Der Score

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Der Score
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Leo Abt

Der Score

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Inhaltsverzeichnis

Titel

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

Impressum neobooks

1. Kapitel

Mit zweiundsechzig kam Doktor Markus Schönherr zum ersten Mal im Leben der Verdacht, dass es vielleicht zu spät war, sich zu bessern. Da lag schon eine Karriere als Richter hinter ihm, außerdem zwei Ehen, die Beerdigung seines kleinen Bruders und ein Kampf ums Sorgerecht seiner Nichte Lisa. Von eigenen Kindern hatte Schönherr keine Kenntnis.

»Weißt du, das Wichtigste im Leben ist, dass du nie-nie-nie auf das Wohlwollen anderer Menschen angewiesen bist. Das ist das Allerwichtigste«, sagte Schönherr nach hinten in den Wagen und imitierte jenen feierlichen Schmerz, der letzte Worte und Allgemeinplätze in den Rang einer rätselhaften Wahrheit heben konnte.

Aber die kleine Person auf der Rückbank steckte in tiefer Konzentration. Sie arbeitete gerade an dem filigranen Werk, aus dem Popel zwischen ihren Fingerchen eine perfekte Kugel zu rollen, und machte keinen Mucks. Sie verpasste sogar den komischen Moment, als ihr Onkel im Rückspiegel Grimassen schnitt, um für das bevorstehende Gespräch nach einem Ausdruck zu forschen, den man einsichtig oder wenigstens nicht herablassend nennen konnte. Doch die Jahrzehnte des staatlich verordneten Rechthabens konnte er so natürlich nicht vertuschen, nicht mit ein paar mimischen Last-Minute-Übungen auf dem Weg in die Schlossberg Academy.

Sei es aus Mitleid oder Versehen, Karl-Uwe Hoffmann, der Leiter der Schlossberg Academy, war so freundlich gewesen, ihm einen Termin zu geben. Eine nutzlose Höflichkeit, nachdem man Schönherrs Nichte aufgrund von Score-Problemen die Eignung für die gute Schule abgesprochen hatte. Dass es für Lisa keinen Platz auf der Schlossberg gab, war keine Frage von Abwägung oder Sympathie, sondern wissenschaftliche Tatsache, wie es hieß. Trotzdem hatte Schönherr beschlossen, vor Hoffmann auf die Knie zu gehen.

Als sie mit geradezu unterwürfiger Pünktlichkeit auf den geleckten Campus der Privatschule einbogen, da dachte Schönherr zurück an seine eigene Schulzeit. Er überlegte, ob er jemals zum Direktor zitiert worden war, was ihm - je nach Schwere der Schuld - durchaus Respekt aus den Machtzentren des Schulhofs eingebracht hätte. Aber dem war nicht so. Keine einzige trübe Erinnerung, die im Licht und Schatten der Campusallee vor seinem geistigen Projektor antrat, deutete entfernt auf eine demütigende Erfahrung hin, wie sie ihm jetzt, zwei Generationen überfällig, bevorstand. Abgesehen von einer unnötigen Beziehungssimulation mit einer Querflötistin aus dem Pädagogikleistungskurs und der noch unnötigeren Eselei, ihr zuliebe die vakante Stelle des Paukisten im Schulorchester zu stopfen, hatte er die Schule reibungslos und unsichtbar hinter sich gebracht. Nie waren seine Leistungen oder Vergehen so bemerkenswert gewesen, dass sie zur Chefsache erklärt worden wären.

Selbst als es einmal fast so weit gewesen war, am Ende des Gymnasiums, als er in gehobener Erwartung mit Frauke und Sven, die abgesehen von einem sch am Anfang des Nachnamens nichts verband, das Büro des Schulleiters betrat, stand doch wieder nur der dritte Stellvertreter Soundso bereit, um ihm das Abiturzeugnis mit einem ausgeleierten Glückwunsch und den Worten zu überreichen, dass mit etwas Fleiß mehr drin gewesen wäre. Er hatte sich damals seine Initiation in was-auch-immer festlicher vorgestellt, glanzvoller und größer, weniger alltäglich jedenfalls. Er hatte gedacht, dass es die Aufgabe der Schule sei, seinen Namen in goldene Urkunden zu prägen, Jubelfeste zu veranstalten und - das wäre wohl das Mindeste gewesen - den Direktor zu zwingen, ihm zum Schluss die Hand zu schütteln.

