Ruhrpottliebe

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Ruhrpottliebe
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Lena Schätte

RUHRPOTTLIEBE

Roman


Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-865067-58-6

Originalausgabe 2014

© 2014 MARLON

Ein Imprint der Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH,

Gutenbergstr. 1, 47443 Moers

www.marlon-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung außerhalb der gesetzlich geregelten Fälle muss vom Verlag schriftlich genehmigt werden.

Umschlaggestaltung: Brendow Verlag, Moers

Titelfoto: fotolia© Fernando Cortés, fotolia© Ji Sign

Satz: Brendow Web & Print, Moers

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014

„Wenn so viele einsam sind, wie einsam zu sein scheinen,

wäre es unentschuldbar egoistisch, allein einsam zu sein.“

Tennessee Williams

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Zitat

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

Kapitel XIV

Kapitel XV

Kapitel XVI

Die Liebe in der Postmoderne

Kapitel I

„Ich höre auf diesen Bauch seit meinem 14. Lebensjahr,

und so langsam glaube ich,

dass mein Bauch nur Scheiße im Kopf hat.“

Nick Hornby

Mein Kleiderschrank ist zum Bersten gefüllt, doch kann ich nichts Brauchbares finden. Auf der Suche verteile ich alles auf dem Fußboden, Slatko scheint verlockt, sich in das riesige Nest aus frischer Kleidung zu kuscheln, aber ich scheuche ihn immer wieder weg. Seine weißen Hundehaare kleben so auf den schwarzen Sachen. In der schicken blauen Jacke vom letzten Sommer fühle ich mich wie eine Darstellerin aus einem dieser BBW-(Big-Beautiful-Women-)Pornos. Ein kurzer Blick in den Spiegel, und ich weiß: Ich fühle mich nicht bloß so.

„Wie kommst du darauf?“, habe ich gefragt, als mir meine Cousine Marie beteuerte, Johannes und ich müssten uns unbedingt treffen. Wir hätten so viel gemeinsam. Als sie ihn in einer Vorlesung an der Uni sah, habe sie direkt an mich denken müssen, wir seien beide so herrlich szenig, wie sie meinte.

Die heiße Jeans mit der gestickten Krone auf der Arschbacke geht nur zu, wenn ich mich auf den Rücken lege und ganz tief einatme. Deprimierend. Letztendlich entscheide ich mich für einen weiten braunen Zipper mit ausladendem Kragen und riesigen Taschen. Dazu eine schwarze Leggings und meine Lieblingschucks. Hundertprozentig glücklich bin ich nicht, doch ist das zumindest das kleinste Übel. Das Schminken im Bad kommt mir vor wie eine aufwendige Vorbereitungsprozedur, während der ich versuche, mich in Laune zu bringen.

Johannes und ich haben telefoniert. Nächtelang. Er ist geistreich, witzig, doch stellte sich heraus, dass sein Szenigsein darin besteht, ein antifaschistischer Skinhead in Markenklamotten zu sein, und meines darin, Buttons mit frechen Sprüchen auf meine alte Lederjacke zu pinnen.

Mit jedem Schritt in Richtung Bahnhof werde ich ein wenig nervöser. Als ich an Matheos Kneipe entlanglaufe und er mir durch die dreckige Fensterfront grinsend zuwinkt, überlege ich kurz, einfach reinzugehen und mir einen schönen Abend mit ihm in der Kneipenküche zu machen, ein paar Kakao mit Schuss einzuverleiben und Johannes einfach abzusagen. Aber ich würde es bereuen, so viel ist klar. Vielleicht ist Johannes die Liebe meines Lebens, und ich versäume seine Bekanntschaft wegen Billig-Rums in Kakao in der engen Durchgangsküche meines metrosexuellen besten Freundes. Das könnte ich mir nie verzeihen. Also schmeiße ich Matheo ein Luftküsschen zu und laufe weiter.

