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LENA MÜLLER

RESTLÖCHER

ROMAN


Die Autorin dankt dem Berliner Senat für das Arbeitsstipendium Literatur 2017.

Zitierte Werke:

Hildegard Heise: Flucht vor der Widersprüchlichkeit. Kapitalistische Produktionsweise und Geschlechterbeziehung, Frankfurt/M. 1986

Kollektiv: EL AMOR Y LA MUERTE EN EL DESIERTO, Berlin (West) 1987

Franz Josef Degenhardt:

Deutscher Sonntag, 1965

Edition Nautilus GmbH

Schützenstraße 49 a

D-22761 Hamburg

www.edition-nautilus.de

Alle Rechte vorbehalten

© Edition Nautilus 2019

Originalveröffentlichung

Erstausgabe März 2021

Umschlaggestaltung: Maja Bechert, Hamburg

www.majabechert.de

1. Auflage

E-Book-ISBN 978-3-96054-250-6

Sie verstehen nicht, was Zeit ist. […]

Sie behaupten, die Vergangenheit sei vorbei, die Zukunft nicht real,

es gebe keine Veränderung, keine Hoffnung.

Ursula Le Guin (1974)

I

Wer viel erreicht, kann viel erwarten. Sando schaut aus dem Fenster, sieht, wie Birken gefällt und Sandhügel abgetragen werden. Wie eine Grube ausgehoben wird, größer als drei Fußballplätze. Darüber das Schild und der Spruch. Sando sieht, wie Probebohrungen gemacht werden, weil alte Minen befürchtet werden. Spürt, wie die Wände seiner Wohnung wackeln, als das Loch tiefer gegraben wird. Sieht, wie Bauarbeiter mit Bewegungen, die ihm athletisch erscheinen, den Boden der Grube mit Beton ausgießen und darüber Gitterkonstruktionen anbringen, die dann ebenfalls mit Beton übergossen werden. Wie die Bauarbeiter auf diese Weise Wände in die Höhe ziehen. Wie sie Stockwerk auf Stockwerk setzen. Vom frühen Morgen bis zum Abend drehen sich die Kräne. Und das Schild, das nachts leuchtet: Freuen Sie sich auf 42 neue Eigentumswohnungen. Jetzt reservieren. Wer viel erreicht, kann viel erwarten.

Letzteres in hoffnungsvollem Blau und schwungvoller Schrift, eine Art Essenz des Ganzen – der Grube, Umwälzungen, unternommenen Anstrengungen. Und weil Sando ständig rüberschaut, liest er auch das Schild über die Wochen viel zu oft. Wer viel erreicht, kann’s kaum erwarten. Wer viel erreicht, hat kaum gewartet. Wer viel erwartet … Ähm ja.

Sieht zu, wie große Fenster eingebaut, wie die Außenwände eierschalenweiß verputzt und unten im Erdgeschoss verklinkert werden. Ein robustes Gebäude auf sandigem Grund. Eine Kreissäge wird am frühen Morgen angeworfen und kreischt bis in den Nachmittag. Sando hat den Eindruck, nicht mehr richtig denken zu können. Ihm ist, als habe er viele Monate nichts getan als zuzuschauen, wie die Bauarbeiter ihre Arbeit machen.

Was nicht ganz stimmt: Er ist durch die Stadt gelaufen wie jemand, für den Zeit keine Rolle spielt, geradezu enervierend langsam durch die Gänge der U-Bahn, die anderen in ihrem Lauf ausbremsend. Er tut, als sei er für diese an sich naheliegende Sache unempfänglich, für eine Schrittgeschwindigkeit, die sich anbietet, sich aufdrängt. Er schleicht, wo es nichts zu sehen gibt, wo es stinkt, durch die vielgeatmete Luft, als habe er die Ewigkeit gepachtet, als wären diese Gänge sein Lustgarten. Denkt daran, dass der Fuchs dieselbe Luft atmet wie er. Denkt dann, dass Hunderttausende Menschen dieselbe Luft atmen. Fragt sich, wie sie es angehen, wie sie Schritt halten. Viele schaffen es, auch unter schwierigen Bedingungen. Manche haben Verluste und gebrochene Herzen im Gepäck oder führen eine Schwermut mit, eine von Generation zu Generation weitergegebene, die Zeiten und Lebensumstände überdauernde, anpassungsfreudige Schwermut, tragen sie durch die Stadt, Schwermut aus aller Welt, eine Art weltumspannende Traurigkeit. Manche können sich besser abfinden. Geben weniger auf Vergangenes, wer weiß. Er weiß es nicht. Aber ihm scheint, dass dieses Ende, das Ende vom Fuchs, vom Leben mit dem Fuchs, unerklärlich ist, und in diesem unerklärlichen Zustand tut er: nichts. Nicht viel. Prüft die Dicke der Eisschicht auf dem Wasser mit den Augen, wartet, dass sie schmilzt und die Dinge auf dem Eis versinken, der Einkaufswagen, der Fernseher, die Zimmerpflanze ohne Topf. Sieht, wie ein Mann sich mit einem Mülleimer bespricht. Der Mund des Eimers weit geöffnet, Mann und Mülleimer sich auf Augenhöhe begegnend, einander zugeneigt. Der Wunsch, es ihnen gleichzutun. Die Angst, es ihnen gleichzutun. Immer beides gleichzeitig. Schläft schlecht, schläft wenig, wird früh wach. Sieht durchs Fenster in den Morgenhimmel. Riecht, als es wieder Frühling wird. Als an einem frühen Morgen die ersten neuen Nachbarn auf ihrer Dachterrasse stehen, ruft Mili an.