Nichts war's. Einen übertriebenen Hang zum Ritual konnte man seiner ehemaligen Schule wirklich nicht vorwerfen. Aber als ihm Soundso wie nebenbei die Quittung über die letzten dreizehn Jahre seines Lebens zusteckte, da wollte der Lehrer mit seinem schlappen Tadel vielleicht nichts weiter als seine Enttäuschung zum Ausdruck bringen, dass Schönherrs Leistungen - irgendwo in der langweiligen Mitte der Jahrgangsstufe - für eine Prognose, was aus ihm mal werden würde, völlig unbrauchbar waren. Sogar der Berufsberater und sein Computer vom Arbeitsamt fühlten sich von der Konturlosigkeit ihres jungen Klienten so verunsichert, dass sie ihm nur alberne Vorschläge machen konnten: Ob er nicht über den Ausbildungsberuf des Metall- und Glockengießers nachdenken wolle? Oder Hafentaucher? Nein? Dann eben was mit Wirtschaft. Oder Medien. Egal.

Nachdem sich also kein Sachverständiger fürs Leben gefunden hatte, der ihm hätte sagen können, warum er auf der Welt war und zu welchem wertvollen Zweck, da war ihm in seiner Verwirrung nichts Besseres eingefallen, als mit geschlossenen Augen das erstbeste Studium auf dem Immatrikulationsformular anzukreuzen. Ganz ohne Visionen und ohne Next-Level-Coaching, ohne eine ungefähre Skizze in seinem Kopf von einer Karriere, die man später bewundern und als erfolgreich bezeichnen würde. Aber er fand Gefallen am Umgang mit dem Recht. Ja, er war gut und wurde Richter.

Ein halbes Jahrhundert später war der Zufall erledigt, und Schönherr auch.

*****

Die Schlossberg Academy lag im Villenviertel der Stadt, auf einem der sonnigen Hügel, und sie war zweifellos eine besondere Schule. Hier hießen der Schulleiter Präsident und die Lehrer Professoren, sogar die, die nur die Klassen eins bis vier unterrichteten. Ohne dass die Akademie ein Netz aus strengen Regeln über ihre Schüler werfen musste, wie sie sich zu kleiden und zu benehmen hätten, lag eine besondere Ordnung über der Schule. Niemand konnte mit Sicherheit sagen, ob der Präsident überhaupt jemals gezwungen gewesen war, einen Verweis auszusprechen. Selbst kleine Sanktionen waren die große Ausnahme.

Persönlichkeit entfalten im Geist einer besonderen Gemeinschaft. So beschwipst klang die Präambel zum pädagogischen Leitbild, das sich die Schule bei ihrer Gründung gegeben hatte.

Und dass ein besonderer Geist seine Finger im Spiel hatte, das sah man bereits daran, dass alle Schüler mehr oder weniger gleich aussahen. Die gepflegten Outfits der Sechs- bis Achtzehnjährigen wären in den internationalen Beratungsfirmen problemlos als Business Casual durchgegangen: dunkle Markenjeans, kombiniert mit gefälligen Hemden oder Shirts - weder weit noch eng, weder lang noch kurz. Die älteren Jungs steckten oft schon im Sakko, im stimmigen Kostüm die Mädchen. Saisonal schattiert. Wie von einer unsichtbaren Macht befohlen dominierten Einheitsstoffe, -farben und -schnitte, denen ohne den Kennerblick eines Typberaters kaum jemand gestattet hätte, ihre - wie heißt es? - nonverbalen Botschaften zu transportieren. Auf den reinlichen Brusttaschen und Kragen aller Lehrer und Schüler strahlte das Schullogo: ein Schloss, ein Berg, eine schwarze Kappe mit Zierquaste, wappenartig arrangiert und eingefasst von einem goldenen Lorbeerkranz. Gut sichtbar unter allen Lichtverhältnissen und Kamerawinkeln. Überhaupt klebte das Schullogo wie ein Kuckuck auf sämtlichen Dingen, die man bewegen konnte: auf Tennisbällen und Rucksäcken, auf Tablets und Sticks. Denn eine makellose Außenwirkung war der Schlossberg enorm wichtig.

