die nächtliche Stille. Sie dringen durch die dünnen Wände bis hinunter zu den Bewohnern im dritten Stockwerk. Als irgendwann ein kräftiges Klopfen unter den Dielen seines Zimmers ertönt, blickt Schliemann auf die Uhr: Eine Stunde ist vorbei, seit er begonnen hat. Somit kann er die Sprachübung für heute guten Gewissens beenden und seine Nachbarn für den Rest der Nacht verschonen. Er legt das Buch beiseite und greift zu Stift und Papier. Nachdem er seine Hände kurz geknetet hat, um sie besser zu durchbluten, fängt er schweigend an, seine Gedanken auf Englisch niederzuschreiben. Es ist weit nach Mitternacht, als er sich zu Bett legt.

Englisch ist fortan seine neue, treue Begleitung: wenn er auf dem Weg zum Kontor ist, wenn er auf dem Weg nach Hause ist, wenn er in der Warteschlange vor dem Postamt steht, wenn er nachts nicht einschlafen kann. Er übt das Sprechen, er lernt seine selbst geschriebenen Sätze, aber auch ganze Romane auswendig, mal im Lauten, mal im Leisen. Er überwindet seine Abneigung gegen Gottesdienste und besucht regelmäßig eine englische Kirche, um während der Predigten sein Gehör für die Sprache zu trainieren. Als er ein halbes Jahr in Amsterdam lebt, sind seine Englischkenntnisse für seine Ansprüche bereits ausreichend. Schliemann räumt die alten Lernmaterialien beiseite, um Platz für neue Bücher zu schaffen. Inzwischen ist es Sommer geworden, und in seiner Kammer direkt unter dem Dach steigen die Temperaturen tagsüber in unerträgliche Höhen. Während er über den Büchern brütet, bilden sich auf seiner Stirn kleine Schweißperlen. Aber weder die Winterkälte noch die Sommerhitze halten ihn davon ab, seine Lektionen durchzuziehen. Statt mit Englisch quält Schliemann seine Nachbarn nun Abend für Abend mit den ersten stockenden Übungen im Französischen. Weitere Monate vergehen, und bald kann er sich neben Englisch und Französisch auch auf Holländisch, Spanisch und Portugiesisch unterhalten. Seine selbst erfundene Methode, bestehend aus lautem Lesen, Auswendiglernen und Korrigieren durch Lehrer, hat er in der Zwischenzeit so perfektioniert, dass ihm das Erlernen einer Sprache innerhalb von sechs Wochen gelingt. Sie erfordert viel Zeit und harte Disziplin, aber eines hat Schliemann seit seiner Abkehr von der Heimat begriffen: Die Ziele, die er sich gesteckt hat, wird er nie auf bequemen Wegen erreichen.

*

Es ist das späte Frühjahr 1844. Seit rund zwei Jahren lebt Schliemann in Amsterdam und wurde erst kürzlich im Handelshaus B.H. Schröder & Co. eingestellt. Schliemann geht gerne zu seinem neuen Arbeitsplatz. Statt unterfordernder Botengänge zum Postamt übernimmt er verantwortungsvolle Tätigkeiten als Korrespondent und Buchhalter des Kontors, mit einem deutlich besseren Gehalt. Herrn Schröder konnte er vor allem durch seine vielfältigen Sprachkenntnisse überzeugen. Schliemann spürt, dass dieser seine Talente schätzt und ihm etwas zutraut. Gleichzeitig schaut der Patron seinem neuesten Angestellten genau auf die Finger. Aber Schliemann kümmert das nicht weiter, im Gegenteil. Endlich wird er von jemandem gesehen.

Während seine Karriere bereits erfreuliche Fortschritte zeigt, verändert Schliemann an seinem Privatleben so gut wie gar nichts. Er unternimmt nicht viel mehr als seine Abendspaziergänge, lebt weiterhin in dem kleinen Dachzimmer, das zu jeglicher Jahreszeit die denkbar ungünstigste Temperatur hat. Und er ernährt sich noch immer von Schwarzbrot und Roggenmehlbrei. Das Geld, das er zusammenspart, sendet er seiner Familie nach Mecklenburg. Die einzigen Gäste, die er empfängt, sind seine Sprachlehrer. Aber selbst die kommen seit längerer Zeit nicht mehr vorbei. Denn für die neueste Sprache, die Schliemann unbedingt beherrschen will, findet er niemanden. Genau darin liegt der Reiz für ihn: Könnte er Russisch sprechen, wäre er damit wohl der Erste in Amsterdam.

