Buch lesen: «Herzenssache»
Originalausgabe: Leonardo Boff, Direitos do coração.
O resgate da inteligência cordial, Petrópolis 2015, © Leonardo Boff
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Das Gesamtprogramm
von Butzon & Bercker
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ISBN 978-3-7666-2239-6
E-Book (Mobi-Pocket): ISBN 978-3-7666-4297-4
E-Book (E-Pub): ISBN 3-978-3-7666-4296-7
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Umschlaggestaltung: Christoph M. Kemkes, Geldern
Satz: SATZstudio Josef Pieper, Bedburg-Hau
Herstellung: Friedrich Pustet, Regensburg
Printed in Germany
Inhalt
Zur Einführung: Wie das Herz wieder zu seinem Recht kommt
I. Grundlegendes
Sensibel werden für Mensch und Natur
Der Mensch – ein Knotenpunkt von Beziehungen
Was uns zu Menschen macht: Das Brot miteinander teilen
Unser Durst nach Unendlichkeit
„Konvivialität“ und die Zukunft der Menschheit
Akzeptanz und Loslassen-Können: Je mehr wir verlieren, umso mehr gewinnen wir
Das unaufhörliche Streben nach Selbstverwirklichung
Die längste Reise ist die zum eigenen Herzen
Der Archetyp des Weges und die Selbstverwirklichung
Auch in der Wüste gibt es Leben und Blumen
Alles, was lebt, verdient Respekt
Achtsamkeit und Nachhaltigkeit: Die Fundamente einer neuen Welt
Das Heilige ist unverzichtbar
II. Im Rhythmus des Herzschlags
Die Liebe bewegt den Himmel, die Sterne und unser Herz
Wenn du die Liebe willst, dann kultiviere die Zärtlichkeit!
Liebkosung
Herzlichkeit – die Fähigkeit, den Herzschlag des anderen zu vernehmen
Achtsamkeit – Grundnahrungsmittel für die Liebe und die Freundschaft
Liebenswürdigkeit bringt Liebenswürdigkeit hervor
Mitleid – die menschlichste aller Tugenden
Feiern – Das Leben hat Geschmack und Sinn
Rituale und Spiel – sehr ernsthafte Angelegenheiten
Humor – Barometer für die psychische und spirituelle Gesundheit
III. Zum Schluss
„Die Schönheit wird die Welt retten“ oder was wir von Dostojewski lernen können
Das Herz hat recht
Literatur
Zur Einführung: Wie das Herz wieder zu seinem Recht kommt
Natürlich sind wir angesichts der weltweiten ökologischen Krise auf technische Lösungen angewiesen, denn nur mit ihrer Hilfe können wir verhindern, dass die globale Erwärmung 2 Grad Celsius übersteigt – was für die gesamte Biosphäre eine Katastrophe wäre. Wenn sich der Mensch völlig unverantwortlich verhielte, nichts unternähme und die durchschnittliche Temperatur auf 4, 5 oder gar 6 Grad Celsius anstiege, dann wären die bekannten Lebensformen einschließlich des Menschen stark bedroht. Doch die Technik ist nicht alles und keineswegs die Hauptsache. Frei nach Galileo Gallei können wir sagen: „Die Wissenschaft belehrt uns über Aufbau und Funktionsweise des Himmels, aber nicht darüber, wie man in den Himmel kommt.“
Die Wissenschaft erläutert uns, wie die Dinge funktionieren, aber sie ist nicht in der Lage, uns darüber zu belehren, ob sie für das System Leben und das System Erde insgesamt gut oder schlecht sind. Hierfür müssen wir auf ethische Kriterien zurückgreifen, denen die Praxis der Wissenschaft selbst unterworfen ist.
Bis zu welchem Punkt ist es möglich, Gaia, die lebendige Erde, allein mittels technischer Möglichkeiten so im Gleichgewicht zu halten, dass sie uns weiter auf ihr erträgt und dazu noch das Lebensnotwendige für die anderen Lebewesen bereithält? Wird sie die Tausende von synthetischen chemischen Substanzen, die gentechnisch veränderten Lebewesen usw., für die ihr Magen im Laufe der Jahrtausende der Evolution nicht vorbereitet wurde, aufnehmen oder abstoßen? Die Wissenschaft selbst kann uns darauf keine eindeutige Antwort geben. Deshalb müssen wir unser Handeln an den Prinzipien der Vorbeugung, der Vorsorge und der Achtsamkeit orientieren, damit unsere Gesundheit nicht beeinträchtigt werde.