So verfügte die Schule auch über sorgfältig isolierte Klassenzimmer, die sogenannten Isozimmer. Diese fensterlosen und drohnensicheren Räume waren mit dicken Wänden und kleinen autarken Netzwerken ausgestattet. Nichts drang hinein, nichts ging nach draußen. Dort, in den muffigen Kammern konnten alle Kinder nach Herzenslust toben und Unsinn machen, ohne dass die Algorithmen der Auskunfteien und Behörden davon Wind bekamen. Nach außen, wo das kollektive Gedächtnis saß, gingen nur erlesene Wahrheiten, solche, die gründlich gefiltert und poliert den optimalen elektronischen Fingerabdruck der jungen Auskunftspersonen nicht gefährdeten.

Erfahrungslernen und Erlebnispädagogik in einer abhörsicheren Umgebung. Dieses Versprechen löste die Schlossberg als eine der ersten Schulen des Landes ein, und damit nahm die Akademie natürlich eine große Last von den Schultern der Eltern, indem sie den Kindern einen Ort gab, an dem sie ohne Sorgen um den Score, heiter und spielerisch das statistisch optimale Verhalten lernen und verinnerlichen konnten: richtig schreiben und richtig sprechen, sich richtig benehmen in der Öffentlichkeit und mäßigen in den sozialen Medien, richtig essen, richtig umgehen mit den elektronischen Zahlungsmitteln, richtig handeln bei seelischen und sozialen Leiden. Richtig leben.

Gerade wegen ihrer konsequenten Einbettung des Scores in ein ganzheitlich verfasstes Bildungs- und Erziehungskonzept (ein weiteres Bonmot aus dem pädagogischen Leitbild) genoss die Schlossberg einen fabelhaften Ruf. Stundenplan, Ernährung und Freizeit, etwa musisch-kreative und sportliche Aktivitäten, folgten stets der aktuellen Mode aus der Forschung. Und so überwiesen die Eltern jedes halbe Jahr irrwitzige Summen an die Akademie, damit ihre kleinen Genies nicht zwischen den Mauern eines winzigen verdreckten Schulhofs spielen mussten, sondern sich entfalten konnten auf einem richtigen Campus, dessen lässiger Umgang mit Luxus ihnen einen Vorgeschmack auf ihr zukünftiges Leben gab.

 

*****

Als Schönherr das Gelände der Schlossberg betrat, lag ein üppiger Park vor ihm, möbliert mit beschrifteten Themengärtchen und alten Eichen, deren Kronen reißverschlussartig ineinandergriffen. Das komplizierte Knäuel aus Wegen machte es ihm unmöglich, das Schulgebäude auf einer geraden Linie zu erreichen. Dem Richter a.D. folgte in halben, schnellen Schritten seine kleine Nichte, für die er seit dem Tod des Bruders sorgte.

Damals, als Lisa plötzlich ohne Vater und ohne erziehungstaugliche Mutter dastand, hatte Schönherr allen als idealer Vormund gegolten, soweit man von ideal nach dem, was ihr zugestoßen war, überhaupt noch reden konnte. »Was Lisa von nun an mehr als alles andere braucht«, so hatte die Familienrichterin ihre Entscheidung für Schönherr und gegen einen Amtsvormund von der Stange begründet, »ist Stabilität, Zuneigung und Bildung.« Bedenken gegen den ehemaligen Richter gab es jedenfalls nicht in der Familie und auch nicht bei den Behörden, zumal Lisa sowieso schon die meiste Zeit bei ihrem Onkel gelebt hatte. Lediglich eine gewisse Frau Schmidt-Nobel - früher Empörungsjournalistin, doch nach ihrer Haftstrafe wegen Steuerhinterziehung nur noch Bloggerin -, nur sie hatte schüchtern die Frage gestellt, ob das Gericht nicht besser daran getan hätte, »vor seiner Entscheidung eine Persönlichkeitsauskunft bei der Score Holding AG über den Herrn Doktor Schönherr einzuholen?« Aber das war damals bei den Gerichten noch unüblich gewesen. Der Score hatte ja mit Computern zu tun, weshalb gerade ältere Richter die Hilfe der Auskunfteien bei der Wahrheitsfindung ablehnten. Und so blieben die Risiken, die Lisas Wohl gefährdeten, lange verborgen.

Zur Orientierung trug Schönherr sein Telefon wie einen Kompass vor sich her, dahinter Lisa, so näherten sie sich dem Gebäude, das die CampusApp als Haupthaus auswies.