Der Zug wartet schon am Gleis, als ich durch die Unterführung renne. Das Abteil ist leer – bis auf ein paar Männer, die aussehen wie ehrgeizige Informatikstudenten und über einem Laptop mit Riesendisplay große Augen machen. Wie lange habe ich mich auf diesen Tag gefreut? Wann immer ich mit Prickeln im Bauch in meinem heizungswarmen Schlafzimmer hockte und gebannt das Telefon an mein Ohr presste, habe ich mich gefragt, wie es sein würde. Aber jetzt gerade vergeht mir all die Vorfreude und lässt nur Platz für Nervosität und Schiss. Was, wenn er ganz anders ist, als ich ihn mir vorstelle? Und noch viel wichtiger: Was, wenn ich ganz anders bin, als er sich mich vorstellt? Gelogen habe ich nicht, höchstens hier und da die Wahrheit ein bisschen strapaziert. Na gut, hin und wieder, wenn er von einer hippen Band anfing, googelte ich schnell und warf dann Sätze aus Musikkritiken ein. Das könnte sich jetzt rächen. Auch dieses ganze Skinhead-Ding habe ich noch nicht völlig verstanden. Ich habe mir sogar ein Buch zum Thema gekauft, wirke mittlerweile recht eloquent, aber warum alle Skins gleich herumrennen, die einen aber rechts und die anderen links, andere Antifas und wieder andere unpolitisch sind und man nur an den Schnürsenkeln erkennt, wer zu wem gehört, habe ich noch immer nicht durchschaut.

Von Haltestelle zu Haltestelle wird es endgültiger. Als der Zug am schwarz-gelben Stadion hält, das über den kleinen Bahnhof ragt, pocht mein Herz wie wild. Noch eine Haltestelle. Ein letzter Blick in den kleinen Handspiegel aus meiner Tasche, mit dem ich mir beinahe tussig vorkomme, und ich fahre in den Großstadtbahnhof ein. Dortmund liegt im Scheinwerfer der Laternen ungewohnt ruhig da, nur das Trampeln der Füße meiner Mitreisenden, wie ein stiller Trommelwirbel, ist zu hören. Auf dem überfüllten Bahnsteig legt mein Herz beim Pochen noch einen Zahn zu. Boom, boom … Durch die Unterführung in die Bahnhofshalle. Boom, boom, boom … Ich husche an all den Zeitschriftenläden vorbei, in denen Touristen aberwitzige Postkarten mit rußbeschmierten Zechearbeitern kaufen, in der einen Hand eine Grubenlampe, in der anderen eine Pulle Bier, dickbäuchig einen flachen Spruch in eine Sprechblase drückend. Die dümmlichen Blicke der Frau am Brötchenstand, wo es Käsestullen so teuer wie Goldklunker gibt, folgen den Vorbeilaufenden. Mein Blick schweift durch das Gebäude. Viele Jugendliche mit Einkaufstüten schwirren umher. Boom, boom, boom … Ein Rentnerpärchen steht mit riesigen schwarzen Koffern vor den Abfahrtsplänen. Boom, boom … Als ich inmitten der Menschenmenge stehe und etwas Mühe habe, mich nicht mitziehen zu lassen, sehe ich sein Gesicht. Er sticht heraus, sein Kopf liegt einige Zentimeter über dem Getümmel.

Das ist er also. Nicht mehr bloß eine Stimme am Telefon, ein Gesicht auf einem Foto oder einem Facebookprofil, sondern ein realer Mensch, der mit leicht gequältem Grinsen beobachtet, wie ich auf ihn zuschreite und ihn bereits analysiere. Mit seinen Hosenträgern auf Anschlag, dem Emblem des arschteuren Fred-Perry-Hemds – wie ein stolzes Etikett auf die Brust getackert –, den auf Hochglanz polierten DocMartens sieht er aus, als habe er jedes billige, unaufgeklärte Klischee seiner Subkultur in eine Badewanne geschmissen, das Ganze mit Zuckerguss vermengt und sich dann stundenlang genüsslich darin gewälzt. Ich komme mir unszenig neben ihm vor.

„Naaa“, begrüße ich ihn gekonnt lässig, stelle mich auf die Zehenspitzen und umarme ihn flüchtig. Er lächelt nicht. Er sieht mich nicht mal richtig an. Vielmehr schaut er über meinen Kopf in die Halle.