Technisches Eingreifen ist notwendig, um die Bedürfnisse des Menschen zu erfüllen. Doch dieses technische Eingreifen muss einem neuen, weniger aggressiven Paradigma der Produktion, einer gleichmäßigeren Verteilung, einer Art des Konsumierens, das von solidarischer Genügsamkeit geprägt ist, und einem Umgang mit Abfällen entsprechen, der den Ökosystemen nicht schadet.
Die Erdcharta, ein von der UNESCO verabschiedetes Dokument, das aus einem Konsultationsprozess im Lauf von acht Jahren (1992–2000) hervorging, an dem praktisch alle Völker beteiligt waren, vereinigt in sich Werte und Prinzipien, die uns zu einer neuen Art und Weise ermutigen, unseren Planeten zu bewohnen. In diesem Dokument stehen die von tiefer Weisheit geprägten Sätze:
Wie nie zuvor in der Geschichte der Menschheit fordert uns unser gemeinsames Schicksal dazu auf, einen neuen Anfang zu wagen. […] Das erfordert einen Wandel in unserem Bewusstsein und in unseren Herzen. Es geht darum, weltweite gegenseitige Abhängigkeit und universale Verantwortung neu zu begreifen. Wir müssen die Vision eines nachhaltigen Lebensstils mit viel Fantasie entwickeln und anwenden, und zwar auf lokaler, nationaler, regionaler und globaler Ebene. (Erdcharta, 16)
Hier wird gesagt, dass wir eine neue Lesart der gesamten Wirklichkeit (Bewusstsein) und eine neue Empfindsamkeit (Herz) gleichermaßen entwickeln müssen, einen Sinn dafür, dass alle Lebewesen zueinander gehören, und einen Sinn für die umfassende Verantwortung für das gemeinsame Schicksal von Erde und Menschheit.
Das Bewusstsein, das heißt die derzeitige Sichtweise des Universums, der Geschichte der Erde, des Lebens und der Menschheit, hat sich zu einem großen Teil im Lauf eines langen Zeitraums ausgeprägt. Was dringend nottut, ist es, das Herz wachzurütteln, damit es mit der Erde, ihren Ökosystemen und allen Lebewesen, das heißt unseren Gefährten in diesem irdischen Dasein, fühlt, mit ihnen Mitleid empfindet, sich mit ihnen solidarisiert und sie liebt. Das Bewusstsein allein verfügt nicht über alle Hilfsmittel, um die aktuelle Krise zu bewältigen. Es braucht die Unterstützung des Herzens. Das Herz ist es nämlich, das uns zum Handeln motiviert und die besten Wege zu unserer Rettung ausfindig macht. Deshalb sprechen wir davon, dass das Herz ins Recht gesetzt werden muss, dass diese Rechte des Herzens öffentlich proklamiert und mit Leben erfüllt werden müssen, und zwar um unseres eigenen Überlebens willen.
Die Dimension des Herzens wurde im Lauf der Moderne vernachlässigt. Die analytische und instrumentelle Vernunft sowie die an der Technik orientierten Wissenschaft strebten methodisch nach der strengstmöglichen Trennung von Emotion und Vernunft, von denkendem Subjekt und dem Gegenstand des Denkens.
Alles, was dem Bereich der Emotionen, der Affekte, des Empfindens, mit einem Wort: des Pathos, entstammt, so meinte man, würde den analytischen, „objektiven“ Blick auf das Objekt trüben. Diese Dimensionen mussten unter Verdacht geraten, sie mussten unter Kontrolle gehalten, ja sogar zurückgedrängt werden.
Nun aber hat die Wissenschaft selbst diese reduktionistische, verkürzende Sichtweise überwunden: etwa durch die Quantenmechanik, wie sie Nils Bohr und Werner Heisenberg interpretierten, oder durch die Biologie im Denken von Maturana und Varela und schließlich durch die psychoanalytische Tradition, die von der Existenzphilosophie (Heidegger, Sartre, u. a.) noch verstärkt wird. Diese Denkströmungen machten deutlich, dass die gegenseitige Verschränktheit von Subjekt und Objekt unvermeidlich ist. Vollkommene Objektivität ist eine Illusion. Am Erkenntnisprozess selbst sind stets Interessen des Subjektes beteiligt, es sind Emotionen und Affekte mit im Spiel, wie sie dem Menschen und seinem In-der-Welt-Sein mit anderen eigen sind. Mehr noch: Diese Wissenschaftler haben uns davon überzeugt, dass die Grundstruktur des Menschen nicht die Vernunft ist, sondern dass diese Basis von Gefühl und Empfinden gebildet wird.