Allein schon die Suche nach geeignetem Lernmaterial gestaltet sich schwierig. Von dem Moment an, als er sein neues Projekt vor Augen hat, nutzt Schliemann jede freie Minute, um in Antiquariaten nach russischen Büchern Ausschau zu halten. Es dauert Wochen, bis er das Nötigste erstanden hat: ein Lexikon, eine Grammatik und eine Übersetzung der Abenteuer des Telemach.

Die Suche nach einem Lehrer gibt Schliemann schließlich auf und beginnt mit dem allabendlichen Auswendiglernen und Schreiben. Doch er muss sich bald eingestehen, dass das laute Sprechen und das darauf folgende Schweigen der Zimmerwände einfach nicht befriedigend sind, genauso wenig wie das aggressive Klopfen unter den Dielen, das irgendwann folgt. Schliemann braucht einen willigen Zuhörer. Schließlich bezahlt er einen Mann, einen Juden aus armen Verhältnissen. Für vier Gulden pro Woche muss dieser sich jeden Abend einen russischen Monolog anhören, von dem er kein Wort versteht. Nach etwa zwei Stunden verabschiedet Schliemann mit heiserer Stimme seinen Gast, der etwas benommen auf den Treppenstufen wankt und mit einem leichten Dröhnen in den Ohren in die Nacht verschwindet. Sechs Wochen später entlässt er den Juden von seinen Pflichtbesuchen. Schliemann beherrscht nun genügend Russisch, um Geschäftsbriefe in dieser Sprache zu schreiben und mit russischen Kaufleuten Gespräche zu führen.

Im Kontor bemerkt niemand etwas von Schliemanns schlafraubender Freizeitaktivität. Er erfüllt seine Aufgaben gewissenhaft und nimmt die Ratschläge erfahrener Kollegen an. Wann immer Schröder an Schliemanns Schreibtisch vorbeiläuft oder von Weitem einen Blick zu ihm hinüberwirft, sieht er den jungen Mann, wie er sich konzentriert und mit gestrecktem Rücken über ein Buch oder eine ausländische Zeitung beugt. Letztere durchsucht er nach Artikeln, die für das Kontor in irgendeiner Form relevant sein könnten, liest sie durch und wertet sie hinterher aus. Zufrieden wendet sich Schröder von diesem Anblick ab und fühlt sich wieder einmal in seiner Entscheidung bestätigt, dem jungen Deutschen eine Chance gegeben zu haben. Zwar musste er schon nach wenigen Wochen in der ein oder anderen Situation leicht die Augenbraue heben, als bei seinem neuesten Angestellten völlig unerwartet ein erstaunliches, fast schon unverschämtes Maß an Selbstbewusstsein aufblitzte – doch darüber sieht Schröder bei solch fleißigem Gebaren gerne hinweg. Der Übermut, denkt er, ist sicherlich nur Schliemanns jugendlichem Alter zuzurechnen.

*

»In der Tat gehen uns Neuyork und Lima näher an als Kiew und Smolensk«, schreibt der preußische Historiker Leopold von Ranke (1795-1886) im Jahr 1827. Ranke spricht wohl den meisten Westeuropäern seiner Zeit aus dem Herzen. Das Russische Zarenreich, obwohl so viel näher gelegen als Amerika, scheint ihnen rätselhaft – und gefühlt in unerreichbarer Ferne gelegen. Dass Zar Alexander I. gerade einmal ein Vierteljahrhundert zuvor in den napoleonischen Kriegen als »Retter Europas« gefeiert worden war und Russland auch auf dem Wiener Kongress bei der Neuordnung des Kontinents eine bedeutende Rolle gespielt hatte, änderte daran auch nicht viel. Russland und seine Bewohner wirken auf die Europäer immer noch »barbarisch«, rückständig und fremdartig, wenngleich Letzteres nicht oberflächlich sichtbar sei. Napoleon soll einst gesagt haben, man müsse am Russen nur kratzen, um den Tataren zu finden. Dieses Bild spukt noch Jahrzehnte später in den Köpfen vieler, wenn sie an das Zarenreich denken.

