Buch lesen: «Die Reise nach Hause»

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Titel der Originalausgabe: The Journey Home

Hay House, Inc., P.O. Box 5100

Carlsbad, CA 92018-5100

Aus dem Englischen von Melina Taeuber

Deutsche Ausgabe: © KOHA-Verlag GmbH Burgrain

Alle Rechte vorbehalten – 12. Auflage 2012

Lektorat: Franz Simon

Gesamtherstellung: Karin Schnellbach

E-Book-Umsetzung: Medialike GmbH, München

ISBN 978-3-867287-16-6

Jenen gewidmet, die erkannt haben,

dass ein Mensch die Macht hat, sein Leben zu ändern,

und dass die Dinge nicht immer so sind, wie sie scheinen!

Wer ist Kryon

Kryon ist eine sanfte, liebevolle Wesenheit, die derzeit auf der Erde weilt, um uns zu helfen in die hohe Energie des sogenannten New Age zu wechseln. Kryons Worte haben manches Leben verändert und Liebe und Licht in einige der dunkelsten Winkel unseres Inneren gebracht. Die Idee der Erzählung DIE REISE NACH HAUSE wurde von Kryon inspiriert und von Lee Carroll aufgeschrieben.

Einleitung

Am 8. Dezember 1996, gegen Ende eines Nachmittags-Seminars, saß Kryon vor mehr als 500 Leuten in Laguna Hills, Kalifornien. In einer Sitzung, die über eine Stunde dauerte, erzählte er die Reise von Michael Thomas – eine Wanderung, geboren aus dem Wunsch eines der Erde müden Menschen, »nach Hause« zu gehen und bei seiner spirituellen Familie zu sein.

Der Name Michael Thomas steht sowohl für das unerhört Große und Heilige eines Erzengels Michael, wie auch für die in der alten Energie wurzelnden Eigenschaften des ungläubigen Thomas – eine Kombination, die auf viele von uns zutrifft. Einerseits fühlen wir uns als spirituelle Wesen, andererseits zweifeln wir oft an uns, zumal, wenn wir den wachsenden spirituellen Aufgaben und beängstigenden He­rausforderungen des neuen Jahrtausends gegenüber stehen.

Michaels Reise nach Hause schildert ein Abenteuer, das sich durch sieben bunte Häuser zieht, jedes bewohnt von einem Engel. Jedes Haus stellt ein Merkmal des New Age dar und umfasst Weisheit, Unterricht, Humor und Einsicht in das, was Gott uns über uns mitteilen möchte. Gleichzeitig erhalten wir – während wir durch das neue Paradigma unseres New Age wandern – einen Einblick in die Art und Weise, wie die Dinge funktionieren.

Bis zum bewegenden und überraschenden Ende beschert die Reise des Michael Thomas uns eine Reihe liebevoller Unterweisungen, die von einer spirituellen Quelle kommen, welche immerfort den Wunsch hat, »unsere Füße zu waschen«.

Falls du Gott jemals die Frage gestellt hast: »Was möchtest du mich wissen lassen?« – DIES KÖNNTE DIE ANTWORT SEIN! Begib dich gemeinsam mit Michael Thomas auf seine spannende Reise. Vielleicht ähnelt sie der deinen?

E I N S

Michael Thomas

Schwarze Plastiksplitter flogen in alle Richtungen, als Mike seinen Ablageschuber mit »Eingängen« ziemlich unsanft gegen die Trennwand seines Vertriebsbüros stieß. Wieder einmal musste ein unschuldiger Gegenstand für Mikes angestauten Ärger über seine Situation herhalten. Unversehens schob sich ein Kopf durch die staubigen Blätter der Plastikpflanze zu seiner Linken.

»Alles in Ordnung da drüben?«, fragte John aus der Büro-Box nebenan.