Daniel Goleman hat mit seinem Buch EQ – Emotionale Intelligenz (Goleman, 2011) den empirischen Beweis dafür geliefert. Darin stellt er die These auf, dass die Emotion der Vernunft vorausliegt. Die erste Reaktion angesichts jedweder Art von Realität entspringt der Emotion, und erst einige Sekunden danach wird die Vernunft wachgerufen. Michel Maffesoli singt das „Lob der empfindsamen Vernunft“ (Maffesoli 1996), Patrick Viveret hält ein Plädoyer für eine „glückliche Genügsamkeit“, deren Grundlage die Übereinstimmung zwischen der Vernunft und der Intellligenz des Herzens ist, Adele Cortina schrieb über die „Vernunft des Herzens“, und ebenso Muniz Sodré in mehreren Werken.
Dies wird noch verständlicher, wenn wir bedenken, dass wir Menschen nicht einfach rationale, vernunftbegabte Lebewesen, sondern vernunftbegabte Säugetiere sind. Vor mehr als 200 Millionen Jahren traten die Säugetiere auf den Plan, und es brach innerhalb des evolutiven Prozesses das limbische System des Gehirns hervor. Dieses ist verantwortlich für das Gefühl, die Fürsorge, die liebevolle Zuwendung. Die Mutter empfängt das Junge und trägt es aus, und nach der Geburt umgibt es dieses Junge mit Fürsorge und Zärtlichkeit. Erst in den letzten fünf oder sechs Millionen Jahren entstand die Großhirnrinde, und seit 200.000 Jahren gibt es das Gehirn in der heutigen Form, das zu abstraktem Denken, Begriffsbildung und vernünftigem Sprachgebrauch befähigt.
Heute besteht die zentrale Herausforderung darin, das wieder in den Mittelpunkt zu rücken, was am ältesten an uns ist: das Gefühl und das Empfinden, das am besten mit dem Ausdruck „Herz“ beschrieben wird. Es kommt entschieden darauf an, das Herz wieder in sein Recht zu setzen und zu betonen, dass es genauso wie Vernunft, Wille, Verstand und Libido seinen unersetzbaren Platz hat.
Im Herzen ist unsere Mitte, unsere Fähigkeit, tief zu empfinden; hier ist der Sitz der Liebe, und hier haben die Werte ihren Wurzelgrund.
Wir sind weit davon entfernt, die Vernunft herunterzuspielen. Wir brauchen sie, denn sie ist unverzichtbar, wenn es darum geht, die Gefühle kritisch zu beurteilen und sie in eine vernünftige Rangordnung zu bringen, ohne sie jedoch ersetzen zu wollen. Wenn wir es heute nicht lernen, die Erde als Gaia, als lebendiges Wesen, zu empfinden, sie so zu lieben, wie wir unsere Mutter lieben, und uns nicht so um sie zu kümmern, wie wir uns um unsere Kinder kümmern, dann wird es schwer werden, sie zu retten.
Ohne das Empfinden ist das Werk von Technik und Wissenschaft unzureichend. Doch eine von Gewissen und ethischem Empfinden durchdrungene Wissenschaft kann befreiende Auswege aus unseren Krisen finden. Deshalb kommt es darauf an, den ganzen Menschen, der Kopf und Herz, Gefühl und Vernunft, Musik und Arbeit, Poesie und Technik in sich vereint, neu zu erfinden.
Ziel unseres kleinen Buches ist es, die Menschen einzuladen, empfinden zu lernen, die für gewöhnlich kalte und berechnende Vernunft mit dem warmen und Wärme ausstrahlenden Gefühl zu verbinden. Aus dieser Mischung wird gleichsam wie von selbst unser Wille hervorgehen, uns um alles Lebendige, Schwache und für das Leben des Menschen und das Leben auf dem Planeten insgesamt Wichtige zu kümmern.
Das Herz hat sein eigenes Recht und folgt seiner eigentümlichen Logik. Es sieht nicht so klar wie die Vernunft, aber es sieht in einer tieferen Weise und mit Gewissheit. Wir erkennen besser, wenn wir lieben. Und wir lieben intensiver, wenn unser Erkennen klarer und vorurteilsfreier ist.