*

Es ist ein später Nachmittag im Winter 1846, als Schliemann im offenen Schlitten über die Waldaihöhen durch das so fremdartige Land fährt. Die Sonne ist fast untergegangen, am tiefblauen Himmel leuchten bereits die ersten Sterne durch die wenigen Lücken, die der aufsteigende Nebel noch zulässt. Im schwachen Dämmerlicht tauchen zwischen den bewaldeten Hügeln pechschwarze Seen auf und verschwinden wieder. Gleichmäßig trampeln die Pferde über den verschneiten Pfad. Wohin der Schlitten fährt, scheint nur sein schweigsamer Fahrer zu wissen. Denn vor ihnen liegt Finsternis.

 

Schliemann hält es in diesem Moment für durchaus realistisch, noch nie zuvor einer solchen Kälte ausgesetzt gewesen zu sein. An der letzten Station, an der sie haltgemacht hatten, war das Quecksilber eingefroren. Mit steifen Händen versucht er, die Pelzmütze noch tiefer in den Nacken zu ziehen. In seinen Ohren pocht der Schmerz. Seit ungefähr zwanzig Stunden sitzt er in dem Schlitten, der ihn nach St. Petersburg zurückbringen soll. Vor einem knappen Jahr ist er von Amsterdam dorthin gezogen und bereits zum vierten Mal hat er die beschwerliche Fahrt ins siebenhundert Kilometer entfernte Moskau auf sich genommen. Nun liegen noch mehr als fünfundzwanzig Stunden vor ihm: eine ganze Nacht und ein weiterer Tag, bis er am Ziel ankommen wird. Aus Erfahrung weiß er, dass sich die letzten Kilometer besonders lang hinziehen werden. Erst, wenn am Horizont die Silhouette von St. Petersburg zu sehen ist, wird er Vorfreude und Erleichterung über die baldige Ankunft verspüren.

Schliemann muss immer wieder seine Augen reiben – der schneidende Wind lässt sie tränen, und die austretende Flüssigkeit fängt in der frostigen Kälte sofort an zu gefrieren. Allein schon das Luftholen ist eine Qual. Flach atmend und mit geschlossenen Augen drückt er sich tief in die Sitzbank und denkt an die letzten Tage zurück.

Seine Reisen nach Moskau waren bisher stets ein kleines Abenteuer gewesen, nicht nur der Weg dorthin, sondern auch der Aufenthalt selbst. Voller Nervenkitzel hoffte Schliemann, vor Ort neue spannende Kontakte in der Handelsbranche zu knüpfen und lukrative Geschäfte abzuwickeln. Seine Hoffnung hatte sich stets erfüllt, seine Erwartungen wurden zumeist sogar übertroffen. Auf den Rückfahrten nach St. Petersburg hatte er das zähe Tempo der Reise genutzt, um die guten Nachrichten an seine Auftraggeber in Europa gedanklich vorzuformulieren. Zu Hause angekommen, würde er dann die Briefe mit ausführlichen Details niederschreiben, nicht ohne den Adressaten das Lob für Schliemanns großartige Leistungen schon einmal vorwegzunehmen. Bereits zu diesem Zeitpunkt besitzt er einen reichen Wortschatz an Superlativen.

Nun ist alles anders gekommen. Im Schlitten frierend, zerbricht Schliemann sich den Kopf darüber, wie er in Worte fassen soll, was in Moskau passiert ist. Er hatte sich mit Wladimir Alexejew getroffen, einem Moskauer Kaufmann. Der Kontakt war, genau betrachtet, nicht rein beruflich, denn Schliemann war mit der Familie von Alexejew privat befreundet. Vielleicht, denkt er, hatte er deshalb eher voreilig und vertrauensvoll begonnen, sich auf Geschäfte mit dem jungen Kaufmann einzulassen. Bislang war er mit seinen spontanen Entscheidungen überwiegend gut gefahren. Doch diesmal war es ein Fehler gewesen. Das Treffen entwickelte sich zu einem Desaster, die Geschäftsverbindung ist grandios gescheitert – und Schliemann hat schon die finanziellen Verluste ausgerechnet, die sein Misserfolg nach sich ziehen wird. Schröder wird entsetzt sein.