Der zentrale schlossähnliche Neubau oben auf dem Hügel war schon von weitem zu sehen und hätte gut und gerne auch in einem Freizeitpark stehen können. Oder auf einem großen Felsen, erbaut von einem schwulen König zum Beispiel. Das Schloss war mit zahllosen pittoresken Türmchen unterschiedlicher Höhe ausgestattet, wovon eines eine segmentartige Kuppel aufhatte, eine Art Glosche, wie man sie zum Abdecken von Riesenteleskopen und Atomkraftwerken benutzt. Zwei kneifzangenartig-geschwungene Auffahrten stoppten vor einem gewaltigen Holztor, das unter einem Spitzbogen und mit dekorativen Beschlägen versehen so groß und schwer war, dass man unten in die Ecke eine kleine Tür hatte aussägen müssen, um ins Haus zu kommen.

Dass Lisa ohne etwas zu sagen bei Schönherr blieb, lag sicher auch daran, dass weit und breit keine Menschenseele zu sehen war. Die Schule verschnaufte. Ob der kühle Park allerdings, die gewaltigen Gebäude mit den Mosaikfenstern, ob das ganze Tamtam außerhalb der großen Ferien weniger Ängste bei ihr hervorgerufen hätte? Ob tausend Kinder ausreichten, um den fingierten Ernst dieser bizarren Wehrattrappe aus leichten Verbundwerkstoffen einzureißen und den Protz niederzutoben? Das war schwer zu sagen. Denn auf der Überholspur blieb wenig Zeit, um sich danebenzubenehmen.

Oder welche andere Erklärung käme in Betracht, das manchmal sonderbare Verhalten der Schlossbergianer zu entschuldigen? Wenn beispielsweise die kleine Clara-Lisette kurz nach ihrer Einschulung auf die Frage eines Reporters, warum sie auf die Schlossberg Academy gehe, empört antwortet: »Na um zu lernen, das ist doch logisch!«; »Und was lernst du so?«; »Weiß nicht, das kann ich nur in Englisch und Chinesisch.« Oder wenn Jan-Torben aus der Oberstufe in der Sitzungspause des Schulparlaments vor die Kameras tritt, im Maßanzug, die Hände zur Kanzlerraute gefaltet und bedeutungsvoll erklärt: »Nach meiner Graduierung werde ich auf konkreten Handlungsfeldern intensiv arbeiten und Dialogprozesse anstoßen, denn - und das sage ich ganz unmissverständlich - die Gestaltungsspielräume auf den schiefen ... ähm verschiedenen Ebenen dürfen in unsicheren Zeiten wie den unseren nicht ungenutzt bleiben.« Kurz: Wenn das Gehabe dem Verstand vorauseilt.

Der kleinen Lisa jedenfalls schien die Schule nicht ganz geheuer zu sein. Nicht nach alledem, was sie über Luxusschlösser und deren zwielichtige Bewohner schon alles hören musste. Erst gestern vor dem Einschlafen hatte ihr Tante Lena von einer bösen Königin vorgelesen, die einmal in so einem Schloss gewohnt haben soll. Aber weil die Königin fand, dass ihr Land zu klein war und weil sie chronisch sauer war, ging sie auf den Balkon und schickte wüste Beschimpfungen und allerlei Unwetter auf die andere Seite der Berge, wo es vorher ganz friedlich gewesen war. Zum Schluss schaffte es die Wahnsinnige zum Glück nicht, das andere Land zu erobern, hilfsweise zu zerstören, aber angeblich nur wegen der Schönheit einer winzigen Blume, versteckt hoch oben in den Bergen - das einzige Ding im ganzen Universum, das nicht richtig zaubern konnte -, was in Lisas Ohren ziemlich unglaubwürdig klang. Aber nachdem ihre Tante die Schlussformel aufgesagt hatte (»Und wenn sie nicht gestorben sind ...«), meinte Lisa, dass die Sarah aus der Kita den Hals auch nie vollkriegen würde.