I. Grundlegendes
Sensibel werden für Mensch und Natur
Die psychoanalytische Tradition hat mehr als alle anderen Wissenschaften den zentralen Stellenwert von Emotion, Affektivität und Gefühlen wieder zur Geltung gebracht. Ohne Zweifel kommt hier Carl Gustav Jung und seinem gesamten Werk eine besondere Bedeutung zu.
Für ihn kennt die Psychologie keine Grenzen – weder zwischen Kosmos und Leben noch zwischen Biologie und Geist, zwischen Leib und Bewusstsein, zwischen Gefühl und Vernunft, zwischen dem Bewussten und dem Unbewussten, zwischen dem Individuellen und dem Kollektiven. Für ihn hat es die Psychologie mit dem Leben in seiner umfassenden Ganzheit, in seiner rationalen und irrationalen, symbolischen und virtuellen, individuellen und kollektiven, irdischen und kosmischen Dimension mit all seinen dunklen und hellen Seiten zu tun. Deshalb erweckte alles sein Interesse: außergewöhnliche Phänomene, die Alchimie, die Parapsychologie, der Spiritismus, die „fliegenden Untertassen“, die Philosophie, die Theologie, die abendländische und östliche Mystik, die indigenen Völker und die fortschrittlichsten wissenschaftlichen Theorien.
Er verstand es, diese Wissensgebiete miteinander zu verknüpfen, indem er verborgene Verbindungen zwischen ihnen aufspürte, welche überraschende Dimensionen der Wirklichkeit offenbaren. Aus allem verstand er es, seine Lehren zu ziehen, Hypothesen aufzustellen und mögliche neue Ausblicke auf die Wirklichkeit zu erkennen. Aus diesem Grund ließ er sich nicht auf eine einzige wissenschaftliche Disziplin beschränken, und das ist der Grund dafür, dass ihn viele verspotteten. So wurde C.G. Jung zu einem Lehrmeister, der uns anregende und gangbare Wege aufzeigt, die uns auf der Suche nach Lösungen angesichts der aktuellen ökologischen Krise inspirieren können.
Diese ganzheitliche und systemische Sichtweise müssen wir heute zum bestimmenden Ausgangspunkt für unsere Deutung der Wirklichkeit wählen. Andernfalls bleiben wir die Geiseln von bruchstückhaften Ansichten, die den weiten Horizont des Ganzen aus dem Blick verlieren. In diesem Bemühen ist Jung ein besonders wichtiger Gesprächspartner, insbesondere wenn es darum geht, die Vernunft des Herzens und die emotionale Intelligenz wieder zum Zug kommen zu lassen.
Ihm kommt das Verdienst zu, die verborgene Botschaft der Mythen gewürdigt und entschlüsselt zu haben. Sie bilden die Sprache des kollektiven Unbewussten. Dieses besitzt eine relative Eigenständigkeit. Wir haben dieses kollektive Unbewusste nicht so sehr, sondern eher umgekehrt: Es verfügt über uns. Jeder von uns wird mehr gedacht, als er selbst denkt. Das Organ, das die Bedeutung der Mythen, der Symbole und der großen Träume erfasst, ist die empfindsame Vernunft oder die Vernunft des Herzens. Sie geriet im Lauf der Moderne unter Verdacht, denn sie könnte ja die Objektivität des Denkens trüben. Jung hat einen übertriebenen Gebrauch der instrumentellen, analytischen Vernunft stets kritisiert, denn diese verschließe viele Fenster der Seele.
Berühmt wurde das Gespräch, das Jung in den Jahren 1924/25 mit einem Eingeborenen des Stammes Pueblo in Neumexiko führte.
„Sieh“, sagte Ochiwiä Biano, „wie grausam die Weißen aussehen. Ihre Lippen sind dünn, ihre Nase ist spitz, ihre Gesichter sind von Falten gefurcht und verzerrt, ihre Augen haben einen starren Blick, und sie suchen immer etwas. Was suchen sie? Die Weißen wollen immer etwas, sie sind immer unruhig und rastlos. Wir wissen nicht, was sie wollen. Wir verstehen sie nicht. Wir glauben, dass sie verrückt sind.“ Ich fragte ihn, warum er denn meine, die Weißen seien alle verrückt. Er entgegnete: „Sie sagen, dass sie mit dem Kopf denken.“ „Aber natürlich. Wo denkst du denn?“ fragte ich erstaunt. „Wir denken hier“, sagte er und deutete auf sein Herz. (Jung 1962, 251)
Dies veränderte das Denken Jungs. Er begriff, dass die Europäer die Welt mit dem Kopf erobert hatten, dass sie jedoch die Fähigkeit verloren hatten, mit dem Herzen zu denken und zu empfinden und durch die Seele hindurch zu leben.
