Schockästhetik: Von der Ecole du mal über die letteratura pulp bis Michel Houellebecq

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Aus der Reihe: edition lendemains #42
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Schockästhetik: Von der Ecole du mal über die letteratura pulp bis Michel Houellebecq
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Lena Schönwälder

Schockästhetik:

Von der Ecole du mal über die letteratura pulp bis Michel Houellebecq

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen


Umschlagabbildung: © Lena Schönwälder


© 2018 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

www.narr.de • info@narr.de

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ePub-ISBN 978-3-8233-0108-0


Inhalt

  Vorwort

  Einleitung

 1 Theoretische Vorüberlegungen1.1 Böses schreiben – böses Schreiben: Überlegungen zum Zusammenhang von Ethik und Ästhetik1.1.1 Karl Heinz Bohrer und das Böse als ästhetische Kategorie1.1.2 Sabine Friedrich: Bohrer und Bataille revisited1.1.3 Die Ästhetik des Bösen nach Peter-André Alt: Wiederholung, Transgression und Paradoxie1.1.4 Zwischenfazit1.2 Das Böse und Wirkungsästhetik1.2.1 Das Böse und (ästhetische) Empfindungen1.2.2 Das Böse und (ästhetischer) Genuss1.2.3 Das Erhabene1.2.4 Der Ekel1.2.5 Das Obszöne1.2.6 Zwischenfazit1.3 Das Böse und ethische Implikationen1.3.1 Vorverständnis von Ethik und Moral1.3.2 Das ethische Moment der ästhetischen Erfahrung1.3.3 Der ethical turn und narrative Ethik1.4 Skandal1.4.1 Skandal: Zur Etymologie und Bedeutung des Begriffs1.4.2 Literaturskandale1.4.3 Überlegungen zu einer Poetik des Skandals oder: die Performativität des Skandals

 2 Textanalysen2.1 Gustave Flaubert: Salammbô (1862)2.1.1 »La bataille de Salammbô«2.1.2 »Un livre cruel«: Flauberts Schreibweisen der Grausamkeit2.2 Octave Mirbeau: Le Jardin des supplices (1899)2.2.1 Entstehung und Rezeption2.2.2 »Une monstruosité littéraire«: Le Jardin des supplices und das Prinzip der Dualität2.3 Pier Paolo Pasolinis Salò o le 120 giornate di Sodoma und der Marquis de Sade2.4 Gioventù cannibale: Aldo Nove und Niccolò Ammaniti2.4.1 Blut, Sex, Gewalt und Konsum: Die giovani cannibali und die letteratura pulp2.4.2 Aldo Noves Bagnoschiuma: Wenn der Freiheitskampf beim Duschschaum beginnt…2.4.3 Niccolò Ammaniti und die Apokalypse in der Postmoderne2.4.4 Zwischenfazit zu den giovani cannibali2.5 Michel Houellebecq2.5.1 Les Particules élémentaires (1998)2.5.2 La Possibilité d’une île (2005)2.5.3 La Carte et le Territoire (2010)2.5.4 Zwischenfazit zu den Romanen Michel Houellebecqs

  Schluss

 BibliographieA. PRIMÄRLITERATURB. PHILOSOPHISCHE UND ÄSTHETISCHE SCHRIFTEN, ABHANDLUNGENC. HISTORISCHE QUELLEN, KORRESPONDENZ, INTERVIEWS UND LITERATURKRITIKD. SEKUNDÄRLITERATUR

Meinen Eltern

Vorwort

Diese Untersuchung entspringt dem Wunsch, Literatur und ihren Wirkungsweisen näher auf den Grund zu gehen – im Besonderen dann, wenn sie aufreibt, erhitzt, provoziert, kurzum: schockiert. Es schien und scheint mir noch ein großes Faszinosum, dass das geschriebene Wort – eigentlich nicht mehr als Tinte auf Papier – so viel intellektuelle und emotionale Energie freisetzen kann. Ich erinnere mich noch bestens an ein Gespräch mit Prof. Dr. Christine Ott und Prof. Dr. Heidi Marek, in dem sie mir die Romane Michel Houellebecqs empfahlen. Neugierig kam ich dem nach und in der Tat enttäuschte Houelle­becq nicht: Die Lektüre hinterließ mich fragend und irritiert. Davon ausgehend richtete ich meinen Blick auf die Literaturgeschichte, die eine Vielzahl an Texten kennt, die ihrerzeit und in der Folge die Leserschaft zu schockieren vermochten. Es folgte eine Reihe an nicht selten nervenaufreibenden Textlektüren, bei denen mich die Frage nach ihren Mechanismen umtrieb. Dabei zeigte sich, dass es nicht nur die brisanten Themen sind, die die Texte behandeln, sondern auch die Art und Weise, wie diese besprochen werden, die zu ihrer besonderen Wirkmacht beitragen. Die vorliegende Studie ist schließlich eine Ausei­nander­setzung mit der Frage nach der Macht der Literatur – nämlich die Macht zu bewegen und dadurch Denkprozesse anzuregen.