Die Wände jedes Kubus waren gerade hoch genug, um die Illusion zu erzeugen, man sitze im eigenen Büro. Mike hatte auf seinem Schreibtisch mehrere hohe Gegenstände um sich platziert. Das half die Tatsache zu kaschieren, dass seine Kollegen nicht mehr als 1.30 Meter von ihm entfernt waren – alle vorschützend, sie säßen allein in ihrem Raum und führten »private« Gespräche. Unzählige, über den Boxen hängende nackte Neonröhren, tauchten Mike und die anderen in ein fahles, unnatürliches Licht, wie man es nur in der öffentlichen Verwaltung und der Industrie findet. Es schien die Rottöne so vollständig aus dem Farbspektrum zu absorbieren, dass alle, obgleich sie im sonnigen Kalifornien lebten, ganz bleich aussahen. Mike, der sich jahrelang nicht in der direkten Sonne aufgehalten hatte, wirkte noch blasser.

»Nichts, was ein Urlaub auf den Bahamas nicht beheben könnte«, antwortete Mike, ohne sich zu der Pflanze umzusehen, durch die Johns Kopf lugte. John zuckte die Achseln und wandte sich wieder seinem Telefongespräch zu.

Noch während die Worte aus seinem Mund kamen, wusste Mike: Bei dem Lohn, den er in der Bestellannahme des »Kohlenbergwerks« erhielt – so nannten die Angestellten ihre Vertriebsfirma –, würde er die Bahamas nie zu Gesicht bekommen. Er fing an, die Stücke der zertrümmerten Kunststoffablage aufzulesen und seufzte – was in letzter Zeit immer öfter vorkam. Wozu war er hier? Warum hatte er nicht die Energie oder die Motivation, sein Leben zu verbessern? Er starrte auf den dümmlich dreinschauenden ausgestopften Bär, den er sich gekauft hatte. »Halt’ mich lieb«, stand da drauf. Daneben lag sein liebster Far Side Cartoon – auf dem der Titelheld, Ned, irgendwas über den »Bluebird des Glücks« von sich gab und prompt vom »Hähnchen der Depression« besucht wurde.

Egal, wie viele lächelnde Gesichter oder Cartoons Mike an die Wände seiner Box pinnte, es änderte nichts an seinem Gefühl, in der Klemme zu sitzen. Er steckte fest in einem Leben, das ähnlich funktionierte wie eine Kopiermaschine im Büro; Tag für Tag der gleiche Ablauf, ohne Sinn und Zweck. Seine Frustration und Hilflosigkeit machten ihn wütend und deprimiert; und man merkte es ihm an. Sogar sein Vorgesetzter hatte sich schon dazu geäußert.

Michael Thomas war Mitte dreißig. Wie bei vielen in seinem Büro, ging es auch bei ihm darum, irgendwie zu überleben. Sein Job war von allem, was er hatte finden können, der einzige, der nicht viel Nachdenken erforderte. Mike konnte acht Stunden am Tag abschalten, nach Hause gehen, schlafen, am Wochenende seine Rechnungen bezahlen und montags wieder arbeiten gehen. Er bemerkte, dass er in seinem Los Angeles-Büro von den mehr als dreißig Mitarbeitern nur vier mit Namen kannte. Es war ihm einfach egal. Dabei arbeitete er schon über ein Jahr dort – seit seine Beziehung in die Brüche gegangen und sein Leben unwiderruflich ruiniert war. Nie sprach er über das, was geschehen war, obgleich es ihm fast jede Nacht durch den Kopf ging.

Mike lebte allein, mit seinem einsamen Fisch. Er hätte gern eine Katze gehabt, aber sein Vermieter erlaubte es nicht. Ihm war klar, dass er das »Opfer« spielte, doch seine Selbstachtung war zerstört. Also stocherte er beständig in seiner Lebenswunde, hielt sie offen, blutend und schmerzhaft, so dass er sich jederzeit in Erinnerung rufen konnte, was passiert war. Es schien ihm nichts anderes übrig zu bleiben und er war nicht sicher, ob er – selbst wenn er bereit gewesen wäre – genügend Energie gehabt hätte, die Dinge zu ändern. Aus Jux hatte er seinen Fisch »Katze« getauft, und immer, wenn er nach Hause kam oder bevor er zur Arbeit ging, redete er mit ihm.