*****

Die Absage der Schlossberg hatte Schönherr vor wenigen Tagen im Pepofa (Abkürzung für Personalpostfach) erreicht, diesem elektronischen Briefkasten, der im Grunde nur eine E-mail-Adresse war, jedoch zugewiesen, eingerichtet und verwaltet von einer Behörde mit einem noch frischen, semantisch unverbrauchten Namen. Jede Mitteilung, jeder behördliche Bescheid, alle Dokumente und Briefe - das nur nebenbei -, die ein Korrespondent in wichtigen Angelegenheiten an das Pepofa schickte, galten zwei Tage nach Eingang als zugestellt, ohne dass Originale oder Unterschriften auf Papier nötig gewesen wären. Dort also hatte Schönherr mit der Vorfreude auf neue Rechnungen und Supermarktreklame das elektronische Einschreiben der Schlossberg entdeckt, und auch wenn er fest von einer Zusage ausgegangen war - wer konnte denn ernsthaft etwas gegen Lisa haben? - hatte er in dem Moment, als er ein mit drei kurzen Absätzen generiertes Dokument vorfand, gespürt, dass seine Erwartung in dieser Sache nur das Resultat einer enormen Selbsttäuschung gewesen sein konnte. Freilich hatte die Schlossberg in ihrem Schreiben viel Wert darauf gelegt, dass ihrer höchst schmerzhaften Entscheidung sorgfältige Überlegungen vorausgegangen waren. Schönherr konnte förmlich nachempfinden, wie die Verantwortlichen in nächtlichen Meetings quälend lange über das Für und Wider debattiert hatten, nur um schließlich unter Tränen der Wahrheit ins Auge zu sehen, dass Lisa und die Schule auf eine seltene, unbestimmte Weise nicht zusammenpassten. So zumindest der beleidigende Ton, dessen sich der Textbaustein bediente:

... möchten wir die inkurable Betroffenheit über unser untröstliches Bedauern darüber zum Ausdruck bringen, dass die Schlossberg Academy leider nicht den Fähigkeiten Ihrer Tochter gerecht wird. Bitte fassen Sie unsere Entscheidung nicht als eine Wertung Ihrer Person und/oder Ihrer Tochter auf ...

»Die haben sich nicht mal die Mühe gemacht, Tochter in Nichte zu ändern«, hatte Schönherr sich hinterher bei seiner Schwester beschwert, und mit der Kraft aus einer Flasche Barolo war es ihm endlich gelungen, aus allen Wolken zu fallen und mit der festen Stimme des ehemaligen Richters zu erklären, dass er diese Frechheit von dieser dämlichen Schule keinesfalls akzeptieren werde. Auch wenn er in Lenas Wohnzimmer diesbezüglich auf keinerlei Widerspruch gestoßen war, haute er trotzdem mit der Faust auf den Tisch, um seiner Entscheidung auch gestisch die nötige Entschlossenheit zu geben, und sagte: »Lisa geht auf diese Schule. Ende der Diskussion.«

Das Problem war nur, dass ihm am nächsten Morgen, als er wegen der lächerlichen Absage in der Schlossberg anrief, nichts weiter einfiel, als solange um ein Gespräch mit dem Schulleiter zu betteln, bis ihn die reizende Stimme am anderen Ende der Leitung bat, einen Moment zu warten. Kurz darauf meldete sich Präsident Hoffmann höchstpersönlich: Die Bitte sei eher ungewöhnlich, sagte er, aber er wolle in seinem speziellen Fall eine Ausnahme machen, weil es eine Ehre für ihn und das ganze Team der Schlossberg Academy sei, wenn ein so berühmter Richter um eine Stelle für seine Tochter nachsuche. Gerade seien Ferien und er habe deshalb ein paar Minuten übrig. Obwohl Schönherr wusste, dass Hoffmann ihm kaum mehr als vielfältige Floskeln des Bedauerns anbieten würde, bedankte er sich mehrmals vielmals, bevor er auflegte.

*****

Das Zentrum des Haupthauses war ein beeindruckender Raum aus hängendem Beton und Glas, der die Stockwerke wie eine Arena durchbrach. Eine tolle Aula, die es dem Präsidenten erlaubte, mit großer Geste von einer der Galerien zu seinen Schäfchen zu sprechen, und die außerdem hoch genug war, dass alle Abiturienten am Ende des Schuljahres ihre schwarzen Kappen fröhlich in die Luft werfen konnten, wenn es draußen regnete. In der Mitte hing ein Videowürfel, im Schweben gehalten von vier mächtigen Ketten, darunter bunte leergefegte Sitzgruppen und rundherum ansteigende Stuhlreihen, die wie zu groß geratene Fußleisten an den Wänden lehnten. Außer einer fahrenden Untertasse, die mit der Systematik einer Flipperkugel den Boden wischte, war nichts in Bewegung.