Zu tiefem Dank bin ich Christine Ott verpflichtet, die mir in allen Fragen und Anliegen mit äußerst hilfreichen Ratschlägen und kritischen Anregungen stets zur Seite stand. Eine engagiertere Betreuung hätte ich mir nicht wünschen können: Ich habe mich stets auf das Beste gefordert und gefördert gefühlt. Danken möchte ich auch Prof. Dr. Roland Spiller, der mir mit großem Interesse an der Fragestellung und wertvollen Anregungen begegnete.

Ein herzlicher Dank gilt nicht zuletzt meinen Eltern, Anita und Eberhard Schönwälder, und meiner Familie, die mich stets unterstützt haben. Hilfreiche Anregungen habe ich auch im Austausch mit der Emmy-Noether-Nachwuchsgruppe „Form und Emotion“ erhalten sowie in zahlreichen Gesprächen mit Dr. Francesco Giusti, Zsófia Török und lieben FreundInnen, die mich auf dem Weg begleitet haben.

Besonders danken möchte ich auch dem Forschungszentrum Historische Geisteswis­senschaften, das den Druck dieses Buchs großzügig fördert.

Einleitung

[D]as Choquante, sei es abenteuerlich, ekelhaft oder gräßlich, [ist] die letzte Konvulsion des sterbenden Geschmacks.

Friedrich Schlegel, Über das Studium der Griechischen Poesie (1795–1797)1

»Choquant« benannte Schlegel im ausgehenden 18. Jahrhundert eine Form der Literatur, der es vielmehr an »ästhetischer Energie«, denn am Schönen selbst gelegen sei. In abenteuer­lichen, ekelhaften und grässlichen Bildern suche sie um der Interessantheit willen, stets intensivere Reize einzugeben. Noch heute handelt es sich bei der literarischen bzw. künstlerischen Produktion von Schockmomenten um ein probates Mittel der Provokation, die dem Werk bzw. Autor nicht zuletzt eine größere Reichweite im öffentlichen literarisch-künstlerischen Feld verschafft. Ist das »Choquante« zwar bei Schlegel noch unweigerlich seiner eigenen Aufhebung durch Abstumpfung geweiht und damit tendenziell unproduktiv, wird spätestens im 19. Jahrhundert und den Avantgarde-Poetiken des 20. Jahrhunderts der künstlerisch generierte Schock bzw. der als produktiv verstandene Schockzustand im Moment der Kreation zum Distinktionsmerkmal einer innovativen Kunst erhoben. In Baudelaires kunsttheoretischem Konzept von künstlerischer Kreation gestaltet sich der Moment der Inspiration als Gehirnschlag bzw. als Erschütterung der Nerven – eine beson­dere »Chockerfahrung«, wie Walter Benjamin herausarbeitete.2 Auf ähnliche Weise ver­steht später auch André Breton Inspiration als geistigen Kurzschluss bzw. als Moment der plötzlichen Ergriffenheit, den es in der Kunst zu übersetzen und wirkungs­poetisch zu re­pro­du­zieren gilt.3 Seien dies also das revolutionäre Programm der Sur­realisten oder ferner das »théâtre de la cruauté« Antonin Artauds oder auch »Abject Art«: Es handelt sich dabei um Poetiken, die entweder den Moment der künstlerischen Inspiration selbst schon als schockhaften Reizimpuls fassen oder auf die gezielte Produk­tion von sensorisch-emo­tionalen Schockmomenten rekurrieren.