 

Boom, boom, boom, boom …

„Hey! Wie war die Zugfahrt?“, beginnt er schließlich einen klassischen Small Talk und klopft mir mit betonter Unverbindlichkeit auf die Schulter, als sei ich ein alter Kumpel vom Fußball. Wir laufen durch die menschenleere, dunkle Stadt. Sie liegt so verlassen da, wie ich sie nie zuvor gesehen habe, und ich versuche Schritt zu halten. Gelegentlich werfen wir uns musternde Blicke zu. Ich haste ihm hinterher, als wir die Stufen zu seiner gefühlt im 127. Stockwerk liegenden Studentenwohnung erklimmen. Hinter der schweren roten Wohnungstür eröffnet sich mir eine zusammengewürfelte, mit Stickern und Postern zugeklebte Wohnung, die ebenso gut zu Johannes passt wie sein Outfit. Parolen wie Goodnight white pride und Nazis raus brüllen mir von den untapezierten Wänden entgegen. Hunderte Bücher und Filme stapeln sich in den Regalen, und es hat eher etwas von einem Randgruppenmuseum als von einer Studenten-WG. Er manövriert mich hinüber zu der kleinen Couch, dessen ranzige Sitzfläche aussieht, als habe in ihr schon halb China gesessen.

„Magst du was trinken?“, fragt er, während er durch das kleine Zimmer streift.

„Klar.“

Zack, halte ich eine Flasche Bier in der Hand. Es ist bitter.

Nicht mein Ding. Aber ich nippe und lächle zufrieden. Während Johannes seine Small-Talk-Orgie kontinuierlich weiterzelebriert, taucht sein Mitbewohner auf. Ohne meiner Anwesenheit Aufmerksamkeit zu schenken, wendet er sich an Johannes:

„Sag mal, wann hast du morgen Vorlesung beim Niedermeier? Kann ja nicht sein, dass dieser Schmalspurpädagoge drei Mal am Tag über dasselbe Thema referiert, und ich‘s mir auch noch drei Mal anhöre!“

Er sieht nicht nur aus wie ein verrückter Professor, sondern beginnt auch prompt, in The Big Bang Theory-Manier vor sich hinzudebattieren, worauf Johannes direkt einstimmt, und so beginnen sie, sich über ihre Dozenten auszulassen und wie wild mit Fachtermini um sich zu schmeißen.

„Die Exmatrikulation von unserer Fakultät hat sich das Arsch durch den überflüssigen Härtefallantrag praktisch persönlich abgeholt. Der hat sich auch immer angestellt. Schon alleine bei den Kolloquien!“, kichert der Mitbewohner aus dem Türrahmen.

Wie ich die beiden so betrachte, kann ich mir nur schwer erklären, wie sie friedlich nebeneinanderleben können. Johannes, beinahe eine Kunstfigur, der Mitbewohner ein kleiner, fetter, haariger Hobbit. Ob es eine gute Idee war, sich hier zu treffen? Anfangs noch beeindruckt, dann aber schnell genervt von einem Gefühl der Dummheit und Überflüssigkeit, das sich von Minute zu Minute penetranter in meinem Kopf breitmacht, bin ich erleichtert, als der Mitbewohner mit dem Frettchengesicht endlich das Zimmer verlässt.

„Du wirst also auch von Basti tätowiert?“, beginnt Johannes, bereit, die einzige konkrete Gemeinsamkeit, die wir bis jetzt gefunden haben, auszuschlachten, um der Stille keine Chance zu geben.

Ich nehme dankend an. „Ja. Also bis jetzt hab ich erst eins von ihm, aber es wird ausgebaut. Kommt Geld, kommt Farbe“, grinse ich. Und so beginnen wir ein peinlich detailliertes Gespräch über unseren gemeinsamen Tätowierer, über seine Art, beim Tätowieren wirres Zeug vor sich hin zu faseln, um zu vermeiden, dass sich seine Kunden zu sehr auf den Schmerz konzentrieren. Schon erweitert sich unser Gesprächsthemenkreis um Tattoos, Festivals, Konzerte, Musik, den Ruhrpott und Markenklamotten. Er ist ein angenehmer Gesprächspartner, weil er viel von sich selbst erzählt, ohne dabei zu sehr die einengende Selbstdarstellungsschiene zu fahren. Und ich, der ich eh jemand bin, der Zeit braucht, um locker zu werden, kann einfach dasitzen, seinen Worten lauschen und mich mehr und mehr lockern.

Bald verschwindet das boom, boom, boom in meiner Brust.

„Lust zu shishaen?“, fragt er irgendwann und baut eine kleine Wasserpfeife auf dem wackelnden Couchtisch zusammen.

„Nein, danke … steh ich nicht so drauf.“

„Warum?“ Mit seinen endlos langen und dünnen Fingern wickelt er fast liebevoll Alufolie um den Kopf der Pfeife.