»Sando?«

»Ja, am Apparat.«

Sie fragt, wie es ihm geht. Bestens. Pause. Er hört sie einatmen und findet Gefallen daran, sie zu hören. Dann spricht sie weiter.

»Gestern hatte ich Dieter am Telefon.«

Sando meldet sich selten bei den Eltern, Dieter und Clara, er könnte selbst nicht sagen warum. Oft hat er ein schlechtes Gewissen, immer hofft er, dass sie zufrieden sind und ihn nicht brauchen.

»Clara ist weg.«

»Weg?« Sando setzt sich auf, plötzlich hat er den Eindruck, als würde Haltung eine Rolle spielen beim Aufnehmen dieser Nachricht.

»Als ich auflegen wollte, sagte er plötzlich, dass sie gefahren und nicht zurückgekommen ist.«

»Seit wann?«

»Seit drei Tagen. Heute dann vier. Dieter sagt, wir sollen uns keine Sorgen machen. Er denkt, dass alles in Ordnung ist, dass sie eine Auszeit nimmt.«

»Das hat er gesagt?«

»Er sagt, dass sie nicht an ihr Telefon geht. Was aber auch nicht weiter ungewöhnlich sei.«

»Und meinst du, das denkt er wirklich?«

»Er wirkte nicht sehr beunruhigt.«

Eine Krähe landet auf dem Balkon, krächzt, pickt im leeren Blumenkasten.

»Und jetzt?«

»Naja. Ich denke, wir sollten hinfahren.«

Sando beobachtet, wie die Katze den Kopf einzieht und hinter der Schwelle der Balkontür in Deckung geht.

»Du meinst sofort?«

»Ja.«

Sando nimmt die Katze, zuerst wehrt sie sich gegen die plötzliche Zuwendung, dann lässt sie sich streicheln. Er trägt sie zur Tür, hält sie in einer Hand, drückt mit der anderen die Klinke nach unten. Die Katze beginnt zu zappeln, er hält sie fest, trägt sie über den Treppenabsatz zur Wohnungstür gegenüber. Klingelt, wartet. Tis, die Nachbarin, arbeitet Schicht. Zweimal von sechs bis zwei, zweimal von zwei bis zehn, zweimal von zehn bis sechs, dann drei Tage frei, einer zum Schlafen, einer zum Leben, einer für den Rest. Wenn sie frei hat, muss sie die Beine hochlegen, damit alles wieder fließt. Tis öffnet die Tür, ein wenig verschlafen, aber wach. Sando hält ihr die Katze hin.

»Kannst du auf sie aufpassen?«

»Guten Morgen.«

»Ich muss für ein paar Tage weg.«

Tis schaut nachdenklich die Katze an.

»Nur, dass sie nicht verhungert.«

»Gut, ich kann sie füttern.«

»Aber auch streicheln.«

»Okay.«

Sando versucht sich an einem Lächeln. Er hebt die Katze höher, wie zum Gruß, die schafft den Absprung und entwischt in Tis’ Wohnung.

»Tschüs Katze.«

»Tschüs Sando.« Tis gähnt.