Der Begriff des »Schocks«, per definitionem »eine starke seelische Erschütterung« bzw. »ei­­ne Erschütterung des Nervensystems«, wurde dem Französischen entlehnt.4 »Choc« meint neben seiner primären Bedeutung von »Stoß, Schlag, Erschüt­terung« vor allen Dingen auch »[é]motion violente et inattendue pouvant provoquer de grandes perturbations physiques et psychiques chez l’individu«, bezeichnet also einen Gefühlszustand, der durch das Erleiden einer Aggression herbeigeführt wird; ferner wird »choc« vom Trésor de la langue française gleichsam spezifisch im Kontext der Kunstrezeption als »[é]motion intellectuelle frappant l’individu à la vue d’une œuvre artistique« definiert.5 Der choc wird damit zum Schirmbegriff für einen heftigen, sowohl physischen bzw. psychischen als auch intellektuellen Gemütszustand. Das Verb »schocken« bzw. »schockieren« impliziert gleich­wohl einen moralischen Normbruch: »beleidigen, bestürzt machen, sittlich ent­rüsten«. Inwiefern im Falle des Schocks bei der vom Trésor de la langue française geleisteten Definition tatsächlich von einer »Emotion«, wie sie die Psychologie versteht,6 die Rede sein kann, ist sicherlich insofern problematisch, als er weniger den Basis­emotionen bzw. Primäraffekten wie Interesse/Neugier, Überraschung, Ekel, Freude, Ärger, Traurigkeit und Furcht zugerechnet,7 denn als Zustand einer mit Angst oder Ekel bewerteten Situation psychischer Überlastung verstanden werden kann. Sigmund Freud spricht beispielsweise im Zusammenhang von traumatischen Neurosen von Schock als »ausgiebigen Durchbruch[s] des Reizschutzes«.8 Im Kontext der Ästhetik wiederum wird der Begriff des Schocks mit dem des Schreckens enggeführt.9 Vor allen Dingen Karl Heinz Bohrer entwickelt in Anlehnung an die »Augenblicks«-Denker Nietzsche, Kierkegaard, Max Scheler, Carl Schmitt und Heidegger eine Theorie über die besondere Zeitstruktur moderner Literatur, die sich beispielhaft in der »Konzentration des Zeitbewußtseins auf einen ›gefährlichen Augenblick‹« manifestiere.10 Der künstlerisch produzierte Schrecken bzw. Schock wird zu einem intensiven Moment plötzlicher Entgrenzung und damit zu ei­nem ästhetischen Schlüsselereignis.

 

Im Kontext der Kunst sind demnach zwei Paradigmen des Schocks zu unterscheiden, wobei ersteres die Ebene der Poeisis (Schock als Kreationsprinzip) und zweites die Ebene der Aisthesis, d.h. der Rezeption (Schock als Wirkziel), betrifft. Für die vorliegende Arbeit sollen jedoch jene Texte relevant sein, die weniger auf dem poetischen Prinzip der schock­haften Inspiration beruhen, als gezielt eben solche Schockmomente im Rezi­pienten provo­zieren wollen; d.h. die hier untersuchten Texte sollten formal und inhaltlich so beschaffen sein, dass von einer intentionalen Provokation ausgegangen werden kann. Dies schließt beispielsweise Texte aus, die mehr oder weniger unvorhergesehen einen Skandal provo­zierten, wie dies bei Flauberts Madame Bovary der Fall war. Das relative Novum des unpersönlichen Erzählens veranlasste das damalige Publikum zu einer Fehldeutung der Darstellungsabsicht: Die Erzählinstanz schien sich jeglicher moralischer Beurteilung der ehebrecherischen Emma Bovary zu enthalten und damit implizit ihr verwerfliches Verhalten zu lizenzieren.11 Die Absicht Flauberts bestand jedoch weniger in der Provo­kation denn in der Kreation eines neuen Erzählstils und er konnte sein Werk schließlich rehabilitieren, indem er darauf verwies, dass die moralische Botschaft eines Textes nur indirekt zu ermitteln sei.12

Für die Auswahl der hier besprochenen Texte ist in erster Linie die Grundannahme maßgeblich, dass ein intendierter Normbruch vorliegt: Dieser kann einerseits die Ebene der formalästhetischen Gestaltung betreffen, d.h. er kann zum Beispiel durch Techniken der Montage, Dekonstruktion, Parodie, Kollage zustande kommen oder es können – wie im Falle Flauberts – durch spezifische Erzähl­strategien provokative Dissonanzen mit gängigen stilistischen Normen erzielt werden. Andererseits kann sich der Normbruch jedoch gleichwohl auf den mora­lisch-ethischen Normbereich des Rezipienten beziehen. Gerade am Beispiel von Flauberts Madame Bovary lässt sich veranschaulichen, dass durchaus eine Innovation des litera­rischen Erzählstils intendiert war, doch das eigentliche Skandalon letzt­lich in der vermeint­lichen Apologie des Ehebruchs bestand. Darauf basierend lässt sich die These aufstellen, dass das »Choquante« in seiner vollen Wirkmacht eigentlich erst zum Tragen kommt, wenn die im ersten Moment rein ästhetische Erfahrung in eine ethische übergeht. Um einer Schockästhetik13 auf den Grund zu gehen, bedarf es demnach einer Unter­suchung sowohl der formalen Strukturen eines Werks als auch seines Darstellungs­gegenstands.