Selbstverständlich geht es nicht darum, der Vernunft abzuschwören – dies wäre für alle ein Verlust –, sondern darum, die Beschränktheit ihrer Auffassungsgabe zurückzuweisen. Wir müssen das Empfinden und das Herz als zentrale Elemente des Erkenntnisaktes selbst begreifen. Sie ermöglichen es uns, Werte und Sinngehalte zu erfassen, die tief im Gemeinsinn verwurzelt sind. Der Verstand ist stets verleiblichter Verstand, nicht nur im Gehirn verankert, also stets von Empfindsamkeit durchdrungen. Jung sagt:
Und doch gibt es so viel, was mich erfüllt: die Pflanzen, die Tiere, die Wolken, Tag und Nacht und das Ewige in den Menschen: Je unsicherer ich über mich selbst wurde, desto mehr wuchs ein Gefühl der Verwandtschaft mit allen Dingen. (Jung 1962, 361)
Das Drama des Menschen heute besteht darin, dass ihm die Fähigkeit abhanden gekommen ist, ein Gefühl der Zugehörigkeit – etwas, das die Religionen stets gewähren – lebendig zu empfinden. Der Widerpart zur Religion ist nicht der Atheismus oder die Negation des Göttlichen. Was zur Religion im Gegensatz steht, ist vielmehr die Unfähigkeit der Bindung und Rückbindung an alle Dinge. Heute sind die Menschen entwurzelt, sie haben die Verbindung mit der Erde und mit der anima – dem Inbegriff von Empfindsamkeit und Spiritualität – verloren.
Für Jung ist das große Problem heute psychologischer Natur. Dabei geht es nicht um Psychologie im Sinne der wissenschaftlichen Disziplin oder um das Psychische als einer Dimension der Seele, vielmehr geht es um Psychologie im umfassenden Sinne als die umgreifende Ganzheit von Leben und Universum, sofern sie vom Menschen wahrgenommen und zum Ausdruck gebracht wird. In diesem Sinne schreibt Jung:
Es ist meine feste Überzeugung, dass von jetzt an bis in unbestimmte Zukunft das wahre Problem ein psychologisches sein wird. Die Seele ist Vater und Mutter all der anscheinend unlösbaren Schwierigkeiten, die sich vor unseren Augen zum Himmel türmen. (Jung 1973, 1959)
Wenn wir heute die empfindsame Vernunft, eine wesenhafte Dimension der Seele, nicht wiedergewinnen, dann werden wir uns kaum dazu motivieren können, die Andersheit der anderen Seinsformen zu respektieren, die Mutter Erde mitsamt all ihren Ökosystemen zu lieben und das Mitleid mit allen Leidenden in Natur und Menschheit zu leben.
Die bloß analytisch-instrumentelle Vernunft kann, wenn sie nicht mit der emotionalen, empfindsamen Intelligenz des Herzens einhergeht, zum Wahn der Vernunft werden, wie es in der Schoah auf erschreckende Weise deutlich wurde. Der Wahn der Vernunft gebar die vom Nazi-Staat geplante Endlösung, er gebar die verbrecherischen Enthauptungen, die der islamische Staat an all denen verübte, die sich nicht von seiner Interpretation des Koran überzeugen ließen.
Die Wiedergewinnung der Vernunft des Herzens ist nicht bloß eine Aufgabe des Einzelnen, sondern eine kollektive Herausforderung. Es geht um ein neues Paradigma der Zivilisation, das mit der positiven Seite der Rationalität eine Verbindung eingehen muss, ohne die wir keine Ordnung in die Komplexität der Welt bringen könnten.
Eine vom Gewissen durchdrungene, achtsame und allem, was existiert und lebt, gegenüber empfindsame Wissenschaft ist die Voraussetzung für die Erhaltung der Lebenskraft des Planeten Erde. Andernfalls könnte er ohne uns fortbestehen.