»Also dann.«

Im Dunkeln fährt Sando noch einmal ins Institut. The city never sleeps. Die Uni auch nicht. Ein eigenes Büro, eine gute Stelle, wenn auch befristet. Sando fröstelt, dreht die Heizung an. Seit er die Stelle angetreten hat, tut er so, als würde er eine Promotion verfassen, eine Arbeit zum Konjunktiv, Mögliche Welten – Start-Up-Unternehmen und ihre Narrative. Oder so ähnlich. Schreibt wenig, ein paar Notizen, Fetzen, Halbsätze, Listen ohne Anfang, ohne Ende, jedenfalls nichts, was konsistent wäre. Liest ohne System und sprunghaft. Erledigt die Aufgaben, die ihm aufgetragen werden. Denkt nach, würde seine Gedanken auch gerne zur Diskussion stellen, die Ideen anderer aufgreifen und weiterdenken, sehen, welche Wege das Denken einschlägt. So hatte er es sich vorgestellt und das hatte ihm als Grund gereicht, um am Institut zu bleiben. Aber daran scheitert es oder scheitert er. Allein im breiten Flur. Soll sich strukturieren, produzieren, liefern. Und Sando, der keine Zeile mehr schreibt. Aus Liebeskummer. Oder warum auch immer.

Eigentlich hat er vieles richtig gemacht, eigentlich fast alles und immer. In vielerlei Hinsicht ist Sando ein passabler Akademiker: begeisterungsfähig und bereit, sich zu engagieren. Hängt sein Herz aber nicht an ein Projekt, sondern lässt sich auch rasch von etwas Neuem begeistern. Bleibt flexibel. Kommt mit unterschiedlichen Anforderungen zurecht. Ist anpassungsfähig und polyvalent. Kann aus eigenem Antrieb aktiv werden und scheut sich nicht zu sehr, wenn es gilt, neue Kontakte herzustellen, auch wenn er seine introvertierten Phasen hat, ein wenig scheu ist. Hat einen Radar für ergiebige Informationsquellen und gute Ideen. Ist nicht arrogant, nicht zu sehr eingenommen von sich, kann zuhören. Bleibt flüchtigen Bekanntschaften und zeitweisen Projektpartnern in angenehmer Erinnerung, wegen seiner kommunikativen Kompetenzen, seines umgänglichen Charakters und seiner offenen, interessierten Art. Kann sich auf andere einstellen und ist kein Selbstdarsteller, hinreichend charmant und authentisch, kein Klischee seiner selbst, nicht autoritär, ist Teamplayer und verlässlich. Und so weiter.

 

Trotzdem weiß er nicht weiter. (Merkt, dass er seine Hoffnungen in etwas gesetzt hatte, das vorbeigegangen ist.) Fühlt sich längst nicht mehr intakt, längst zernagt.

Den Fuchs hatte Sando getroffen, als er noch neu war auf seiner Stelle. Als er loslegen sollte und stattdessen viel ins Kino gegangen war, sich mehrere Filme hintereinander angeschaut hatte, um zu vermeiden, dass es noch hell war, wenn er wieder auf der Straße war. Schon von Anfang an war es nicht sehr gut gelaufen, wenn man es so betrachtete. Und der Fuchs hatte es nicht besser gemacht. Ich für meinen Teil liebe den Fuchs. Darum geht es: Um den Fuchs. Oder auch: Um den Fuchs als Prothese für die eigene – ja, was überhaupt, Unzulänglichkeit?

Sando stößt sich vom Schreibtisch ab, rollt mit dem Stuhl quer durchs Büro, kommt neben dem Kleiderständer zu stehen, nimmt seine Jacke, und mit einer einzigen Bewegung streift er sie über, öffnet die Tür, zieht sie hinter sich zu und ist unterwegs. Durch den nachtleeren Flur, die Tür summt und schließt sich hinter ihm wieder, er geht an die Luft und sehnt sich nach einer großen Geste. Wiegt den Transponder in der Hand, den er jetzt nehmen und in den Teich in einer Senke der Grünfläche werfen könnte, dann lässt er es doch, zu übertrieben scheint ihm dieses Ende, sein Abschied, sein Ausscheiden aus der Akademie, von dem noch niemand ahnt, wahrscheinlich traut er sich selbst nicht ganz, und der Transponder ist schließlich nur geliehen, sicher muss er ihn irgendwo wieder abgeben. Sando geht zum Auto. Schaltet das Radio ein, fährt los.

Schon bald ahnt er, dass das eine gute Idee war, das Fahren auf der leeren Autobahn. Fetzen aus der letzten Nacht kommen als Erinnerung getarnt zurück, seit Monaten geht das so. Die Vergangenheit ist mir die Gegenwart. Aus dem Nichts, ein Standbild, eine Aufnahme, an die sich ein Gefühl heftet. Es wiederholt sich, funkt dazwischen, oder welche Worte gibt es für diese Zumutung, Sammelsurium?, und eine aufsteigende Sorge, nicht zu entkommen: Was schon vergangen ist, geht nicht vorbei.