Nach dem Potential der Literatur zu fragen, den Rezipienten zu erschüttern, scheint selbst in Zeiten des postmodernen anything goes noch relevant. Der Annahme, dass der moderne Mensch – durch (provokante, bisweilen grausame) Medienbilder und Kunst­er­zeug­nisse mittlerweile übersättigt und unbeeindruckt – kaum noch zu überraschen, geschweige denn zu schockieren sei, scheint zu widersprechen, dass ein Großteil der gegenwärtig erfolgreichen Literatur vor allem mit Schockästhetiken arbeitet, wobei sich gerade dies als potentes Marketinginstrument erweist.14 Die mitunter prominen­testen Bei­spiele sind die Romane des französischen Autors und enfant terrible Michel Houellebecq. Die Veröffent­lichung von nahezu jedem seiner Werke wurde von teil­weise harschen Polemiken begleitet, insbesondere sein zweiter Roman Les Particules élémentaires (1998) sowie der darauf­folgende, Plateforme (2001). Dabei stellt sich vor allen Dingen die Frage, welcher Natur der Skandal rund um die Romane Houellebecqs ist. Betrifft der Normbruch literaturspezifische Kriterien der formalästhetischen Gestaltung oder vielmehr die Ebene des Vermittelten? Auf den ersten Blick erweist sich im Falle Houel­le­becqs sicherlich das in seinen Texten inszenierte pessimistische Gesellschafts- und Menschenbild als brisant: Der Kulturpes­simismus Houellebecqs ist in seinem Werk omni­präsent und weist die Welt, wie wir sie kennen, als verderbtes, korrumpiertes Gesell­schafts­konstrukt aus, in dem das Individuum die Fähigkeit zur Liebe und Nähe verloren hat. In seinem ersten Roman, Extension du domaine de la lutte (1994) formuliert er die These, dass der Liberalismus zu einem unerbittlichen Kampf auf einer weiteren Ebene – die von ökonomischen Prinzipien bisher unberührt geblieben war – geführt habe, und zwar der der Sexualität: Es handele sich um eine Form der Merkantilisierung, die ein inkommensurables Gefälle zwischen Reich und Arm erzeuge, wobei letztere aufgrund ihres geringen (Attrak­tivitäts-)Kapitals unweigerlich vereinsamen würden. Diese negative Anthropologie liegt auch den Romanen Les Particules élémentaires, La Possibilité d’une île (2005) und La Carte et le Territoire (2010) zugrunde und findet sich durch die Houellebecq’schen Protagonisten exemplifiziert. Für die vorliegende Arbeit ist jedoch von Interesse aufzu­zeigen, inwiefern textspezifische Phänomene der Narration an der Produktion rezeptions­gebundener Schockmomente beteiligt sind. Die Prüfung textueller Emotioniali­sie­rungs­strategien erlaubt es ferner auch, im Kontext des Gesamtwerks Rückschlüsse auf deren Funktion zu ziehen. Geht es dabei um sensationalistische Publikumslenkung und strate­gische Selbstvermarktung, um die Affirmation des eigenen Autonomiestatus – oder wird die Schockästhetik dergestalt funktionalisiert, dass sie einer ethischen Reflexion zugutekommt? Die vorliegende Untersuchung hat es sich zum Ziel gesetzt, die Mechanismen aufzu­decken, die die ästhetische mit der ethischen Erfahrung verschalten, und damit eine interpretatorische Sensibilität sowohl gegenüber der formalästhetischen Beschaffenheit des Textes als auch seines Bedeutungs­gehalts zu entwickeln. Letztendlich liegt dem die Idee zugrunde, dass das Romanwerk Houellebecqs durchaus ethisch engagiert ist und fernab von postmoderner Sinnver­weigerung einen Diskurs über einen in der Gegenwart problema­tisch gewordenen Begriff anstrengt, und zwar das Böse.