Der Mensch – ein Knotenpunkt von Beziehungen
Im Jahr 1945 schrieb Karl Marx seine berühmten Thesen über Feuerbach, die allerdings erst im Jahr 1888 von Friedrich Engels veröffentlicht wurden. Die sechste von insgesamt elf Thesen enthält eine wahre Aussage, wenn auch in verkürzter Weise: „Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.“ (Marx 2015, 133) Tatsächlich kann man das Wesen des Menschen nicht ohne seine gesellschaftlichen Beziehungen adäquat denken. Doch es ist viel mehr als dies, denn es geht aus der Gesamtheit seiner umfassenden Bezüge hervor.
Auf der rein beschreibenden Ebene können wir, ohne eine Definition des Wesens des Menschen zu versuchen, feststellen: Es tritt als ein Knoten von Beziehungen in Erscheinung, die in alle Richtungen weisen: nach unten, nach oben, nach innen und nach außen. Es ist wie ein Wurzelstock, dessen einzelne Wurzeln sich nach allen Richtungen hin ausbreiten. Der Mensch bildet sich selbst in dem Maße heraus, in dem er diesen Komplex von Beziehungen, und nicht allein die gesellschaftlichen, aktiviert.
Mit anderen Worten: Der Mensch zeichnet sich dadurch aus, dass er als grenzenlose Offenheit in Erscheinung tritt. Offenheit für sich selbst, für die Welt, für den anderen und für die Gesamtheit der Wirklichkeit. Er spürt in sich einen unendlichen Herzschlag, auch wenn er nur Begrenztes vorfindet. Daher rührt seine stete Unerfülltheit und Unzufriedenheit.
Es geht hierbei nicht um ein psychologisches Problem, das ein Psychoanalytiker oder ein Psychiater heilen könnte. Es ist kein Defekt, sondern das ontologische Unterscheidungsmerkmal des Menschen.
Doch ausgehend von Marxens These können wir sagen, dass ein guter Teil der Herausbildung des Menschlichen tatsächlich innerhalb der Gesellschaft stattfindet. Deshalb ist es so wichtig, dass wir darüber nachdenken, welche Gesellschaftsform am ehesten die Bedingungen herstellt, dass sich der Mensch noch vollkommener in die unterschiedlichsten Bezüge hinein entfaltet.
Ohne jetzt die nötigen Vermittlungsschritte anzuführen, möchte ich direkt auf den Punkt kommen und behaupten, dass die beste Gesellschaftsform die Demokratie ist – eine gemeinschaftliche, soziale, repräsentative, partizipative Demokratie, die sich von unten nach oben aufbaut und alle ohne Ausnahme in sich integriert. Um mit dem berühmten portugiesischen Soziologen Boaventura de Souza Santos zu sprechen: Die Demokratie muss grenzenlos sein.
Wir haben es bei der Demokratie mit einem offenen, sich stets im Aufbau befindlichen Entwurf zu tun, der innerhalb der familiären Beziehungen, der Beziehungen in der Schule, in der Gemeinde, in den Vereinen, in den sozialen Bewegungen, in den Kirchengemeinden seinen Ausgang nimmt und schließlich in die Organisation des Staatswesens mündet.
Für mich sind es gleichsam vier „Tischbeine“, die eine echte Demokratie in ihren Mindestanforderungen tragen, wie es Herbert de Souza (Betinho)1 sein Leben lang betont hat und wie ich selbst es zusammen mit ihm anlässlich von Konferenzen und Diskussionsveranstaltungen unter den politisch Verantwortlichen und Vertretern von Volksbewegungen zu verbreiten versucht habe.
Das erste „Tischbein“ oder die erste tragende Säule ist die Partizipation (Teilhabe). Der mit Verstand begabte und freie Mensch möchte nicht einfach Nutznießer eines Prozesses sein, sondern Akteur und Teilnehmender. Er möchte das Brot nicht nur in Empfang nehmen. Er möchte dazu beitragen, dass es gebacken wird. Nur so wird er zum Subjekt und zum Bürger. Diese Teilhabe muss von unten ihren Ausgang nehmen, um niemanden auszuschließen.
