Im Licht Kafarnaums

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Im Licht Kafarnaums
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Leo Gold

Im Licht Kafarnaums

Novelle

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Im Licht Kafarnaums

Auf dem Weg

Das Neue

Gemeinschaft

Einzug in die Heilige Stadt

Erkundung der Heiligen Stadt

Sabbat

Abreise

Impressum neobooks

Im Licht Kafarnaums

Abflug Frankfurt – Ankunft Tel Aviv – Hotel – Abendessen – Spaziergang – einbrechende Nacht

Viel war in den vergangenen zehn Jahren im Leben der Brüder Max und Stefan geschehen. Kein Jahrzehnt war aufschlussreicher verlaufen als das letzte. Max hatte in diesem Jahr 2018 seinen 43. und Stefan seinen 40. Geburtstag gefeiert. Beide hatten in dem versunkenen Jahrzehnt ihre Ehefrauen verloren. Stefan nach einer kurzen, kinderlosen Ehe, Max nach einer zehnjährigen Ehe, in der zwei Söhne geboren wurden. Nein, die Ehefrauen waren nicht gestorben. Oder irgendwie doch. Sie verblassten als Ehefrauen, bis die Scheidung ihren Familienstand als verheiratete Frauen gänzlich aufgehoben hatte. Es gab unterschiedliche Gründe, weshalb sich die beiden Paare trennten. Und es gab eine Gemeinsamkeit, warum Max und Stefan wieder Singles geworden waren.

In ihrer Ursprungsfamilie hat im Allgemeinen jeder intuitiv die Grenzen des anderen gespürt und diese nicht gefährdet. Vielmehr probierte man, dem anderen zu helfen, dass er wieder von seiner Grenze wegkommt und entspannt weiterleben kann. Und wenn aus Unbedachtheit doch eine Grenze bedroht oder überschritten wurde, reichte ein kurzes verbales Signal, damit der andere wusste, dass eine Grenze verletzt worden war. Und dann geschah das in Zukunft nicht mehr.

In diesem sich ausgleichenden familiären System kam keiner zu kurz und keiner zu lang. Solange die vier - Max, Stefan und ihre Eltern Dieter und Elli - zusammenlebten, funktionierte dieses System. Gab es draußen Streit, konnten sie sich im familiären Hafen sicher sein, konnten dort seelischen Proviant aufladen, ehe sie zurück aufs Meer fuhren.

Mit Beginn des Studiums und den ersten Beziehungen zeichneten sich für Max und Stefan zunächst Ahnungen ab, die sich in jeder neuen Beziehung zu Gewissheiten entpuppten. Ihre Erfahrungen im Umgang mit Grenzen und Schwächen in ihrer Ursprungsfamilie bildete die Ausnahme. Ihre Partnerinnen, ob hübsch, intellektuell, garstig, theatralisch, versonnen, leidenschaftlich, langweilig, wehmütig, optimistisch und so fort, hatten durch verschiedene Kindheitsbelastungen, Abwehr- und Durchsetzungskräfte entwickeln (müssen), damit sie nicht zu kurz kamen. Diese versetzten sie gegenüber Stefan und Max in eine stärkere Position, woraus auf Dauer ein Missverhältnis entstand, das Streit hervorrief, der durch die beiden Scheidungen beendet wurde.

Der Konflikt wurde beendet, weil sich die Partner trennten. Nur, dieser passive Akt half keinem weiter. Sich scheiden zu lassen, bedeutete, die Chance zu verpassen, sich weiterzuentwickeln, sich selbst und die Ehe zu festigen. Jede Anfechtung, sei es, dass dem Mann zunehmend auffällt, dass es auch andere schöne Frauen auf der Welt gibt, oder dass der Frau auffällt, dass es auch andere schöne Männer auf der Welt gibt, jede Begegnung mit einer seelischen Verletzung, sei sie uralt, alt oder noch frisch, sie machten darauf aufmerksam, dass die Persönlichkeit, die Ehe wachsen will. Die Scheidungen schnitten somit einen Wachstumsweg ab. Das war schade. Der hohe Grad an Empfindsamkeit, die intellektuelle Stärke sowie die moralisch-idealistischen Überzeugungen von Max und Stefan trugen dazu bei, dass ihnen ein Arrangement mit der Ehewirklichkeit noch nicht gelang.