»Nicht die Hoffnung aufgeben, Katze«, sagte Mike dann jedesmal zu seinem Flossen tragenden Freund. Der Fisch gab natürlich nie eine Antwort.

Mit seinen zwei Metern konnte Mike einem beinahe Angst machen – bis er lächelte. Sein Grinsen hatte einen Charme, der alle Vorbehalte gegenüber seiner hünenhaften Gestalt dahinschwinden ließ. Es war kein Zufall, dass er am Telefon arbeitete und seine Kunden ihn nicht sehen konnten. Vielmehr diente es dazu, seine beste Eigenschaft zu verleugnen; wie in einem selbst errichteten Gefängnis, konnte er weiter im Melodrama seiner gegenwärtigen Situation schwelgen. Seine eigentliche Begabung lag im Umgang mit Menschen, aber er nutzte sie nur, wenn seine Arbeit ihn gelegentlich dazu zwang. Von sich aus pflegte Mike keine Freundschaften; und das weibliche Geschlecht existierte zurzeit nicht einmal für ihn; obgleich die Frauen an ihm interessiert waren.

»Mike«, pflegten seine Kollegen zu sagen, »wann warst du zum letzten Mal verliebt? Du musst ausgehen und dir eine gute Frau suchen – hör auf, über dein Leben nachzugrübeln!«

Worauf sie nach Hause gingen – zu ihren Familien, Hunden und Kindern, und gelegentlich auch zu ihrem Fisch. Doch Mike hatte keine Ahnung, wie er es anstellen sollte, um die Liebe in sein Leben zurück­zuholen. Es hatte keinen Zweck, entschied er. Ich habe schon früh die richtige Partnerin gefunden, sagte er sich immer. Nur – sie hat es nicht erkannt. Er war sehr verliebt gewesen und natürlich auch voller Erwartungen. Sie hingegen hatte einfach Spaß haben wollen. Als ihm das schließlich klar wurde, war es, als sei seine Zukunft zusammengeschrumpft und verschwunden. Er hatte seine Freundin leidenschaftlich geliebt und glaubte, nur einmal im Leben so empfinden zu können. Er hatte ihr alles gegeben, und sie hatte es einfach weggeworfen.

Mike war auf der Farm seiner Eltern in Blue Earth – einem kleinen Städtchen in Minnesota – aufgewachsen und vor einem Leben geflohen, das seiner Meinung nach sinnlos war: Er hätte Getreide angebaut, das entweder von fremden Ländern aufgekauft oder in riesigen Silos gelagert wurde – weil es einfach zu viel davon gab. Schon von klein auf hatte er gewusst, dass er kein Farmer werden wollte. Nicht einmal in seinem eigenen Land war dieser Beruf geachtet. Wozu sollte er gut sein? Außerdem konnte Mike den Stallgeruch nicht ausstehen und wollte lieber mit Menschen, statt mit Tieren und Traktoren arbeiten. Er war ein guter Schüler gewesen und ein absolutes Ass im Umgang mit Menschen. Kein Wunder also, dass Mike Kaufmann geworden war. Gute Jobs fand er mit Leichtigkeit und so hatte er eine Reihe von Produkten und Dienstleistungen verkauft, die er ehrlichen Herzens empfehlen konnte. Die Leute kauften gern bei Michael Thomas.