Der Terminus »böse« meint in Analogie zur Polyvalenz des Begriffes »gut« das »Unheilvolle, Verderbenbringende, Zerstörerische, das Verdorbene, vor allem das sittlich Verwerfliche«, findet aber vor allen Dingen Verwendung bei der »Stigmatisierung des Krankhaften, des Untüchtigen, Schwachen, des Unangenehmen, des Unzweck­mäßigen«.15 Geistesgeschichtlich ist das Böse wiederum in der Vormoderne als ein selbst­ständiges Prinzip aufzufassen, das sich kontinuierlich im Widerstreit mit der ihm gegen­übergestellten Macht des Guten befindet; damit handelt es sich gleichwohl um eine in den metaphysischen Denkstrukturen fest etablierte Grunderscheinung der Welt, die sich in der Allegorie des Teufels personifiziert findet.16 Mit dem Erscheinen der modernen Wissen­­schaften wurde jedoch die Idee des extramundanen, metaphysischen Bösen zum Ver­schwinden gebracht. Naturkatastrophen wie das Erdbeben von Lissabon 1755 provo­zierten angesichts ihrer fatalen Auswirkungen Zweifel an der Idee einer prästabilisierten Harmonie und der Gewissheit, in der besten aller möglichen Welten zu leben, wie es Leibniz noch 1710 in seinen Essais de théodicée formuliert hatte. Metaphysikkritik, Rationalismus und Aufklä­rung sollten einen irreversiblen konzept­ualistischen Umschwung zeitigen und damit einhergehend einen neuen Begriff des Bösen, das nun zunehmend innerweltlich verortet – und somit nicht länger als eine dem Menschen entzogene, über­wirk­liche Kraft verstanden – wird. Es erscheint nun vielmehr als anthro­pologisch begründet, als eine dem Menschen innewohnende okkulte Kraft bzw. eine krankhafte, natürliche Neigung und wird damit zuneh­mend psychologisiert. Damit erweist sich auch aus heutiger Perspektive die Idee eines substantiellen Bösen17 als problematisch. Wie Kapferer beobachtet,

steht, moderner Wissenschaft zufolge, die Natur, auch wenn sie sich katastrophisch gebärdet, jenseits von »Gut und Böse«. Von »bösen Zeiten« oder von »bösen Zuständen« kann demzufolge nur mit Blick auf den menschlichen Verursacher sinnvollerweise und wissenschaftlich zulässig geredet werden [...]. In der wissen­schaftlich »entzauberten Welt« (Max Weber) der Moderne gab es sonach für »Das Böse« keine Daseinsberechtigung mehr. Vereint im wissenschaftlichen Geist der Moderne schaffen Theologie und Philosophie gemeinsam den Teufel und seine höllischen Spießgesellschaften ab.18

Wenn im Folgenden der philosophische und vor allen Dingen literaturwissenschaftliche Diskurs19 über das Böse aufgerufen wird, dann weniger in dem Bestreben, den ontolo­gischen Status des Phänomens des Bösen für die Gegenwart zu prüfen, als mit der Absicht, bestehende Theorien (vor allem über die Ästhetik des Bösen) für eine Unter­suchung ästhetischer und ethischer Qualitäten eines Textes fruchtbar zu machen.

Zur Methodik der vorliegenden Arbeit

Eine Studie zum Bösen als ästhetischem Phänomen nahm erstmals Karl Heinz Bohrer vor, wobei er sich besonders auf einen Text bezog, der diesbezüglich als paradigmatisch gelten kann: Flauberts Roman Salammbô (1862).20 Um sich also dem Begriff einer Schock­ästhetik zu nähern, wird im ersten Teil der vorliegenden Studie zunächst auf den literatur­theore­tischen Diskurs über das Böse als ästhetische Kategorie nach Karl Heinz Bohrer zurückgegriffen, welcher durch die Überlegungen Sabine Friedrichs21 und Peter-André Alts22 ergänzt wird. Bohrers Konstrukt eines ästhetischen Bösen erweist sich in diesem Zusammenhang insofern als fruchtbar, als er die spezifische Stimmung der schock­artigen Entgrenzung als ein Produkt der literarischen Imagination versteht. D.h. er sucht, die besondere Wirkmacht eines Textes auf konkrete Vertextungsstrategien zurück­zuführen, anstatt sie ausschließlich vom moralisch-ethischen Wertgehalt des Darge­stellten als Skandalon herzuleiten. Der Tatsache, dass sich die Absolutsetzung des Ästhe­tischen im Zusammenhang mit dem Phänomen des Bösen als problematisch erweist, sucht Friedrich insofern Rechnung zu tragen, als sie Bohrers Konzept mit Batailles Prinzip der Trans­gression kombiniert, um dergestalt sowohl semantische, inhaltliche Bestim­mungen des Bösen innerhalb des Textes, als auch jene literarischen Strategien, die diese ästhetisch zersetzen und defigurieren, identifizieren zu können. Auch Alt versteht das Böse nicht als gänzlich ästhetisch verschränktes Konstrukt, sondern vielmehr als Reizphänomen, dessen Wirkmacht sowohl aus seiner moralischen Transgressivität als auch seiner ästhetischen Modellierung hervorgeht: Die Strukturfiguren der Wiederholung, Trans­gression und Para­doxie scheinen in diesem Zusammenhang grundlegend für die literarische Konzeption des Bösen zu sein.