Noch nicht gelang! Denn das Leben ließ sich nicht von ihnen trennen. Unaufhörlich bot es sich ihnen weiter an. Das bedeutete aber, Engstellen zu meistern. Um mehr Mensch zu werden, gab es für sie keinen Umweg um Martin Bubers schöne Entdeckung herum: „Der Mensch wird erst am Du zum Ich.“ Welche Beziehungsform dies annimmt, ist individuell. Im Verlauf ihrer bevorstehenden Rundreise durch Israel zeigte sich, wie bei Stefan die Sehnsucht nach einer Frau unaufhaltsam keimte.

Selbst die Scheidungen der beiden riefen neben Trauer, Angst und Wut neue Möglichkeiten hervor. So vertiefte sich das Verhältnis der beiden Brüder. Eine Folge ihres neuen Kontaktes war, dass sie zum ersten Mal als Erwachsene zu zweit eine Reise unternahmen. Sie wunderten sich, weshalb sie es bislang noch nicht geschafft hatten, Israel zu besuchen.

Ihr Vater Dieter war 1984 mit Freunden aus seiner Studentenzeit nach Israel geflogen. Wie damals üblich hatte er Dias der Reise im Fotogeschäft machen lassen. An einem Maiabend zeigte er sie Max, Stefan, ihrer Mutter Elli (die Kurzform von Eleonore) und den Nachbarn im Wohnzimmer. Dort diente eine Wand mit weißen Tapeten als Projektionsfläche. Begeisternd erzählte Dieter zu den Bildern die einzelnen Reiseerlebnisse und ergänzte sie mit Anekdoten.

Da es Dieter liebte einzukaufen, brachte er auch gern Reisesouvenirs mit. Max und Stefan bekamen Palästinensertücher, eines in schwarz-weiß, eines in rot-weiß mit einer schwarzen Kordel, so dass die beiden wie kleine Palästinenser aussahen. Was Stefan noch mehr freute als diese fremdländische Kopfbedeckung, war der Kelch aus Blech, dessen Außenseite christliche Muster zeigte. Max und Stefan spielten nämlich regelmäßig das Abendmahl, das sie sonntags im Gottesdienst mitfeierten, am Wohnzimmertisch nach. Mal war Max, mal Stefan der Pfarrer und der jeweils andere übernahm die Rolle des Messdieners. Am meisten freuten sie sich auf das Einschenken von Wasser und Traubensaft. Bis ihnen ihr Vater den Blechkelch aus Israel mitgebracht hatte, fungierte ein Weinglas als Kelch. Durch den Blechkelch fühlte sich ihre Zeremonie nun beinahe echt an. Ihrer Mutter Elli hatte Dieter außer einem Seidenschal vom Jerusalemer Markt und einem orientalisch duftenden Parfüm einen Bildband über Israel geschenkt. Dieser weckte auch bei Max Interesse. Die Wüstenlandschaften, Bilder der einheimischen Bevölkerungsgruppen, die Klagemauer, der See Genezareth, das Tote Meer und die vielen weiteren Motive fesselten ihn und beflügelten seine Fantasie, wie dieses wundersame Heilige Land, das sein Vater besucht hatte, wohl in Wirklichkeit aussehen, wie es riechen, wie das Essen dort schmecken würde. Die Begeisterung ihres Vaters hatte sich ins Langzeitgedächtnis von Max und Stefan übertragen.

Einige Wochen bevor sie zu ihrer Reise aufgebrochen waren, hatten sie im Keller ihres Elternhauses nach den Israeldias gesucht, die Dieter an jenem besagten Maiabend gezeigt hatte. Aber in welchem Eck sie auch schauten. Sie wurden nicht fündig. Auch Elli konnte ihnen nicht weiterhelfen. Sie sagte nur: „Vermutlich hat sie Dieter weggeworfen“. Etwa ein Jahr vor seinem Tod hatte er eine Ahnung, dass er nicht mehr lange leben würde. Und dieses Gefühl veranlasste ihn, viele Erinnerungsstücke wegzuwerfen, von denen er glaubte, keiner würde sich nach seinem Tod mehr dafür interessieren.

Der Initiator der Reise war Max. Stefan begleitete ihn gern, weil er schon öfters mit dem Gedanken gespielt hatte, nach Israel zu reisen, aber sich nicht traute, auf eigene Faust aufzubrechen. Zu wenig konnte er die Sicherheitslage einschätzen. Und da auch Max daran zweifelte, ob es sicher genug sei, sich ein Auto zu mieten und unabhängig das Land zu erkunden, verglichen sie Angebote von Reiseveranstaltern, die Gruppenreisen nach Israel anboten. Es wäre nahegelegen, dass sie sich einer religiösen Reisegruppe anschließen würden. Aber da sie katholische Theologen waren und lieber mit Touristen reisten, bei denen das Religiöse eine untergeordnete Rolle spielte, entschlossen sie sich für einen weltlichen Reiseveranstalter.