Der Fuchs und er, dösend in der Sonne zusammengerollt auf dem Bett, ein Knäuel.

Das Gesicht vom Fuchs wie eine offene Landschaft, Flächen und Erhebungen und plötzliche Abstürze. Vor allem aber eine erstaunliche Weite für ein Gesicht. Der Fuchs mit geschlossenen Augen, ein ruhiger Ort, ein Gesicht als Naherholungsgebiet.

Der liegende Fuchs, den Kopf leicht angehoben, ihn anlächelnd. Und das Gefühl, dass von allen Gesichtsausdrücken das Lächeln vom Fuchs am beunruhigendsten ist. Zu gleichen Teilen sanft und spöttisch.

Sando fährt langsam, bleibt auf seiner Spur, hat den Eindruck, sich halb blind durch die Nacht zu tasten. Er öffnet das Fenster einen Spalt. Luft prasselt hinein, Sando genießt den Krach, hält das Steuer fest.

Als es wieder hell wird, fährt Sando durch ein hohes Tor, fährt in den Hof und hält auf dem mageren Kies in der Einfahrt. Dieser Hof, eine Landschaft für sich. Eingefasst von Backsteingebäuden (Scheune, Wohnhaus und noch irgendein Gebäude, dessen Nutzung sich Sando nicht erschließt) und Backsteinmauern. Der Boden ein grasiger Untergrund, Pfützen, Unkrautbüschel, Erde. Sando geht einmal ums Auto und wehrt dabei einen zotteligen Hund ab, der aus der Scheune kommt und sich ihm freundlich wedelnd zwischen die Beine drängt. Sando orientiert sich Richtung Wohnhaus, vorbei an einem Lieferwagen, einem Anhänger. Vorbei an einer Feuerstelle, um die Sitzgelegenheiten stehen, Plastikstühle, Holzklötze, Getränkekisten. Eine rostige Wassertonne. Er bahnt sich einen Weg, der Hund ihm dicht auf den Fersen. Das Glas der Eingangstür hat einen Sprung, der Knauf hängt schief, und als er ihn dreht, greift der Mechanismus nicht. Ein Gefühl von Überforderung streift ihn. Kennt er, schiebt es weg, versucht es wieder. Die Tür öffnet sich, er steht in der Küche. Am runden Tisch in der Mitte des Raums sitzt Mili vor einer Kaffeetasse. Sie schaut ihn an. »Hallo.« »Hallo«, die Überforderung in seiner Stimme. Sie muss ihn gehört haben, warum sitzt sie da, als ginge es sie nichts an? Er ist den ganzen Weg gefahren, und sie kann nicht die zwanzig Schritte über den Hof machen, um ihn zu begrüßen?

»Willst du Kaffee?« Sie deutet auf die Kaffeekanne auf dem Tisch. Er nickt und setzt sich auf einen Stuhl, über dessen Lehne eine schaffarbige Wolljacke liegt. Mili steht auf, sucht eine saubere Tasse, findet keine, nimmt eine aus der Spüle, lässt Wasser darüberlaufen und gibt sie ihm. Er wirft einen skeptischen Blick in die Tasse und schwenkt sie durch die Luft, um sie zu trocknen. Sehnt sich schon nach seiner Küche, hatte er sich nicht geschworen, nie mehr aus schmutzigen Tassen zu trinken? Er schenkt sich Kaffee ein, von dem er auf den ersten Blick vermutet, dass er stark und bitter ist. Gibt zwei Löffel Zucker dazu und rührt um. Eigentlich trinkt er nie Zucker im Kaffee, aber nun scheint ihm jede Unterstützung willkommen. Mili hat sich wieder auf ihren Stuhl fallen lassen und betrachtet ihn ohne ein Wort. Müde sieht sie aus und etwas verquollen. Vielleicht nicht direkt verquollen, eher pausbäckig. Ist das eine Bezeichnung, die auf erwachsene Personen passt? Er berührt ihre Hand, die auf einer freien Stelle auf der Tischplatte liegt. Die Hand ist warm und rau. »Schön, dass du gekommen bist«, sagt sie und schaut auf die Uhr. Seufzt, zieht ihre Hand zurück und steht auf. »Ich muss mal wieder.« Lacht ihr Lachen, das er kennt, und das sie lacht, wenn sie mit den Gedanken schon bei der nächsten Sache ist. Steigt in die Gummistiefel, die unter dem Tisch stehen, geht durch die Tür und schlägt sie hinter sich zu. Er schaut ihr durch die gesprungene Scheibe nach. Leicht macht sie es ihm nicht. Er trinkt den Kaffee, nur lauwarm und viel zu süß. Steht dann auf und geht ihr nach.