Das galt auch für den sichtbaren Teil eines Jungen, höchstens vierzehn oder fünfzehn Jahre alt, der uniformiert und in Servicestellung erstarrt hinter einer halbhohen Wand aus Glasbausteinen mit der Langeweile zu ringen schien. Die funktionalen Facetten des Gebäudes hatte man virtuos in das Design einfließen lassen, wodurch Schönherr wie ein blinder Trottel herumlief, als er sich nach Hinweisen auf das Büro des Schulleiters umsah. Derweil sprang Lisa vor den Wischroboter, und wenn der nach kurzer Denkpause umkehrte, überholte sie das Gerät und versperrte erneut den Weg. So ging es hin und her, bis der Junge nach einer Weile höflich fragte, was er für sie tun könne.

»Guten Morgen, lieber Herr -«, dann schon hing er das erste Mal, schob seine Brille vor und zurück, eine Geste, die unbemerkt dem Wischen und Zoomen auf harten Oberflächen beigetreten war, obwohl ja jeder wusste, dass sie genauso nutzlos ist wie das Reiben einer Münze am Automaten. »Guten Morgen, sehr geehrter Herr ... und Lisa. Mein Name ist Edward, es wäre mir eine g-g-große Freude, Ihnen im Namen der Schlossberg Academy behilflich zu seien dürfen.«

Sofort färbten sich die Pausbäckchen des Jungen ganz rot, wahrscheinlich weil es gelogen war und er befürchtete, man könne ihm ansehen, dass ihn das stundenlange Rumgestehe in den Ferien keineswegs freute.

Schönherr fragte nach dem Büro des Schulleiters.

»In welch für einem Anliegen darf ich Sie ... im Namen des Pö-Pö-Präsidenten Hoffmann ... der Schlossberg Academy ... begrüßen zu dürfen?« stotterte Edward.

Sein Ton war freundlich, doch benutzte er müde Erwachsenenworte und setzte sie außerdem in eine so unbeholfene Reihenfolge, dass seine Freundlichkeit nur das Resultat eines harten, aber längst nicht abgeschlossenen Trainings sein konnte. Als würde man einem schwer dressierbaren Tier ein Kunststück beibringen, dachte Schönherr. Edwards Pupillen turnten hinter den bläulich schimmernden Brillengläsern merkwürdig hin und her, und doch schienen sie seine Augen nie zu treffen. Auch mit dem Mund des Jungen stimmte etwas nicht. Er verzog ihn mechanisch, so wie eine Eiskunstläuferin, der man gesagt hat, sie solle freundlich gucken, am besten lachen, bevor sie zum dreifachen Axel abhebt, obwohl sie ja auf etwas ganz anderes achten muss, ihre Gesundheit nämlich.

Es waren diese Blessuren in Edwards Verhalten, die Schönherr fast dazu gebracht hätten, den Jungen in den Arm zu nehmen und zu fragen, ob alles in Ordnung wäre. Aber natürlich wusste er, was hier vor sich ging, man sah es ja inzwischen überall: in den Restaurants und Hotels, Flughäfen und Arztpraxen. Also schaute Schönherr recht freundlich in die winzige Kamera am Bügel der High-Tech-Brille des Jungen - vielleicht erkannte der Server am Polarkreis ihn so schneller -, wartete geduldig, bis Edward die Informationen vom Head-Up-Display abgelesen hatte und tat überrascht, als die ersten Züge von Erleichterung in die junge Dienstleistungsmaske fuhren.

 

»Herr Doktor Schööönherr«, rief Edward endlich. »Die Schlossberg Academy freut sich herzlich, Sie, Herr Doktor Schönherr, und Ihre Toch ... ähm, Nichte Lisa im Namen der Schlossberg Academy herzlich zu begrüßen dürfen ... zu begrüßen, ähm, zu bedürfen.«

Es war natürlich einiges an Übung nötig, interessiert zu wirken, während man die Daten von der Brille ablas oder der Computerstimme im Ohr lauschte.

»Na, dann grüß mir mal die Schlossberg Academy herzlich zurück«, sagte Schönherr.

Wieder ein Ruckeln im Verhalten des Jungen, dann fragte er seine Gäste, ob sie gut hergefunden hätten.

»Wir wohnen ganz in der Nähe. Dritte Zeile links, gleich unter meinem Alter.«

»Jaja«, rief Edward begeistert und tippte mit dem Finger an die Brille, wodurch es aussah, als zeigte er sich selbst einen Vogel. Dann fragte er: »Haben Sie eine angenehme Anreise gehabt?«

Schönherr stöhnte.