„Ich finde immer, nur der erste Zug schmeckt gut. Danach ist es dann bloß Resterauchen.“

Er kichert. Das Glasgebilde schaukelt gefährlich auf seinem Schoß hin und her, als er es sich zwischen die Knie klemmt und beginnt herumzufackeln.

„Ach, dann hast du noch nie was Gutes geraucht.“

Ich beobachte ihn bei seinen Bastelarbeiten. Langsam nervt mich der Oldschool-Hip-Hop, der von den kleinen Computerboxen herüberströmt. „Fuck!“, brüllt Johannes plötzlich und zeigt auf eine kleine Flamme auf der Couch. Niemand von uns hat bemerkt, wie kleine Funken auf die tiefergelegte Couch gesprungen sind und sich durch den Bezug ins Innenfutter gefressen haben. Ich krieche ein Stück weiter zur Lehne, während er nervös mit den Händen in der Luft herumwirbelt, anscheinend nicht wirklich wissend, was zu tun ist. Anfangs belustigt es mich sehr, bis er sein Bier packt und es in einem eleganten Bogen in die Flamme kippt – und über meinen Bauch und meine Knie. Heldenhaft.

„Oh, sorry“, murmelt er und schmeißt mir ein ranziges Handtuch zu.

Noch eine Weile sitzen wir auf der nassen Couch, und er spricht. Ich schenke dem Inhalt seiner Rede kaum Gehör und schaue nur, wie er dasitzt, seine riesigen Füße in blauen Wollsocken auf dem Couchtisch, mich beim Reden geradezu wie gebannt anstarrend. Mit dem boom, boom, boom ist auch jedes Kribbeln verschwunden.

Letztendlich sind wir doch alle Marionetten, die keinen Einfluss drauf haben, von wem sie sich angezogen fühlen und von wem nicht, rauscht ein Satz aus der Zeitschrift im Wartezimmer meines Hausarztes durch meinen Kopf. So verdreht das Ende, was der Anfang versprach.

Irgendwann beschließt Johannes, offensichtlich zu demselben Schluss gekommen, dass es Zeit sei, ins Bett zu gehen, es wäre ja auch schon sehr spät. So verschwinde ich mit meiner Tasche ins winzige, ebenso zugeklebte Bad und hänge mich über mein Handy. „Lagebericht: Wir benehmen uns wie Brüderchen und Schwesterchen, und die Utopie vom heißen, hemmungslosen Sex hab ich bereits begraben“, schreibe ich Carmen den obligatorischen ironischen Zwischenbericht, den ich ihr versprochen habe, putze meine Zähne und gehe wieder zurück ins Zimmer.

„Warum schreibst du mir?“, raunt mich Johannes an, der auf dem Bett sitzt und ebenfalls über seinem Handy hängt. Sein Gesicht ist auffällig gerötet.

„Hä? Ich schreib dir nicht“, antworte ich und krame in meinem Rucksack, als ich mit leichter Verunsicherung bemerke, wie mir sein Blick durchs Zimmer folgt.

„Doch klar. Jetzt gerade!“

„Nein.“

„Doch! Zwischenbericht …“ Prompt schießt mir das Blut in den Kopf, noch bevor Johannes fertig rezitiert hat. Ich muss beim Absenden der SMS nicht richtig hingeguckt haben. Das boom, boom, boom in meiner Brust ist wieder da, nur lauter und aggressiver.

„Ööhh“, kommt es so aus mir raus. Was soll ich nun noch sagen? „Die war eigentlich nicht für dich bestimmt, sondern für meine beste Freundin, mit der ich immer Späße über heute gemacht habe.“

Ein Lachen macht sich in Johannes’ Gesicht breit, doch beschleicht mich das ungute Gefühl, dass es eher ein abfälliges Über-mich-, als ein lockeres Mit-mir-Lachen ist.

„Bin ich dir zu langsam? Sollte ich dich lieber anspringen und dir die Kleider vom Leib reißen?“