Um sich in der Folge der Frage zu nähern, welcher Beschaffenheit die Empfindungen tatsächlich sind, die das Böse als ästhetisches Phänomen bzw. eine auf Schock und Provokation ausgerichtete Schreibweise provozieren, wird das Augenmerk auf die Natur der ästhetischen Erfahrung23 und der ästhetischen Empfindungen gelenkt. Im Zusam­men­hang mit einer Theorie der Schockästhetik ist es notwendig, besonders auf jene Erlebniskategorien zurückzugreifen, die bereits in der Antike, besonders aber im 18. und 19. Jahrhundert im Kontext einer Ästhetik des Hässlichen diskutiert wurden: das Erhabene,24 den Ekel25 und das Obszöne.26 Die Theorie des Erhabenen bietet einen Ansatz, das Phänomen des Bösen in der Literatur auch aus rezeptionsästhetischer Perspektive zu beschreiben, da es sich sowohl im Fall des »klassisch« Erhabenen als auch in dem des Bösen um ein wahrnehmungs­spezifisches Grenzphänomen handelt, das den Geist des Rezipienten herausfordert, der drohenden Überwältigung durch die Sinne standzuhalten. Besonders in der Moderne wird diese wirkungsästhetische Kategorie durch weitere Paradigmen ergänzt: Allgemein kann in den Medien eine Tendenz zum Ekelhaften und Obszönen verzeich­net werden, sei es Film, Kunst, Theater oder Literatur. Hannelore Schlaffer registriert gar einen »ästhetischen Stilwandel im Zeitalter der nicht-mehr-schönen Künste«27 und führt insbesondere das Ekelhafte als kennzeichnendes Charak­teristikum der Kunst des 20. Jahrhunderts an – was sich augenscheinlich im Werk Houelle­becqs fortsetzt. Diese beiden Kategorien verbinden sich dabei nicht selten mit der Idee des Bösen, wie bei de Sade: Die obszöne Lust am Transgressiven und die dezidierte sprach­liche Vergegenwärtigung von Leid, Qualen und Gewalt provozieren gerade den für den Rezipienten erlebten Schock­moment, in dem ein moralisch-ethisch bzw. theologisch begründetes Tabu berührt wird – und damit auch die Idee des Bösen. Eine Prüfung der Erlebniskategorien des Erhabenen, des Ekels28 und Obszönen29 soll ein Dispositiv schaffen, sich dem Phänomen als einem litera­rischen, materiellen und damit auch sinnlich erfahr­baren Gegenstand anzunähern und damit seine wirkungsästhetischen Qualitäten beschreib­bar zu machen.

 