Hitze schlägt ihm entgegen. Der Raum ist klein, trotzdem fällt es ihm zunächst schwer, sich zu orientieren. Ein Radio spielt laut, eine Art Nebel hängt in der Luft, Wasserdampf, Mehlstaub, Rauch. Auf der gegenüberliegenden Seite des Raums ein Backofen. Die Ofenklappe steht offen. Sando hat noch nie solch ein Feuer gesehen: Flammen drängen nach oben, wogen über den Steinboden des Ofens, Flammen, die von nirgends zu kommen scheinen, lang ausgestreckt, sich gegenseitig übertrumpfend, eifrig. Sando, vorsichtig, darauf zu. Mili an ihm vorbei, scheint überall gleichzeitig zu sein, wirft neue Holzscheite ins Feuer, das, wie sich herausstellt, hinter einer Klappe unter dem Ofen brennt. Gießt Wasser in den Trog der Knetmaschine, die einen Teig bearbeitet. Kommt vor einem Tisch zum Stehen, ihre Hände über der Arbeitsplatte aus Holz greifen nach Teigkugeln, die zwischen grauen Tüchern liegen. Leiber aus Teig, kleine, dicke Babys, denkt Sando, die dort liegen und aufgehen, dann in Milis Hände geraten und auf der mehligen Arbeitsfläche landen, plattgeklopft, gefaltet und zu länglichen Broten geformt werden. »Sando, du bist …«, Mili lässt die Worte im Raum stehen. »Was bin ich?« Sie grinst. »Im Weg. Du stehst im Weg.« Er lehnt sich an die Wand. »Ich bin stundenlang gefahren, weil du mich hier haben wolltest.« Er klingt vorwurfsvoll, möchte übertreiben. »Das zeigt, dass ich an die Liebe glaube. Das Problem ist nur, dass das niemanden interessiert.«

Sando schaut ihren Händen über der Tischplatte zu, ist berührt davon, wie vorsichtig sie die Brote wieder zwischen die Falten des Tuchs legt. Makellose Brote. Sando klopft sich auf den Bauch, über dem die Haut spannt wie die Haut der Brote auf den Tüchern. Sein glatter, schwerer Bauch. »Stell mal die Knetmaschine aus.« Sando findet den Knopf, den einzigen, drückt darauf, die Maschine steht still. »Nimm den Spatel. Der Teig kommt in die Wanne da.« Eine kurze Bewegung mit dem Kinn. Zögernd beugt sich Sando in den Trog, der ihm riesig erscheint. »Wasch dir die Hände.« Er wäscht sich die Hände. Schabt mit dem Spatel aus hartem Plastik am Rand, der Teig löst sich. Eine feuchte, zähe Masse am Boden des Trogs. »Mili, ich hab keine Ahnung, wie …« Wieder ärgert er sich über sie. »Trenn ein Stück ab, mit dem Spatel. Und krempel deine Ärmel hoch.« Er krempelt sich die Ärmel hoch, taucht die Hände in den Teig, der ihn umfängt, als wolle er ihn nie wieder loslassen. Kurz überlegt er, wie es wohl wäre, sich ganz in den Trog zu werfen, sich nackt dazuzulegen. Taucht den Spatel ein, bekommt ein Stück Teig zu fassen, hebt es in die Wanne. Schaut wieder in die Knetmaschine. »Wie viel ist das?« »Achtzig Kilo.« Sein Rücken schmerzt. Als er sich anschließend die Hände, die ganzen Arme wäscht, dreht er sich zu Mili, die hinter ihm weiter Brote formt.