„Nein, äh …“, stammele ich vor mich hin. Es ist zu spät. Das Zeitfenster, in dem aus dem Ganzen ein positiv-witziger Moment hätte werden können, hat sich geschlossen, und nun sitzen nur noch zwei Fremde in einem kleinen vollgestopften Zimmer nebeneinander, wissend, dass sie einander nach diesem Treffen zwar nie wiedersehen wollen, dank der nächtlichen Regionalbahnpause aber noch die Nacht miteinander verbringen müssen. Noch einige Minuten unterhalten wir uns über Kram, der belangloser als das Wetter ist, er beäugt mich und sieht dabei ein wenig wütend aus. Bald eröffnet er mir auch, dass wir im selben Bett schlafen müssen, da die Couch ja nun aus geschmolzenem Polster und Biermief besteht. Na, Jackpot. Ohne weitere Unterhaltungen betten wir uns nebeneinander in Johannes’ quietschende Ikeakonstruktion, so weit voneinander weg, wie es möglich ist, und schon ist er eingeschlafen. Ich liege noch Stunden wach, lausche seinem Atem und hasse mich selbst für das Fettnäpfchen, in das ich heute mit Anlauf gesprungen bin. Hin und wieder berühren sich unsere Knie, er spricht im Schlaf, und ich muss fast darüber lachen, wie sehr sich diese Situation von meinen romantischen Erwartungen unterscheidet.

Am nächsten Morgen steht er auf und zieht sich im Halbdunkel um. Als er mich noch kurz betrachtet, presse ich die Augen zu, tue, als ob ich schlafe, um den Abschiedsfloskeln zu entgehen. Dann verlässt er die Wohnung in Richtung Uni. „Kannst ja dann einfach noch ein bisschen weiterschlafen, im Kühlschrank ist provisorisches Frühstück, und wenn du gehst, zieh bitte die Wohnungstür richtig zu“, sagt er noch.

Ich verzichte auf das Frühstück, will ich doch dem Frettchengesicht nach Möglichkeit nicht über den Weg laufen. Im Bad setze ich eine Mütze auf, die das Elend auf meinem Kopf verdeckt. Ein bisschen Seife und Creme, und mein Gesicht sieht gar nicht mehr so furchtbar müde aus. Als ich zurück in sein Zimmer komme, um meine Tasche zu holen, werfe ich noch kurz einen Blick auf seine Gitarre, die in der Ecke steht. Sie sieht alt und verschlissen aus, ist mit Mad-Caddies-Stickern überzogen.

Rein theoretisch liegt der Bahnhof nicht mal einen Kilometer von Johannes’ Wohnung entfernt, doch so im morgendlichen Nebel, mit der Scham über den SMS-Fauxpas, wird die Stadt zu einem einzigen Labyrinth aus Nebenstraßen, irreführenden Schildern und Fußgängern, die selbst nicht so recht zu wissen scheinen, wo sie sich gerade befinden. Als ich endlich die Innenstadt erreiche, haben die Marktleute schon ihre Stände aufgebaut. Es riecht wie in einem übergroßen, dreckigen Kühlschrank, in dem sich auf altem Käse, stinkendem Fisch und China-Plastik Kulturen bilden. Ein älterer, dunkelhaariger Typ pfeift mir hinterher, und ich habe Lust, umzudrehen, mit Anlauf auf ihn zuzurennen, ihn umzustoßen und mich dreckig lachend auf sein Gesicht zu setzen.

Ich schlage noch etwas Zeit in der mehrstöckigen Buchhandlung an der Ecke tot, kaufe mir eine sündhaft teure Johnny-Cash-Biografie, doch das tröstet auch nicht.

Als ich wieder auf die Einkaufsmeile trete, höre ich zwei Läden weiter eine Tattoomaschine surren. Kurz überlege ich, spontan reinzuspringen und mir ein neues Tattoo stechen zu lassen. Obwohl, stechen nennt man das ja nicht mehr, hacken sagt die moderne Arschgeweih-und-Sternchen-Fraktion heute dazu. Ein Ufo, ein Glücksbärchi oder ein qualmender Hundehaufen. Irgendwas Selbstironisches. Aber so ein Frust-Tattoo macht auf Dauer wahrscheinlich auch nicht glücklich.

Die Regionalbahn lässt auf sich warten, aber irgendwann zieht die Welt dann doch durch das zerkratzte Zugfenster an mir vorüber. All die Städte, wie Bilder aus einem hässlichen Bilderbuch. Menschen, wie schlecht bemalte Miniaturpüppchen, die man mit einem Schnipser von Daumen und Zeigefinger kilometerweit fliegen lassen könnte.

Kapitel II

„Sollten wieder Herzen schnitzen –

wenn du noch Holz findest, Baby.“

Pascal Finkenauer

Ich trage einen beigen Rock, dazu eine braune Bluse und komme mir tierisch seriös vor, als ich die Treppe zum Büro erklimme. Jolie, die bildschöne Französin, die mir die Praktikumsstelle besorgt hat, wartet bereits auf mich.