Ehe sie ihre Reise fest buchen konnten, musste Stefan noch seinen Vorgesetzten fragen, ob er die zweite Woche im Oktober Urlaub nehmen könne, so dass der Reise nichts mehr im Wege stand. Max hatte nur in dieser Oktoberwoche, der zweiten Herbstferienwoche frei, da seine Ex-Frau Marlene die Kinder in dieser Woche betreuen konnte. Stefans Vorgesetzter war einverstanden. So konnten sie die Reise im März 2018 buchen.

Die Erfahrung, sechs Monate im Voraus zu wissen, eine Reise zu unternehmen, war für Stefan eine Wiederentdeckung. Als Kind und Jugendlicher war es für ihn normal, viele Monate im Voraus zu wissen, wohin er in den Ferien verreiste. Seit seinem Studium entschied er sich aber meistens nur wenige Wochen oder gar nur Tage vor einer Reise, wohin es ging. Dieses lange Warten genoss Stefan. Während Max wegen seines aufreibenden Jobs als Personalleiter und der Sorge um seine zwei Söhne ausgelastet war und vor Reisebeginn nur den Dumont-Reiseführer durchgeblättert und teilweise gelesen hatte, konnte sich Stefan eingehender auf die Israelreise vorbereiten. Stefan arbeitete für eine Stiftung in einer schwäbischen Provinzstadt. Er hörte in seiner Freizeit im Auto Hörbücher der israelischen Autorin Zeruya Shalev, las das Buch „Allein unter Juden“ von Tuvia Tenenbom, den Roman „Eine Geschichte von Liebe und Finsternis“ von Amos Oz, schaute Dokumentationen über Israel und bekam dadurch einen Vorgeschmack, was ihn in Israel erwartete. Die Leidenschaft für das Heilige Land entstand in ihnen allersdings durch die schwärmerische Art ihres Vaters, von Israel zu erzählen. Da konnten Shalev, Tenenbom, Oz und die Redakteure der Fernsehdokumentationen noch so einfühlsam, lustig, weise und informativ Israel beschreiben und deuten. Gegenüber den Erzählungen von Dieter wirkten deren Schilderungen blass und körperlos.

 

Es war dunkel an diesem Sonntagmorgen im Oktober, als sie das Haus verließen, mit dem Taxi durch die Stadt zum Frankfurter Flughafen fuhren, hier angespannt den Sicherheitsüberprüfungen Folge leisteten, bis sie im Wartebereich mit Blick auf das Rollfeld Platz nahmen und im Verlauf des Morgengrauens die Nachrichten der Deutschen Welle auf den Monitoren, die unterhalb der Decke befestigt waren, aufmerksam verfolgten. Sie kreisten um die Ermordung des Journalisten Jamal Ahmad Khashoggi. Dieser hatte kritisch aus seinem US-amerikanischen Exil über die Machthaber seines Heimatlandes Saudi-Arabien berichtet und dadurch bei ihnen Furcht ausgelöst. Die Umstände seines Verschwindens und seiner Ermordung wurden verhüllt enthüllt.

Mit einem unguten Gefühl stiegen Stefan und Max ins Flugzeug, das unmerklich von der Startbahn abhob. Wenige Stunden später sahen sie von oben beim Sinkflug einen Teil der durch die Sonne glitzernden Oberfläche des Mittelmeers, der israelischen Küstenlinie und viele Dächer der Häuser von Tel Aviv.

Sie holten ihre Koffer vom Gepäckband und setzten sich nicht weit davon entfernt auf eine Sitzbank, der vereinbarte Treffpunkt, an dem sie von dem Busfahrer, der sie zum Hotel in der Innenstadt fahren würde, abgeholt werden sollten. Ihre Vermutung, dass sie nicht die einzigen der Reisegruppe waren, die mit dem Flugzeug aus Frankfurt ankamen, bewahrheitete sich schnell. Immer mehr Reisende, offensichtlich deutsche Touristen, platzierten und versammelten sich, als keine Sitzplätze mehr übrig waren, um die vier in einer Reihe an der Wand stehenden Sitzmöglichkeiten. Neugierig schauten sie beiläufig einander an und stellten sich die Frage, ob sie miteinander die kommenden sieben Tage gemeinsam durch das Heilige Land reisten.