Die zweite tragende Säule ist die Gleichheit. Wir leben in einer Welt der Ungleichheit in jeglicher Hinsicht. Ein jeder von uns ist einzigartig und anders. Doch die wachsende Teilhabe an allem verhindert, dass aus Unterschied Ungleichheit wird, und macht eine zunehmende Gleichheit möglich. Es geht um die Gleichheit aller vor dem Gesetz, um die Anerkennung der Würde einer jeden Person und um die Achtung ihrer Rechte. Diese grundlegende Gleichheit ist das tragende Fundament der sozialen Gerechtigkeit. Mit der Gleichheit geht das einher, was einem jeden angemessen ist und zukommt: der adäquate Anteil, den einer für seine Teilhabe am Aufbau des gesellschaftlichen Ganzen erhält.
Die dritte tragende Säule ist die Andersheit. Sie ist von Natur aus gegeben. Jedes Lebewesen, jede Seinsform und insbesondere der Mensch (Mann und Frau) sind unterschiedlich. Dies muss als die äußere Erscheinung der je eigenen Möglichkeiten von Einzelnen, Gruppen und Kulturen akzeptiert und respektiert werden. Die Unterschiede sind es, die uns offenbar machen, dass wir in vielfacher Weise Mensch sein können und dass eine jede dieser Formen eben menschlich ist und deshalb Respekt und Akzeptanz verdient. Wir können Mensch sein auf afrikanische Art, auf japanische, chinesische Art, auf die Art der Yanomami-Indianer und auf Brasilianisch: ganz unterschiedlich, aber in gleicher Würde.
Die vierte Säule ist die Gemeinschaft: Der Mensch verfügt über Subjektivität, über die Fähigkeit zur Kommunikation mit seinem inneren Selbst und der Subjektivität der anderen. Er ist das Subjekt von Werten wie Solidarität, Mitleid, Verteidigung der Wehrlosesten und Dialog mit der Natur sowie mit dem Göttlichen. Hier scheint die Spiritualität als jene Dimension des Bewusstseins auf, die bewirkt, dass wir uns selbst als Teil eines Ganzen und als jene Gesamtheit unveräußerlicher Werte empfinden, die unserem persönlichen und gesellschaftlichen Leben sowie dem Universum insgesamt Sinn verleihen.
Diese vier „Tischbeine“ gehören stets zusammen und halten so den Tisch im Gleichgewicht, das heißt, sie bilden die tragende Grundlage einer echten Demokratie. Sie erzieht uns dazu, Mitgestalter am Aufbau des Gemeinwohls zu sein; in ihrem Namen lernen wir, unsere individuellen Wünsche hintanzustellen zugunsten der Befriedigung der kollektiven Bedürfnisse.
Diesen Tisch mit vier Beinen gäbe es nicht, wenn er nicht fest auf dem Erdboden stünde. Deshalb wäre auch die Demokratie nicht vollständig, wenn sie nicht die Natur mit einschließt, die alles erst möglich macht. Sie liefert die physikalische, chemische und ökologische Grundlage, die das Leben und jeden Einzelnen von uns trägt.
Alle Seinsformen sind aufgrund der Tatsache, dass sie einen Wert in sich, unabhängig von ihrem Nutzen für uns, besitzen, Träger von Rechten. Sie verdienen es, weiter zu existieren, und an uns ist es, sie zu respektieren und als unsere Mitbewohner zu begreifen. Sie werden in eine gesellschaftlich-kosmische Demokratie ohne Grenzen mit integriert sein.
Der Mensch streckt sich in all diese Richtungen aus und verwirklicht sich so innerhalb der Geschichte und in seinem konkreten Leben im Lauf eines Prozesses, der keine Grenzen kennt.
1 Herbert José de Souza (1935–1997), liebevoll „Betinho“ genannt, war ein führender brasilianischer Soziologe, der sich an der Seite der Volksbewegungen engagierte und neben seiner theoretischen Arbeit Initiativen und Kampagnen zur Überwindung von Armut und Elend ins Leben rief. Betinho litt an der Bluterkrankheit (Hämophilie) und musste deshalb regelmäßig Bluttransfusionen erhalten. Durch eine verseuchte Blutkonserve infizierte er sich mit dem HIV-Virus. Bekannt wurde Betinho vor allem durch seine „Aktion der Bürger und Bürgerinnen gegen Hunger, Elend und für das Leben“. Ihr Zeichen war eine grüne Armbinde. Wer sich noch an die Fußballweltmeisterschaft im Jahr 2002 erinnert (Brasilien besiegte Deutschland damals im Finale mit 2 : 0 Toren), der hat vielleicht auch noch in Erinnerung, dass auch die brasilianische Mannschaft die grüne Armbinde als Zeichen der Unterstützung dieser Kampagne trug (d. Übers.).