„Schön, dass du da bist. Willkommen!“, begrüßt sie mich herzlich und zieht mich in eine enge Umarmung.

„Vielen Dank“, lächle ich freundlich.

„Ich kümmere mich die kommenden 14 Tage um dich. Du begleitest mich einfach, greifst mir ein bisschen unter die Arme, und ich erkläre dir so das eine oder andere“, erklärt sie und drückt ihre Kippe unter einer ihrer braunen Sandalen aus. Dabei wackeln ihre großen roten Perlenohrringe wild neben ihrem Gesicht.

„Super!“

Ich folge ihr ins Haus. Alle Büroräume sind von oben bis unten mit blauem Teppich betackert, was dem Ganzen den Flair eines christlichen Kindergartens gibt. Ich bekomme meinen eigenen Schreibtisch, gegenüber von Herrn Deits Platz. Herr Deit sitzt im Rollstuhl, sieht aus wie Mr. Bean, und ich scheine ihn ein wenig nervös zu machen. Immer wenn ich hochsehe, starrt er an seinem Desktop vorbei zu mir herüber und zuckt vor Schreck zusammen, wenn ich zurückstarre.

Die Chefin ist klein und sieht aus wie ein Serienstar aus den Achtzigern. Passend zu ihrem Vokuhila trägt sie an jeder Hand mindestens drei goldene Ringe und lange blaue Gelfingernägel. In der Kippenpause begutachte ich die Miniatursterne aus Glitzersteinen, die darauf aufgeklebt sind. Die Pfennigabsätze ihrer Schuhe kündigen sie an, wann immer sie den Gang hinunterschreitet, und das trotz Kindergartenteppich. Ich schätze, sie sind nicht bloß ein modisches Accessoir, sondern Mittel zum Zweck, denn ohne sie könnte Frau Rein wahrscheinlich nur knapp über die Tischkante ihres Schreibtischs sehen.

 

Sie hat den Laden im Griff. Obwohl sie im Grunde sehr nett zu sein scheint, kuschen alle vor ihr und begegnen ihr mit Ehrfurcht. Ihre Bürotür steht immer offen, und so hören alle, wie sie regelmäßig hitzig diskutiert. Dabei schaltet sie immer den Lautsprecher ein und schreit aus dem Stand in das Telefon.

Jolie scheint keinen besonders harten Job zu machen, sie tippt hin und wieder eine E-Mail, führt Telefonate und geht im Zwanzigminutentakt nach draußen, um zu rauchen. Der Betrieb stellt Trainingsgeräte für Sportler mit körperlicher Behinderung her und liefert sie in schicken lila Vans. Es arbeiten viele Rollstuhlfahrer und anderweitig behinderte Menschen im Bürotrakt. Integrationsbetrieb nennt sich so etwas, erklärt man mir. Das Ganze scheint zumindest mittelmäßig erfolgreich zu sein, es wird in Schichten gearbeitet, einen Großteil der Belegschaft lerne ich deswegen nicht kennen. Wenn ich mein tägliches Pensum an Abtipparbeiten erledigt habe, gehe ich ins zweite Obergeschoss zu Jolie. Sie teilt sich ein kleines Büro mit einem Spanier namens Juan. Juan ist eigentlich ein hübsches Kerlchen, doch kann er niemandem ins Gesicht sehen, was ihn zu einem verklemmten Zeitgenossen macht.

„Kannst du mir einen Gefallen tun?“, fragt mich Jolie am dritten Tag, als es zum ersten Mal so aussieht, als habe sie Stress. „Ja, natürlich. Was denn?“

„Kannst du diese Telefonliste abarbeiten … das sind alles Fahrer!“ Sie reicht mir ein abgegriffenes Blatt Papier mit Kaffeeflecken herüber. „Die müssen morgen alle eine Stunde früher da sein. Meeting!“