Stefan fiel unter anderem auf, dass er und Max jünger waren als die anderen, die bereits das fünfte und sechste Lebensjahrzehnt erreicht zu haben schienen. Das erleichterte ihn. Seit seiner Scheidung mied er Frauen, mit denen eine Beziehung vom Alter und Aussehen denkbar gewesen wäre. Zu unangenehm war seine Ehe und eine sich wenige Jahre danach anschließende Beziehung verlaufen. Er hatte sich an das Leben ohne eine Partnerin gewöhnt. Leitend hierfür stand seine verschorfte Einsicht: Lieber arrangiere ich mich mit der Einsamkeit als mit einer Frau. Doch der Schorf wies erste Risse auf.

Es dauerte über eine Stunde, bis ihr Busfahrer mit einer Namensliste herbeigeeilt kam. Nachdem er sich versichert hatte, dass die Namen der deutschen Reisenden mit den Namen auf seiner Liste übereinstimmten, führte er sie durch das Flughafengebäude zum Ausgang, vor dem er seinen Bus geparkt hatte. Max und Stefan versuchten, es sich auf der hintersten Reihe neben einem Ehepaar gemütlich zu machen, was sich wegen der ungewöhnlich kleinen Sitzflächen als Schwierigkeit herausstellte.

Es war gegen 17:30 Uhr bereits so dunkel wie am Morgen bei der Fahrt zum Frankfurter Flughafen. Auf der Autobahn glitt der Bus so ruhig dahin, wie er es auf einer deutschen Autobahn getan hätte, vielleicht sogar noch erschütterungsloser. Auch die Häuser, aus deren Fenstern Licht schien oder die ganz im Dunkeln lagen, ähnelten Häusern in Europa. Der Eindruck, man befände sich in einem Land, von dessen gefährdeter Sicherheitslage und von dessen realer Gewalt regelmäßig mit Texten, Bildern und Filmaufnahmen weltweit berichtet wurde, stellte sich bei Stefan nicht ein. Vielmehr ahnte er in dieser Dunkelheit erste Fährten eines Lichts, das ihm vertraut vorkam.

Das Hotel, in dem sie die erste Nacht ihrer Reise verbrachten, lag im Zentrum von Tel Aviv, einige Straßenzüge vom Strand entfernt. Es glich von außen den es umgebenden Bürohochhäusern. Seine Zimmer waren einfach eingerichtet. Typischer 3-Sterne-Stil. Max und Stefan öffneten ihre Koffer und tauschten ihre langen gegen kurze Hosen ein. Statt ihrer Oberhemden zogen sie T-Shirts, statt der Turnschuhe Flip-Flops an. Anschließend suchten sie den Speisesaal im Erdgeschoss auf. Da sie wegen der verspäteten Abholung am Flughafen zu den letzten Hotelgästen gehörten, die zu Abend aßen, hatten sie viele freie Tische zur Auswahl. Es gab deutlich mehr runde Gruppentische als Zweiertische. Da sie noch nie mit einer Reisegruppe unterwegs gewesen waren und nicht wussten, ob es üblich war, nur lose miteinander zu reisen oder eher freundschaftlich, setzten sie sich erstmal an einen Zweiertisch. Allmählich füllte sich der Raum mit den anderen Reisenden, die sie bereits im Bus gesehen hatten. Auch andere, vereinzelte Touristen, die sie noch nicht kannten, aber die vielleicht mit einem späteren Flug Israel erreicht hatten und ebenfalls zur Reisegruppe gehörten, suchten am Buffet, was ihnen zum Abendessen schmecken könnte.

Mit einem vollen Bauch und einem zufriedenen Gefühl, die ersten Schritte im Heiligen Land ohne großes Stolpern gegangen zu sein, verließen die beiden das Hotel und spazierten an einer vielbefahrenen Straße in Richtung Strand entlang. Die Menschen, die ihnen begegneten, schienen ihren Gesichtern nach aus unterschiedlichen Teilen der Welt zu kommen, wenngleich sich ihr Kleidungsstil bis auf wenige Ausnahmen ähnelte. Das mediterrane Klima wie die friedliche Atmosphäre führten automatisch dazu, dass die meisten Personen leichte Stoffe mit hellen Farben trugen, die bequem geschnitten waren. Jetzt am Abend hatten manche ein Leinenjackett, einen dünnen Pullover oder die, die leicht froren, eine Fleecejacke und ein Halstuch oder Schal an. Viele der Ladenflächen der Geschäfte, an denen sie vorbei schlenderten, waren klein bemessen. Diese Enge forderte das Geschick der Kaufleute, den überschaubaren Raum bestmöglich auszunutzen. So erhoben sich die Regale bis unter die Decke. Leitern wurden als notwendige Hilfsmittel gebraucht, um die Produkte auf die oberen Regalbretter zu legen und wieder herab zu holen, wenn sie ein Kunde genauer betrachten und im glücklichen Fall auch kaufen wollte. Die Wege, die die Kunden im Laden gehen konnten, waren eng begrenzt, vielleicht fünfzig bis siebzig Zentimeter breit, und führten nicht selten in Sackgassen. Auf dem Rückweg musste man sich dann seitlich vorwärtsbewegen, wenn einem ein anderer Kunde begegnete. So kam man sich nahe, was bei gegenseitiger Sympathie angenehm, bei Antipathie ein konträres Empfinden auslöste, was aber nur kurz währte.