In einer Analyse der Wirkungspotentiale des »bösen Textes« erschöpft sich eine umfassende Betrachtung jedoch nicht. Geht man mit Gadamer und Ricœur30 davon aus, der Text sei letztendlich das aus einem Kommunikationsbedürfnis entsprungene Produkt, das ein Autor innerhalb einer abstrakten Kommunikationssituation an einen nicht näher bestimmten Empfänger/Leser sendet, dann muss danach gefragt werden, welcher Natur diese Botschaft ist. Dies bedeutet auch: Welche Aussage über die Welt, ihre Referenz, wird getroffen? Und damit einhergehend: Welcher Natur ist das Böse, welches im Text insze­niert wird? In einer Untersuchung, der die Wirkungsästhetik als Selbstzweck zugrunde liegt, können jene Aspekte nicht hinlänglich behandelt werden. Daher soll in dieser Arbeit nicht allein die Form Gegenstand der Untersuchung sein, sondern auch die Idee, die schließlich im Text entwickelt wird: und damit etwaige ethische Implikationen, die fern eines rein ästhetischen Konzeptes des Bösen transportiert werden. Die vorliegende Studie folgt damit grundsätzlich den Annahmen der Hermeneutik, um den im Text gegebenen Ideengehalt unter Berücksichtigung des historischen Kontexts und damit seiner außer­literarischen Referenz adäquat entschlüsseln zu können. Eine Auseinandersetzung mit dem Text, die also sowohl nach den Sinnpotentialen als auch nach der Verfasstheit des Textes (und folglich den Mitteln, mit denen der Rezeptionsakt seitens des Lesers in Hinblick auf Wirkung und Reflexion gelenkt werden kann) fragt, ist daher auch mit Isers31 Modell der Rezeptions­ästhetik vereinbar: Welcher Bedeutungsgehalt erschließt sich dem Leser und wie kann er von jenem reflexiv nachvollzogen werden? Stellt sich gar eine Form der ethischen Erfahrung ein, die dem Leser Rückschlüsse auf und Erkenntnisse über seinen eigenen Bezugshorizont erlaubt? Ziel ist es demnach, die Wirklichkeitsreferenz zu betrach­ten, d.h. die Möglichkeit ethischer Implikationen, und zudem die spezifisch literarischen Mittel aufzudecken, die eine solche ethische Lektüre befördern können.32 Dies erlaubt darüber hinaus auch, die Grenzen einer solchen Lektüre zu bestimmen, d.h. jenen Moment zu lokalisieren, an dem eine Form des »inkommensurablen Bösen« auftritt, das nicht mehr aufhebbar ist und sich damit dem von Bohrer skizzierten präsentischen Phänomen des ästhetischen Bösen annähert.

Ferner wird es für die vorliegende Arbeit notwendig sein, auf den Begriff und die Theorie des Skandals33 zurückzugreifen. Dieser lässt sich in seiner Dramaturgie als ein dem Theater nicht unähnlicher, mehrschrittiger, öffentlicher Kommunikationsprozess zwischen einem Skandaliertem, einem Skandalierer und einem Publikum beschreiben. Auslöser für einen Skandal ist dabei stets ein tatsächlich vorliegender oder lediglich angenommener Norm­bruch seitens einer Person, einer Gruppe oder Institution, welcher in der Folge publik gemacht wird und öffentliches Ärgernis erregt. Die Theorie des Skandals ist im Kontext der vorlie­genden Arbeit deswegen so fruchtbar, weil sie systematisch Aspekte, die die Wir­kungs­ästhetik betreffen, mit ethikbezogenen vereint. Nicht nur ist ein Skandal als öffentliche Insze­nierung zu verstehen, die den Mechanismen der Schaulust gehorcht, sondern er kann gleichsam als Normenbarometer fungieren, indem er aufzeigt, welche Themen und Normen im öffentlichen Bewusstsein besonders sensibel sind. Über­tragen auf die Literatur ermöglicht ein solches Verständnis von der Dynamik des Skan­dals, Rückschlüsse auf den Status der Literatur im Allgemeinen zu ziehen. Gerät ein literarisches Werk öffentlich unter Beschuss, indiziert dies einerseits, welche Art der Normverletzung vorliegt, andererseits aber auch, welchen Einfluss Literatur und Kunst generell in der Öffentlichkeit haben bzw. welchen Status sie genießen.