Dass es in Mode gekommen war, das Prekariat auf den kaum bezahlten Schleudersitzen nur noch entlang vorformulierter, nach Gesichtspunkten moderner Kommunikationsforschung optimierter Baumstrukturen reden zu lassen, hatte Schönherr zum ersten Mal in einem texanischen Supermarkt erlebt. Dort war er mit seinem Namen und »hoher Richter« angesprochen worden, obwohl die Frau hinter der Kasse ihn nie zuvor gesehen haben konnte. Das fand er damals so verblüffend, dass er fast nicht mitbekommen hatte, wie sie durch die verfaulten Zähne genuschelt seine glänzende Produktauswahl lobte, ihm einen ausgezeichneten Geschmack in Lebensmittelsachen attestierte und anschließend die Frage leierte, wie sie seinen Tag noch schöner machen könne?

»Hä?«

Ob er das Shopping-Erlebnis bei Jacke-wie-Hose-Mart geliebt habe?

Schönherr hatte daraufhin eine hochanständige Antwort gegeben, aus Versehen natürlich, wie es einem manchmal passiert, wenn man nicht ganz bei der Sache ist, er hatte so etwas gesagt wie: dass es an sich schon ein toller Supermarkt und überhaupt alles total super sei, aber dass er beim Besorgen von Bier und Chips oft nicht zuallererst an Liebe denke.

Das war natürlich ein großer Fehler gewesen.

Alarmiert durch das achtlos hingeworfene Wörtchen aber traten der armen Kassiererin plötzlich Tränen in die Augen, sie bat tausendmal um Entschuldigung, während sie ängstlich nach ihrem Vorgesetzten Ausschau hielt. Derweil kam von der Nachbarkasse einer von den Neuen herbeigehumpelt, ein gutgelaunter Praktikant, so um die achtzig.

»I’m sorry for the inconvenience that you have faced«, sagte der, und obwohl er dabei streng den Firmensprech zitierte, der sich mit der Erstberuhigung wutschäumender Kunden befasste, winkte Schönherr ab. Er hatte nur noch schnell raus aus dem Laden gewollt, da er nun tatsächlich die ersten Anzeichen von Kummer spürte. Er schämte sich auch, dass er inmitten all der fröhlichen Fremden als einziger so schwer zu begeistern gewesen war.

Leider hatte jemand in der Konzernzentrale die Idee gehabt, dass es in Fällen wie diesem das Beste wäre, wenn man sich über die Intelligenz des Miesepeters lustig machte. Denn die beiden Freelancer, die sich so rührend um ihren schwierigen Kunden kümmerten, setzten sich plötzlich lustige Jacke-wie-Hose-Hüte auf, die sie unauffällig aus einem Fach unter der Kasse hervorgeholt hatten. Es begann zu dunkeln, jemand stülpte einen Lichtkegel über den armen Glückspilz, Musik lief vom Band, und dann begannen die zwei im Duett zu singen: »Wir bei Jacke-wie-Hose - (und alle) H.O.S.E - empfinden es als unseren göttlichen Auftrag - A.U.F.T.R.A.G - Sie, lieber Herr Schönherr - S.C.H.Ö.N.H.E.R.R -, täglich neu zu begeistern, Ihnen mit Frische - F.R.I.S.C.H.E - und Qualität - T.Ä.T - kleine Glücksmomente für Ihr Wohlgefühl zu schenken.«

Die Leute kannten das Schauspiel schon, offensichtlich liebten sie es auch, sie strömten von den Nachbar- und Automatikkassen herbei, freuten sich und klatschten fröhlich in die Hände.

Dem sonderbaren Richter aus Deutschland aber blieb nichts anderes übrig, als beschämt den Führerschein zum doppelten Nachweis seiner Volljährigkeit durch ein Lesegerät zu ziehen und zuzuschauen, wie man sein frisches Qualitätsbier in einen nach dem Zwiebelprinzip aufgebauten Sichtschutz aus Plastik steckte. Dann sagte die Kassiererin noch, dass es ihr unter diesen Umständen die allergrößte Freude wäre, wenn sie persönlich für seinen Einkauf aufkommen dürfte. Ob sie mit einem Hundert-Dollar-Gutschein wenigstens einen Teil ihrer Schuld wieder gutmachen könnte?