Mittlerweile ist die Sonne wieder aufgegangen, aber die Temperaturen sind nur unmerklich gestiegen. Der Schlitten quietscht leicht, während er über den vereisten Boden gleitet. Schliemann zählt die Bauernhöfe, die er im Vorbeifahren entdeckt. Viele sind es nicht. Sie liegen weit entfernt voneinander und wirken verloren in der unendlichen Landschaft aus Wäldern, Hügeln und Seen. Die Bauern, die am Wegesrand unterwegs sind und vom Schlitten überholt werden, sind für die Jahreszeit eher notdürftig gekleidet. Auf dem Rücken tragen sie primitive Geräte zum Beackern der Felder oder ziehen sie auf Holzkarren hinter sich her. Die meisten von ihnen sind nach wie vor Leibeigene und leben in feudalen Verhältnissen, wie man sie in Westeuropa schon länger nicht mehr kennt. Schliemann kann beim Anblick der russischen Bauern kaum glauben, dass er sich in dem Land befindet, in dem zugleich so prächtige Städte wie St. Petersburg und Moskau stehen.

Irgendwann wird die Stille durch ein Hämmern und schrille Töne unterbrochen. Schliemann, der für einen Augenblick eingedöst war, richtet sich, von dem mechanischen Geräusch wach geworden, in seinem schweren Pelzmantel auf und sucht mit den Augen den Horizont ab. Tatsächlich, sie nähern sich den Arbeitern, die die Gleise für die neue Eisenbahnstrecke verlegen. Weit sind sie nicht gekommen, seit Schliemann auf dem Weg nach Moskau an ihnen vorbeigefahren war. Dabei hatte der Bau der geplanten Strecke zwischen St. Petersburg und Moskau schon 1842 begonnen – als Schliemann gerade einmal ein halbes Jahr in Amsterdam lebte. Vier Jahre ist das her, doch es kommt ihm vor wie eine Ewigkeit, die zwischen dem Botenjungen mit dem winzigen Dachzimmer und dem vielreisenden Handelsagenten liegt. Ernüchtert gibt er die Hoffnung auf, dass er schon in naher Zukunft in einem angenehm warmen Zugabteil nach Moskau fahren kann, während die Hügel und Seen nur noch wie dünne Fäden an seinem Fenster vorbeiziehen. Er tröstet sich damit, dass er in kaum einer Stunde in der Stadt ankommen wird.

Noch am selben Abend bringt er die unangenehme Aufgabe hinter sich und schreibt den Brief an Schröder. Die Antwort lässt nicht lange auf sich warten. Schliemann reißt das Kuvert auf und fängt an, die ersten Zeilen zu lesen. Schröder sehe

»mit Bedauern Ihre getäuschten Illusionen in betreff der Verbindung mit W Alexejeff, allein wundern tut es mich nicht im Entferntesten, vielmehr habe ich es längst erwartet, und zwar von vornherein, wie Sie auch bei Ihrer Anwesenheit hier bemerkten, die begründetsten Zweifel über alle Ihre hirnscheinigen Projecte gesagt. Sie haben durchaus keine Kenntnisse von Menschen und Welt, schwatzen und versprechen viel zu viel, schwärmen immerwährend für Hirngespinste, nur in Ihrer Einbildungskraft erreichbar, in der Wirklichkeit niemals.«

Seufzend überfliegt Schliemann die nächsten Zeilen, um abzuschätzen, inwieweit sich das Zetern fortsetzt. Mittlerweile kann er mit Schröders heftigen Reaktionen gut umgehen. Er liest die Seiten einmal durch, wertet sie nach relevanten Aussagen aus und lässt die unnötigen Kritikpunkte – diesmal wieder in der Mehrheit – auf sich beruhen, ohne noch einmal daran zu denken. Eine zeitsparende Methode, die er sich beim Lesen der ausländischen Zeitungen in Amsterdam angeeignet hatte.

Einige Tage später fasst er seine eigenen Überlegungen zu der missglückten Geschäftsverbindung in einem Brief an seinen Vater zusammen: »Obgleich ich in meinen Plänen mit Wladimir Alexejeff … Schiffbruch erlitt, so glaube ich wird die Verbindung mit diesem Freunde über kurz oder lang wieder zu Stande kommen … Wenn mir das Glück auf diese Weise wohl will, so werde ich als wahrer Diplomat die Bühne besteigen. … Jetzt heißt es ›eile mit Weile‹; aber daran bin ich nicht gewöhnt und kann kaum meinen brennenden Ehrgeiz in Zaum halten.« Zum Schluss ergänzt er den Brief noch um folgenden Satz: »Deine lieben Briefe an mich bitte wie folgt zu adressiren: Henry Schliemann St. Petersburg, einer weiteren Adresse bedarf es dazu nicht, da ich hier etablirt und genügsam bekannt bin.«