Hellsichtige Menschen konnten angeregt durch diese Erfahrung eine Entsprechung zwischen dem engen Raum in den Geschäften sowie der kleinen Fläche des Landes Israel erkennen. Je reduzierter eine Ressource, umso kostbarer ist sie und umso mehr wird die menschliche Erfindungskraft angespornt, sie so sorgsam wie möglich einzusetzen. Wie Max und Stefan schon am nächsten Tag von ihrem Reiseführer erfahren sollten, mangelte es Israel nicht nur an Land und Bodenschätzen, sondern es fehlte auch an einem anderen der fünf Elemente: Wasser.

Davon hatte Stefan in einer der Fernsehdokumentationen bereits erfahren. Mit einer ausgeklügelten Tröpfchenmethode gelang es erst Wissenschaftlern, dann den Bauern, trotz des Wassernotstands, Gemüse, Obst, Datteln, Blumen und viele andere Pflanzen wachsen zu lassen, so dass Überschüsse entstanden, die ins Ausland exportiert werden konnten. Ein Großteil des Trinkwassers für die Bevölkerung, die vielen Touristen und die Tiere wurde durch Meerwasserentsalzungsanlagen hergestellt. Inwieweit sich dieser künstliche Eingriff in die Natur langfristig auf die Gesundheit von Menschen und Tieren auswirkte, konnte noch nicht gesagt werden. Doch da es momentan keine Alternative gab, musste das Risiko, das Wasser aus den Entsalzungsanlagen zu nutzen und zu konsumieren, eingegangen werden, kaufte man nicht Trinkwasser aus dem Ausland in Lebensmittelläden.

Die Strandpromenade war ein Traum. Das Licht der Lampen reflektierte in dem anbrandenden Meer, Frauen joggten paarweise und leichtfüßig, in einer Strandbar schaute eine Gruppe Männer ein Fußballspiel und trank bunte Cocktails – Weite, Freiheit und Sorglosigkeit bestimmte die Szenerie. Stefan und Max unterhielten sich über das, was sie sahen, über ihre bisherigen Eindrücke und spekulierten darüber, wie ihre Reise im Weiteren verlaufen würde.

Auf dem Weg

Hotelfrühstück – Begrüßung durch den Reiseführer – Altstadtbesichtigung in Jaffa – Caesarea – Mittagessen in Akko – Abendstimmung in Haifa – Kibbuz am See Genezareth

Stefan und Max wachten so früh auf, dass sie vor Beginn des Frühstücks erneut zum Strand von Tel Aviv spazierten. Da sie die letzte Nacht ihrer Rundreise in Jerusalem verbringen und von dort direkt zum Flughafen gefahren werden würden, war es für sie die letzte Möglichkeit, unabhängig von der Reisegruppe in Tel Aviv unterwegs zu sein. Die ersten Sonnenstrahlen erhellten den Horizont.

Gegen 7 Uhr betraten die beiden den Speisesaal, in dem sich einige der bekannten Gesichter vom Vortag in einer Schlange vor dem Kaffeeautomaten drängten. Normalerweise standen zwei Kaffeeautomaten zur Verfügung. Da einer davon defekt war und der andere wegen Überlastung auch nur noch in verminderter Geschwindigkeit die vier verschiedenen Kaffeevariationen brühte, wurde die Reihe vor ihm länger und länger. Max und Stefan entschieden sich, sich antizyklisch zu verhalten. Sie gingen zu dem Tisch, auf dem unterschiedliche Müslisorten, Kuh-, Hafer- und Sojamilch, Joghurt, Kefir, getrocknete Früchte und Nüsse standen. Schnell noch einen Esslöffel genommen und beide näherten sich einem der runden Gruppentische, an dem ein Ehepaar Platz genommen hatte, das aus Münster stammte.