*****

Keine Frage, auch wenn der junge Edward auf einem guten Weg war, am Ende der Sommerferien genauso viel Leidenschaft für seinen Posten hinter den Glasbausteinen empfinden zu können wie die Kassiererin aus dem texanischen Supermarkt, so sehnte sich Schönherr manchmal ein bisschen nach der Zeit, als die Launen der anderen noch ungefähr mit seinen eigenen übereingestimmt hatten.

Während Edward nun Punkt für Punkt seiner Neubesucher-Begrüßungscheckliste durchging, alles in allem fehlerfrei, suchte Schönherr nach Lisa. Sie war dem Wischroboter unter einen Tisch gefolgt. Gleichzeitig gab er Edward Antworten, von denen er hoffte, dass sie dem Jungen anschließend beim Performance Assessment keine Schwierigkeiten machten.

Als Edward schließlich sagte, »bitte mir zu folgen«, nahm Schönherr Lisa an die Hand, und dann folgten sie dem Jungen durch einen hellen modernen Flur.

We develop leaders, las Schönherr auf den elektronischen Wandzeitungen, außerdem, Begabung entfalten, Gemeinschaft gestalten und weitere Sinnsprüche aus der Glückskekskiste.

Er konnte dieses dümmliche Getue noch nie leiden, aber nachdem Lisa in sein Leben getreten war und von ihm verlangen durfte, dass er sich in Zukunft um mehr als nur seine eigenen Angelegenheiten kümmerte, hatte er in seiner Funktion als Pflegevater einsehen müssen, dass es inzwischen sogar in den Kitas und Grundschulen unmöglich war, sein Wissen zu bereichern und das Denken zu üben, ohne sich zu einer Marke, einer Farbauswahl, einem lustigen Maskottchen und einer Parole zu bekennen. Unter den Schulen in der Nähe war keine einzige, die ohne sphärisches Wortgebimmel oder ein Sprüchlein auskam, das sie Philosophie nannte. Sogar in den staatlichen Bildungsruinen wurde neuerdings nach Exzellenz gestrebt und am laufenden Band Persönlichkeit entfaltet, obwohl die in Selbstverteidigung geübten Lehrer abseits des Strebens und Entfaltens alle Hände voll zu tun hatten, das Drogenbesteck zu konfiszieren und Kopfverletzungen zu behandeln.

*****

»Ach, Doktor Schönherr, warten Sie schon lange? Kommen Sie doch bitte herein. Darf ich Ihnen ... Oh, und du musst Lisa sein!«

Michelle Schäfer war die attraktive und besonders von den Jungs der Oberstufe gern besuchte Assistentin des Schulleiters. Wenn sie einen mochte, dann konnte es passieren, dass sie ihn einen Moment in der Tür warten ließ, sich tief über den Schreibtisch lehnte, für einen letzten intensiven Blick in die E-Mail, und die Messerspitzen ihrer feuerroten Acrylnägel rhythmisch gegen das Brillengestell tippte. Dann klickte sie mit dem langestreckten Zeigefinger der anderen Hand auf Senden, und dabei sah sie immer ein bisschen wie die dekorative Vertretung für jemanden aus. Meistens trug sie wunderbar hohe Schuhe und einen knielangen engen Rock, wodurch ihre Bewegungen wie von einem inneren Metronom betont waren. Eine weiße Bluse und schwarze Haare, beides stets streng nach hinten gebunden, unterstützten noch den delikat verdorbenen Eindruck, der, ohne dass sie etwas Konkretes versprechen musste, eine spezielle Form von Vorfreude auslösen konnte.

Sie erkundigte sich, ob sie Schönherr eine Tasse Kaffee bringen dürfe. »Oder vielleicht etwas anderes?«

»Ja, danke, Kaffee hätte ich gern, das wäre sehr nett, vielen lieben Dank«, sagte er unbeabsichtigt devot.

»Mein Gott, wie hübsch du bist, zum Anbeißen!« Frau Schäfer schien ganz hingerissen von Lisa, während sie sich mit durchgestreckten Knien zu ihr hinunterbeugte, wie um einen winzigen Hund aus der Nähe zu betrachten.

Etwa gleichzeitig öffnete sich eine Tür auf der anderen Seite des Flurs. Ein Mädchen, vielleicht eine Schülerin aus der Mittelstufe, kam herüber und wartete höflich, bis Frau Schäfer ihr Entzücken über Lisa angemessen zum Ausdruck gebracht hatte und vorschlug, dass Selina die liebe Nichte für die Zeit der Besprechung ein bisschen herumführen könnte.