„Alles klar.“

Ich schleiche ins leere Nachbarbüro und setze mich ans Telefon. Beim ersten Namen auf der Liste geht niemand ran. Beim zweiten meldet sich eine Frau mit rauer, versoffener Stimme und erklärt mir, dass sie vor dem Dienstantritt erst noch ihre Katze Schröder zum Tierarzt in die Altstadt bringen müsse, da er einen Miniatur-Obelix aus einem Ü-Ei verschluckt habe und seitdem pausenlos auf die Fliesen kotze. Zum Glück seien es nur Fliesen, die könne man ja abwischen, betont sie. Als sie beginnt, mir die Dos und Dont‘s der Katzenkloreinigung zu erläutern, wimmle ich sie mit „Ich bin eher so der Hundemensch“ ab und verabschiede mich. Bei Nummer drei begrüßt mich eine pseudowitzige Mailboxansage: „Heeeeeey joooooo, wer stört? Ich bin gerade nicht am Start, also leave a message nach dem Toooon!“ Hinter dem vierten Namen verbirgt sich eine weiche Männerstimme. Nachdem ich meinen Text um das Meeting vor dem Dienstantritt heruntergebetet habe, kommen wir ins Gespräch.

„Tschuldigung, wenn ich so doof frage, aber kennen wir uns?“ Ich kann mir zu der Stimme so gar kein Gesicht vorstellen.

„Wir kennen uns nicht, weil sich unsere Schichten überschneiden. Wenn ich gerade gegangen bin, kommen Sie. Ich bin die neue Praktikantin.“

„Sie? Ben heiße ich.“ Er lacht. Ich mag seine Lache, sie ist weich und angenehm. Nicht so aufdringlich wie die vom Mr.-Bean-Verschnitt Herrn Deit.

„Okay, Ben. Dana.“

„Wie gefällt es dir bei uns?“

„Gut, gut.“

„Mit wem arbeitest du?“

„Jolie.“

„Uh, Glück gehabt.“

„Was soll das denn heißen?“, kichere ich, und er stimmt ein.

„Schon mal gesehen, wie sich Frau Rein vor dem Telefon aufstellt?“

„Oh ja!“

„Dann sei mal froh, nicht bei der gelandet zu sein!“

Noch einige Minuten berichtet er mir vom Treiben in der Nachtschicht, wie locker alle seien. Nur das Arbeiten an den Samstagen gefalle ihm nicht sonderlich, das ließe sich schlecht mit seinem Freizeitprogramm vereinbaren.

„Ich würde ja gerne weiterquatschen, aber wenn ich nicht langsam zurück zu Jolie gehe, sucht sie mich bestimmt bald.“

„Ja, klar. Wäre schön, wenn man sich vielleicht doch mal über den Weg läuft.“

„Ja, das wäre es.“

„Mach‘s gut.“

„Du auch. Ciao.“

Als ich mich von dem Bürostuhl schwinge, ist mir ein wenig flau im Magen. Netter Typ. Beim Überqueren des Flurs fällt mir zum ersten Mal ein großes gerahmtes Bild auf. Betriebsausflug ins Schokoladenmuseum steht in roten Lettern darunter.

„Wir haben jetzt Pause … uh, schlimmes Foto“, stößt Jolie hinzu.

„Wer ist das?“, deute ich mit dem Finger auf einen Schönling in der ersten Reihe. Er sieht aus wie Brian von den Backstreet Boys. Schön anzusehen, aber wer will schon neben so jemandem aufwachen? Da muss man mindestens eine Stunde früher aufstehen, sich pudern, schminken, die Locken legen, sich mit betörendem Parfüm besprühen und in Formschön-Unterwäsche schmeißen, um sich nicht völlig hässlich vorzukommen, wenn er dann die Augen aufschlägt und einen mit seinem makellosen Boybandgesicht ansieht. Zu schön ist eben auch nicht gut.

„Max.“

„Und der?“ Ich deute auf einen kleinen Mann in der ersten Reihe.

„Peter.“

„Und der?“ Mein Finger klebt auf einem großen Typen in der hinteren Reihe.

„Mann, du bist ja neugierig“, meint sie grinsend. „Ben! Lass uns zum Bäcker ums Eck gehen.“

Und schon rauscht sie davon.

Ich bleibe noch einige Sekunden stehen und betrachte ihn. Er scheint überdurchschnittlich groß, sein Gesicht thront ein gutes Stück über all den anderen. Er grinst breit von einer Backe zur anderen. Auf einer seiner ausladenden Schultern hängt lässig der Träger eines Rucksacks. Das schwarze Shirt flattert ein wenig zu groß an ihm herunter.

„Kommst du?“, schallt Jolies Stimme vom Treppensims herüber, und ich folge.