Andreas und Inge, wie sich die beiden mit Vornamen vorstellten, erzählten offen von sich und hielten auch nicht hinterm Berg damit, welche ersten gesundheitlichen Befindlichkeiten das ungewohnte Klima und Essen bei ihnen bewirkten. Stefan freute sich, dass Max zwischen ihm und Andreas saß. So brauchte er sich nicht aktiv am Gespräch zu beteiligen und konnte Personen beobachten, die er zunächst interessanter fand.

Stefan waren zwei Frauen aufgefallen. Vom Alter und Aussehen zu schließen, vermutete er, es seien Mutter und Tochter. Die Mutter, sie hieß Maria, hatte lockiges, kinnlanges Haar, dessen Pony durch einen schwarzen Haarreif im Haupthaar verschwand, und ein ebenmäßiges Gesicht. Die blonden Haare der Tochter – Mathilde – waren, wie es zu dieser Zeit Mode war, in einem Dutt, der direkt auf der Oberseite des Kopfes mit einem Haargummi befestigt war, zusammengebunden. Offen reichten sie ungefähr bis zur Mitte ihrer Wirbelsäule. Das ebenmäßige Gesicht hatte sie von ihrer Mutter geerbt. Aufgrund ihrer Jugend – Stefan glaubte, sie sei um die 30 Jahre alt – fielen noch mehr Blicke auf sie. Aus der Fülle an Reizen, die sich vervielfachte, als sich Mathilde und Stefan kurz in die Augen schauten, hob sich unter anderem die glatte und leicht gebräunte Haut Mathildes ab.

Stefan beobachtete, wie sich Mathilde ans Ende der Reihe vor dem Kaffeeautomaten anstellte. Eine der beiden Frauen, die kurz darauf hinter ihr warteten, verband die zwei losen Bänder in der Mitte des Schlitzes des Rückenteils von Mathildes ärmelloser, lindgrüner Bluse – der zuvor ungewollt eine große, freie, ovale Fläche ihres Rückens offengelegt hatte – wieder zu einer Schlaufe zusammen.

Mathilde drehte sich irritiert um, als sie bemerkte, dass jemand sich an den Bändern am Rückenteil ihrer Bluse zu schaffen machte. Sie blickte erleichtert, als sie sah, dass es eine Frau war, die sich darum sorgte, dass alles seine Ordnung hatte.

Maria, die ihren 57. Geburtstag in drei Monaten feiern sollte, leitete seit dem Ende ihres Musikstudiums die Musikschule einer Kleinstadt in der Nähe von Paderborn, beinahe 33 Jahre lang. Ihre Persönlichkeit passte zu diesem Posten. Sie war kämpferisch und konnte dadurch den Etat der Musikschule, der größtenteils von der Stadtverwaltung getragen wurde, schrittweise erhöhen. Und auch die Zahl der Musikschüler wuchs, bis auf eine kurze Phase ihrer Tätigkeit, kontinuierlich. Sie begann mit 300 Schülern, inzwischen waren es über 700 geworden. Die Kehrseite ihres extrovertierten Charakters, genauer, die Kehrseiten, bekam ihr Mann Richard zu spüren.

 

Es ist ja das Besondere, dass manche Frauen, die in allen anderen verwandtschaftlichen Bezügen, Freund- und Bekanntschaften, großherzig, verständnis- und liebevoll, nicht nachtragend und geduldig sein können, ihren Ehemann oder Partner auf Herz und Nieren prüfen und achtgeben, dass sie ihm nur dosiert Annehmlichkeiten schenken. Am Anfang prüfen sie ihn, weil sie wissen möchten, ob er stressresistent genug ist, um ein treuer Gefährte, ein guter Ernährer und Familienvater zu sein. In der Mitte der Ehe prüfen sie ihn, weil sie sich vergewissern möchten, ob er treu und loyal zu ihnen und ihren Kindern steht. Und am Ende der Ehe prüfen sie ihn, um zu erfahren, ob sie während der Ehe nicht doch etwas übersehen haben.

Richard, ebenfalls Pianist wie Maria, liebte sie seit dem Studium. Ihre Beziehung war von Höhen und Tälern bestimmt. In den Tälern dachte Maria zunehmend an Scheidung. Als sie eines morgens neben Richard aufwachte, ihn ansah, wollte sie sich scheiden lassen. Doch etwas hielt sie von diesem Schritt zurück. Stattdessen zog sie für einige Jahre in ein anderes Haus, ehe sie wieder zu Richard zurückkehrte.