Zur Textselektion

Im Rahmen dieser Arbeit sollen Texte untersucht werden, die als paradigmatisch für eine »böse Schreibweise« gelten können. Im Titel dieser Arbeit sind dabei bereits wichtige Momente in der Literaturgeschichte benannt. Zunächst sollen literarische Erzeugnisse der Ecole du mal des 19. Jahrhunderts, genauer: Texte von Gustave Flaubert und Octave Mirbeau, betrachtet werden, da diese einerseits den Wandel markieren, der sich inner­halb des literarischen Diskurses über das Böse vollzogen hat: und dies sowohl auf der Ebene der Wirkungsästhetik als auch auf der des Inhalts. Die Literatur sucht, sich in Ablehnung der bürgerlichen Moral einen autonomen Bereich zu erschließen. Andererseits erlaubt eine Analyse eben dieser Texte, die Systematiken einer Schockästhetik weiter auszudif­ferenzieren, welche sich dann auf das Werk Michel Houellebecqs übertragen lassen. Somit soll zunächst am Beispiel von Gustave Flauberts Salammbô Bohrers These zum ästhe­tischen Bösen nachvoll­zogen werden. Gleichermaßen sollen jedoch auch die Grenzen einer solchen Deu­tung aufgezeigt werden – und dies auch unter Berücksichtigung von Sabine Friedrichs Überlegungen zur Imagination des Bösen. Von besonderem Interesse werden im Zuge einer textanaly­tischen Betrachtung des Gegenstandes vornehmlich auch narrato­logische Aspekte sein – insbesondere der narrateur impassible. Dabei soll aufge­zeigt werden, inwiefern die Narration bzw. die Erzählsituation und der im Text verhandelte Gegenstand interagieren und in Abhängigkeit voneinander ein spezifisch literarisches Böses hervor­bringen. Bei Flauberts Roman Salammbô handelt es sich gewiss um einen bereits umfassend diskutierten Text, für den ich in diesem Kontext keine Neuinterpretation vor­schlage. Dennoch soll der Roman die Referenzfolie für die folgenden Analysen darstellen, da die durch Bohrer und Friedrich bereits durchexerzierte Interpre­tation mit Schwerpunkt auf den ästhetischen Qualitäten des Textes gleichwohl für eben jene Dimension des literarischen Werks im Allgemeinen sensibilisiert. Doch findet sich dieser Ansatz zusätzlich durch Aspekte der narrativen Ethik sowie der Theorie des Ekels und des Skan­dals komplementiert.

Ein weiterer Text, den ich im Rahmen dieser Untersuchung in Hinblick auf thematische Schwerpunkte und Wirkungsästhetik untersuchen möchte, ist Octave Mirbeaus dekadenter Roman Le Jardin des supplices (1899). Mehr noch als Flauberts Salammbô lässt sich diesem Werk eine ausnehmend aggressive Wirkungspoetik zuschreiben, die auf den ersten Blick sämt­liche positiven ethisch-moralischen Werte in ihr Gegenteil verkehrt und im Raum des Literarischen ein neues Regime des Bösen in Kraft treten lässt. Wirkungs­ästhetisch besteht der Auftrag des Romans zunächst in der Irritation des Lesers durch eine Initiation in den Raum des Sadistischen, Obszönen und Ekelhaften. Zugleich wird aber auch eine Aus­sage über die Natur des Menschen getroffen, eine Idee des Bösen verhandelt, die als Teil der menschlichen Natur verstanden wird. Wie die Schock- und Ekelstrategien Mirbeaus verwen­det werden, um eine Reflexion philosophisch-anthropologischer Natur zu befördern, soll im Zuge dieser Analyse berücksichtigt werden.

Als Urvater der Schockästhetik kann sicherlich Alphonse-Donatien-François Marquis de Sade gelten. Sein unvollendeter Roman Les 120 Journées de Sodome, den er während seiner Gefangenschaft in der Bastille verfasste, diente als Vorlage für Pier Paolo Pasolinis letzten Film Salò o le 120 giornate di Sodoma (1975), welcher ob seiner schonungslosen Darstel­lung von Folter, Exzess und Grausamkeit zunächst bis 1978 beschlagnahmt wurde.34 Pasolini transportiert die Sade’sche Schockästhetik in das Medium des Films – welches gegenüber dem der Schrift den Vorzug hat, mehrere Sinneskanäle unmittelbar anzusprechen –, um dergestalt in aller Drastik die Anarchie der Macht vorzuführen. Die Libertinage de Sades wird ihm zur Allegorie des Faschismus und ferner des vom Konsu­mismus beherrschten Italiens. Eben diese visuelle Umsetzung einer originär literarischen Schock­ästhetik mit den Mitteln der Filmkunst wird sich insofern als beson­ders interessant erweisen, als Pasolini den modus operandi des Films bereits poeto­logisch mitreflektiert. So wie auch Sade den Leser zu einem ›empa­thisch‹ engagierten Teilnehmer an der Lektüre zu machen sucht, so stellt auch Pasolini eine Komplizenschaft zwischen dem Zuschauer und den Figuren des Films her. Eine Untersuchung des Films vor dem Hintergrund der literarischen Vorlage, auf der er basiert, soll aufzeigen, dass es Pasolini nicht nur um die Provokation des Publikums ging, sondern dass ihm dabei durchaus an der Formulierung einer ethischen Botschaft gelegen war: Das Bild, das er dabei vom Menschen, seinem Körper und seiner Sexualität sowie von gesellschaftlichen Mechanismen und Machtge­fügen zeichnet, antizi­piert dabei schon in gewisser Weise Positionen, die auch Houellebecq in seinen Romanen beziehen wird.