Die Bäckerei ist klein, die warme Luft stagniert, und an der Scheibe tummeln sich einige verirrte Bienen. Jolie zuckt jedes Mal, wenn eine in ihre Richtung fliegt. Sie ist so hübsch, es ist beinahe unsympathisch. Neben ihr wollte ich noch weniger aufwachen als neben Brian von den Backstreet Boys. Wie eine Barbiepuppe sitzt sie perfekt drapiert da, erzählt von ihrem lässigen Fußballerfreund und ihrem Gebrauchtwagen mit extraflauschigen Sitzbezügen.

Als ich heimkomme, wartet meine beste Freundin Carmen schon vor der Haustür. Wie immer, wenn ich sie nach der Frühschicht antreffe, trägt sie ein übergroßes weißes Shirt, das heute Morgen wahrscheinlich noch gestrahlt hat, aber jetzt mit allerlei Krankenhaussekreten besprenkelt ist. Die weiße Hose ist genauso schmuddelig. Die braun gefärbten Korkenzieherlocken hat sie zu einem strengen Dutt gebunden, die blassen Ohrläppchen baumeln schmucklos herum. Sie sieht immer ein bisschen kränklich aus, so ganz ohne Schminke, mit den hellblauen Augen und der schneeweißen Haut. „Hat Mama dich nicht reingelassen?“, frage ich, während ich ihr einen Kuss auf die Wange drücke und die Tür aufschließe.

„Ihr habt ja keine Klingel, ihr Hinterweltler!“

„Das hat uns schon jede Menge Sternensänger, Vorwerkvertreter, Klingel-Missionare und anderes Gesindel erspart.“

Wir hinterlassen unsere Schuhe wild verteilt auf dem roten Teppich am Eingang und gehen direkt rüber in mein Zimmer. Es sieht schrecklich aus, überall ist Kleidung und Papiermüll verteilt, doch vor Carmen muss ich mich zum Glück für nichts schämen. Sie rupft sich das Pflegekraft in Ausbildung, Carmen Rotblatt-Schild von der Brust und lässt sich auf meine Couch sinken.

„Ich hab Sachen zum Cocktailsmixen mitgebracht“, verkündet sie und verteilt einige Limetten, ein Paket mit braunen Brocken Zucker und eine Flasche Schnaps auf der Couch. Ich steuere einige Säfte und ein Brett bei, auf dem sie die grünen Früchte liebevoll in Scheiben schneidet.

„Ich hab eine Idee!“, verkündet Carmen, nachdem sie das Ganze in zwei extragroße Gläser mit Zuckerrand verfrachtet hat. „Ich bin auf einer Internetplattform für Singles angemeldet.“

Ich stöhne genervt, denn ich weiß, was als Nächstes kommt.

„Und ich dachte“, sie beugt sich herüber zu mir und legt ihren Kopf spielerisch auf meine Schulter, wie ein kleines Mädchen bei seiner Lieblingskindergärtnerin, „… wir nehmen die Baustelle mal so richtig in Angriff.“

„Hast du mein Liebesleben gerade mit einer Baustelle verglichen?“

Sie richtet sich wieder auf.

„Ja, aber so eine, auf der das Geld knapp geworden ist. Es spielen zwar noch ein paar Nachbarskinder im Schutt, aber sonst tut sich da nix mehr! Du meldest dich da einfach an, triffst dich vielleicht mit wem, und wenn nicht, dann eben nicht.“

„Da sind doch eh nur arme Schweine und Freaks!“

„Na, danke.“

„So war das nicht gemeint.“

„Komm schon.“

„Naaa gut“, gebe ich mich geschlagen, denn ich weiß: Sie wird eh nicht aufhören zu nerven, bevor sie ihren Masterplan durchgesetzt hat. Freudig springt sie von der Couch und holt meinen Laptop. Das blaue Design der Seite brennt in meinen Augen, und der billige Elektro aus dem chateigenen Internetradio, in dem ein Typ namens Kenny mit penetrant greller Stimme immer wieder Grußnachrichten à la Mandy grüßt ihren Sebastian und lässt ausrichten, dass sie ihn ganz doll liebt! vorliest, nervt mich schnell.

„Wie bist du darauf gekommen?“

„Ach, ich bin nachts vorm Fernseher eingeschlafen, und als ich wieder aufgewacht bin, lief da diese Werbung.“

„Klingt ja vielversprechend! War da zufällig auch eine nackte Frau mit Klebesternchen auf den Nippeln, die gestöhnt hat, deeeutsche Määänner, ruuufen a‘?“