Diese Trennungszeit belastete Mathilde. Sie ließ es sich nicht anmerken, überspielte es. Mathilde fühlte sich zu ihrem Vater hingezogener, obgleich sie die Zuverlässigkeit ihrer Mutter schätzte, was keine ausgesprochene Fähigkeit ihres Vaters war. Sie besuchte Richard zu allen sich ergebenden Gelegenheiten. Bei ihm zuhause stand ihre Harfe. So war es ein Einfaches, ihren Vater täglich zu besuchen. Sie musste ja Harfe üben. Beim Harfespielen vergaß sie ihre Traurigkeit, dass ihre Mutter und ihr Vater nicht mehr zusammenwohnten. Als das ältere Geschwister fühlte sie sich verpflichtet, alles dafür zu tun, dass Maria wieder zu Richard zog. Da es ihr vorerst nicht gelang, konzentrierte sie sich aufs Harfenspiel. Als Maria wieder zu Richard gezogen war, hörte Mathildes übermäßiger Einsatz für die Musik nicht auf. Denn ihre Sorge, die Eltern würden sich erneut trennen, wurde nicht still.

Nach ihrem Abitur erhielt Mathilde einen Studienplatz an der ‚Hochschule für Musik Hanns Eisler Berlin‘. Im Anschluss daran spielte sie in verschiedenen Orchestern als Honorarkraft, bis sie sich gegenüber 130 Mitbewerberinnen durchsetzte und Soloharfenistin der Berliner Philharmoniker wurde. Nach dem Probejahr, das vor zwei Monaten geendet hatte, erlitt sie einen Zusammenbruch. Die vielen Jahre der Anspannung, in denen ihr Körper durchgehalten hatte, ballten sich in einem gutartigen Tumor an der Niere. Er konnte komplett entfernt werden. Doch der Schreck saß tief, wenn auch nicht so tief wie die Sorge um eine mögliche, erneute Trennung, ja vielleicht sogar Scheidung ihrer Eltern. Diese Sorge war aktiv und beeinflusste Tag um Tag ihr Leben, ihre Entscheidungen, ihre Freuden und ihre Traurigkeiten. Diese seelische Geschwulst war bösartig, streute ihr Gift in sämtliche, gesunde Bereiche, sich immer weiter ausdehnend, so dass es immer schwieriger wurde, sich mit der Musik zu beruhigen.

Wie Stefan und Max waren Maria und Mathilde noch nie allein miteinander verreist. Da Maria die Gabe hatte, spontan zu sein, und das Gefühl und später den Gedanken nicht verlor, sie habe etwas mit Mathildes Zusammenbruch zu tun, lud sie Mathilde auf diese Israelreise ein. Mathilde wunderte sich, weshalb das Reiseziel ‚Israel‘ sein solle. Sie waren zwar beide katholisch getauft, ansonsten hatten sie mit der Kirche und dem Glauben nicht viel am Hut. Weshalb also ‚Israel‘? Auf Mathildes Frage, warum es ‚Israel‘ sein solle, Mallorca, Tunesien, Griechenland oder Italien seien doch auch schön und schneller zu erreichen, hob Maria die Schultern und sagte: „Keine Ahnung. Als ich vorgestern Morgen aufwachte und aus dem Fenster schaute, war mir klar, wir zwei müssen nach Israel reisen.“

Mathilde wusste nicht, wie ihr geschah. Aber sie war offen, nach ihrem Zusammenbruch noch offener, weil auch sie mutmaßte, dass sie nicht von ungefähr krank geworden war. Zudem war sie neugierig, wie es sein würde, allein mit ihrer Mutter zu verreisen.

Stefan blickte von Mathilde zu Max, der immer noch mit seinen Tischnachbarn Andreas und Inge sprach. Stefan hörte, wie Andreas zu Max sagte: „Wir müssen noch unsere Koffer packen. Aber wir sehen uns ja gleich wieder in der Lobby.“

Da die Schlange vor dem Kaffeeautomaten auf zwei Personen zusammengeschrumpft war, stellte sich nun Stefan an und holte für Max und sich zwei Café, die sie tranken, ehe sie ihre gepackten Koffer aus dem Hotelzimmer holten und mit dem Aufzug in die Hotellobby fuhren.