»Schon toll.«

»Was ist toll?«

»Das hier, die Bäckerei, was ihr macht.«

»Jaja.«

»Mein ich ernst.«

Sando schaut auf seine Hände, weiche Hände mit viel Haut auf den Handrücken. Legt sie auf den Boden des Spülbeckens und lässt Wasser über sie laufen, bewegt die Finger, um die Seife aufzuschäumen. Nimmt die Gläser, die auf dem Tisch, auf der Fensterbank, auf der Ablage neben der Spüle stehen, Gläser mit Weinresten, Gläser mit Zucker- und Kaffeeresten, Gläser mit Lippenspuren, wäscht sie, spült sie unter klarem Wasser ab, nimmt zu heißes Wasser, verbrennt sich, trocknet sie ab, räumt sie in den Schrank. Wechselt das Wasser, verfährt ebenso mit den Tellern, den Tassen, den Schüsseln, dem Besteck. Rollt mit den Schultern. Schaltet das Radio ein, findet eine Zigarette, zündet sie an, zieht, ascht auf den Boden. Nimmt sich die Pfannen vor, kratzt mit den Fingern ölige Zwiebeln und Kartoffelreste vom gusseisernen Boden, spürt die aufgeweichte Haut an den Fingerkuppen, stellt sich vor, wie sie mit den öligen Zwiebeln und Krusten in den weit aufgespannten Müllsack fallen, seine weichen Finger. Wischt den Tisch ab, lässt den verkrusteten Herd einweichen, nimmt das Wasser mit dem Schwamm auf, raucht wieder, tritt die Kippe auf dem Fußboden aus, reißt die Tür nach draußen auf und fegt alles auf die Treppe zum Hof. Sieht auf der anderen Seite des Hofs Milis Silhouette in der Backstube, ihr konzentriertes Gesicht im Schein einer kleinen Lampe, sie starrt in den Ofen und beobachtet die Brote. Er ist müde, legt sich im kalten Wohnzimmer aufs Sofa.

An vielen Tagen: Der Fuchs entzog sich, nicht, dass er nicht da gewesen wäre, er war da, aber zwischen ihnen ein Graben, alles stob auseinander, der Fuchs umgeben von Menschen, ein normaler Tag, Sonne oder Wolken, Worte oder keine – und Sando, der diesen Zustand begriff, aber nicht aushielt, konnte seinen Ärger mit Händen greifen, nicht aber den Fuchs.

Sando wacht auf, es ist dunkel. Er stürzt aus dem Haus, wo ist sie, findet sie in der Backstube, die wie eine helle Insel in der Nacht liegt. Es riecht nach frisch Gebackenem, ein säuerlicher, trockener Geruch, der Sando unangenehm ist. Mili sortiert die Brote, die auf Rosten abgekühlt sind, legt Brote in Plastikkisten, stapelt die Kisten. Sie läuft präzise Linien durch den Raum, zieht ein gleichseitiges Dreieck, in dessen Mitte Sando steht, sich dreht, um ihr nicht den Rücken zuzuwenden. Immer knapp an ihm vorbei wuchtet Mili die Kisten, stemmt sie hoch, nutzt die Fliehkraft, begleitet die Flugbahn der Kisten durch den Raum, setzt ab. Beschreibt halbe Drehungen und Pirouetten. Hat leichte Füße und einen festen Griff. Mili mit den Händen zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Schiebt ihm eine leere Kiste vor die Füße. »Zwanzig von denen«, kurze Bewegung mit dem Kinn, »leg sie auf die Seite, nicht auf den Rücken, und nicht zu eng.« Die Brote sind goldbraun, prall, zu den Enden hin spitz zulaufend, die Kruste in der Mitte zu einer Rinne aufgeworfen.

Sando, anerkennend: »Wie schön sie sind.«

Mili: »Ja.« Packt weiter Kisten. »Gut für die Darmflora und das Karma. Die Bioladenkunden lieben unser Brot.« Mili tätschelt ein Brot. »Ein gutes, teures Brot. Wenn du gutes Mehl nimmst und gute Arbeitsbedingungen willst, keine zu langen Schichten, keinen Zeitdruck bei der Arbeit, wird alles teuer. Und dann können sich dein Brot nur noch Reiche leisten. Oder du verzichtest auf den Lohn und betreibst die Sache gleich ehrenamtlich. Dann stellt sich die Frage: Wovon leben?«

»Du meinst, es gibt das gar nicht, das schönere Arbeiten?«

»Naja. Erstens macht es den Rücken kaputt. Zweitens bekommt man eine Staublunge. Drittens macht es zu viel Arbeit und ist viertens nicht rentabel. Kann nie rentabel sein, ich hab es ausgerechnet.«

»Kein Ausweg, nirgends?«

»Aber wenigstens das richtige Brot. Natürlich mit Sauerteig.« Sie lacht. Er dann auch. Pfeift eine Melodie, die er noch nie gehört hat, während sie die restlichen Brote in Kisten packen.

 
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