Dort hatte sich schon ein Pulk von etwa zwanzig Leuten um einen jungen Mann geschart, der sie, gemessen an der Gelöstheit und an dem Lachen, bestens unterhielt und der Reiseführer sein musste. Max und Stefan gesellten sich dazu und hörten, wie er gerade begann, die Vornamen auf seiner Liste laut vorzulesen. Kam eine Antwort, machte er einen Haken hinter dem Namen. Als er am Ende seiner Liste angelangt war, fehlten noch zwei Haken, damit die Gruppe komplett war. Noch einmal fragte er laut: „Maria und Mathilde?“ Keine Reaktion. Stefan schaute in die Gruppe und bedauerte, dass die beiden Frauen, die er zuvor im Speisesaal gesehen hatte, offensichtlich nicht zu ihrer Reisegruppe gehörten. Dass sie Maria und Mathilde hießen, schien ihm unwahrscheinlich. Eher hätte er gedacht, die Tochter würde z.B. Yvonne, Vanessa, Lena, Juliane oder Katharina heißen. Und bei der Mutter dachte er an Namen wie Renate, Gabriele, Sabine, Gisela oder Eva.

„Lasst uns auf die beiden noch einen Moment warten“, sagte Ben, der Reiseführer, der schon seit zehn Jahren Touristen das Heilige Land zeigte. „Für die, die es noch nicht gehört haben: Mein Name ist Ben Schneider. Ich bin für die nächste Woche ihr Reiseguide und freue mich auf die Tage mit ihnen. Wie sie in ihrem Programm lesen konnten, werden wir heute zunächst mit dem Bus – unser Busfahrer, das ist der Tobias – an den Strand von Tel Aviv fahren und von dort nach Jaffa laufen, wo wir uns die Altstadt anschauen. Anschließend holt uns Tobias ab und fährt uns durch Tel Aviv in Richtung Caesarea, eine der bedeutendsten antiken Städte in Palästina. Von dort geht es nach Akko, eine alte Hafenstadt, an der viele der Kreuzfahrer an Land gegangen sind. Hier können alle, die es wollen, mit mir in einem kleinen Restaurant zu Mittag essen. Am Nachmittag fahren wir nach Haifa weiter und werden von dort zum See Genezareth aufbrechen. An dessen Ufer liegt das Kibbuz, in dem wir die kommenden zwei Nächte übernachten. – Ah, die beiden Damen, die gerade aus dem Aufzug kommen, das könnten, wenn wir Glück haben, Maria und Mathilde sein.“

Stefan drehte sich um und lächelte.

„Entschuldigung, wir haben unsere Pässe nicht mehr gefunden. Jetzt sind sie aber wieder aufgetaucht. Alles im grünen Bereich“, sagte Maria, während Mathilde neben ihrer Mutter lief.

Wie bereits im Speisesaal ließen Stefan und Max den anderen den Vortritt und verließen als eine der letzten mit ihren Koffern die Lobby des Hotels. Ihr Busfahrer Tobias, untersetzt, wuscheliges graues Haar und auffällig dienstfertig, nahm ihnen die Koffer ab und verstaute sie. Als Max und Stefan als erste in den Bus einstiegen, hatten sie freie Platzwahl. Insgesamt waren sie nur 21 Personen, so dass der große Bus, der für über 50 Personen ausgerichtet war, viel Freiheit bot. Max wählte die zweite Sitzreihe auf der rechten Seite. Er setzte sich ans Fenster, Stefan neben ihn. Vor ihnen saß das Ehepaar, das gestern mit ihnen die Rückbank des kleinen Buses teilte, mit dem sie vom Flughafen abgeholt wurden. Neben ihnen machten es sich Andreas und Inge gemütlich und zwei Reihen hinter ihnen richteten sich Maria und Mathilde ein. Die Reihe direkt hinter ihnen blieb unbesetzt.

Ben trug weit geschnittene Jeans und ein kurzärmliges Hemd, das über die Hose hing. Er war braun gebrannt, hatte schwarzes kurzes Haar, das schon begonnen hatte, vom Scheitel bis ungefähr zur Mitte des Kopfes zurückzuweichen. Dagegen hatte er einen starken Bartwuchs. Obwohl er sich erst vor drei Stunden rasiert hatte, sah man bereits die schwarzen Stoppeln. Er hatte einen grünen Militärrucksack dabei, der seine Kleidung, seinen Kulturbeutel und Bücher enthielt. Ließ er diesen im Kofferraum des Buses verstauen, behielt er einen zweiten, kleineren, schwarzen Rucksack bei sich, in dem er alles bei sich hatte, was er tagsüber benötigte.