Wenn er zurückblickte auf das, was seine verstorbenen Eltern ihm mitgegeben hatten, stellte er fest: Wirklich geblieben war von all dem sein Glaube an Gott. Viel nützen tat er ihm jetzt nicht – so dachte Mike oft voll Bitterkeit. Er war Einzelkind gewesen und seine Eltern – seine geliebte Mom und sein Dad – waren kurz vor seinem einundzwanzigsten Geburtstag bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Immer noch trauerte er um die beiden und trug stets Fotos bei sich, die ihn an ihr Leben – und ihren Tod – erinnerten. Mike ging weiterhin regelmäßig zur Kirche und machte zumindest äußerlich die Gesten mit, die zum Gottesdienst gehörten. Als der Geistliche sich nach seinem spirituellen Wohlergehen erkundigte, erklärte Mike, dass er an Gott glaube und sich selbst als spirituelles Wesen sehe. Er war überzeugt, Gott sei gerecht und liebevoll, allerdings im Augenblick nicht wirklich auf seiner Seite – und das eigentlich schon seit mehreren Jahren nicht mehr. Mike betete oft um ein besseres Leben, hatte aber wenig Hoffnung, dass sich tatsächlich etwas ändern würde.

Mit der frischen Gesichtsfarbe seines Vaters war Mike zwar nicht direkt schön, aber sein rauhes Aussehen wirkte attraktiv. Frauen fanden ihn unwiderstehlich. Sein strahlendes Lächeln, sein blondes Haar, sein hoher Wuchs, sein kräftiges Kinn und seine tiefblauen Augen zogen die Blicke auf sich. Und wer genügend Intuition besaß, der spürte Mikes Integrität und fasste augenblicklich Vertrauen zu ihm. Mehr als einmal hatte Mike Gelegenheit gehabt, Situationen zu seinem Vorteil auszunutzen – in geschäftlichen, wie auch in Liebesbeziehungen –, doch er hatte es nie getan. Sein Bewusstsein war durch seine bäuerliche Herkunft geprägt, eine Prägung, die zu den wertvollen Attributen gehörte, die ihm aus der Heimat seiner Kindheit und Jugend noch anhafteten.

Er war unfähig, zu lügen. Er spürte, wann andere Hilfe brauchten. Er hielt den Leuten, die im Supermarkt ein- und ausgingen, die Türe auf; er hatte Respekt vor alten Menschen und redete mit ihnen; und er gab den heruntergekommenen, bettelnden Männern und Frauen auf der Straße immer ein paar Dollars, auch wenn er den Verdacht hatte, dass sie für Alkohol verschwendet würden. Er war der Meinung, dass die Menschen sich gemeinsam für eine bessere Welt einsetzen sollten, und er konnte nicht verstehen, warum die Leute in seiner neuen Heimatstadt nicht miteinander redeten, ja, oft nicht einmal ihre Nachbarn kannten. Vielleicht, weil das Wetter so schön war, dass niemand je Hilfe brauchte. Wie paradox, dachte er.

Mikes einziges weibliches Rollenvorbild war seine Mom gewesen; und so behandelte er alle Frauen mit dem gleichen Respekt, den er dieser wunderbaren, einfühlsamen Frau – die ihm jetzt so sehr fehlte – entgegengebracht hatte. Teilweise hing sein augenblickliches Elend damit zusammen, dass dieser Respekt in der einzigen »wirklichen« Beziehung seines Lebens scheinbar ausgenutzt worden war. Tatsächlich jedoch hatte es sich um ein kulturelles Missverständnis gehandelt: Beide Partner hatten etwas erwartet, was sie nicht bekamen. Das kalifornische Mädchen, das ihm das Herz gebrochen hatte, hatte unter Liebe das verstanden, was in ihrer Kultur üblich war. Doch Mike hatte es nicht so gesehen. Er war mit einer bestimmten Vorstellung von Liebe aufgewachsen und konnte eine andere Auffassung nicht akzeptieren.


Und damit beginnt nun unsere eigentliche Geschichte. Hier war Michael Thomas, am Tiefpunkt seines Lebens angelangt, an einem Freitagabend auf dem Nachhauseweg zu seinem winzigen 2-Zimmer- Apartment (mit integriertem Bad!). Unterwegs hatte er im Supermarkt noch rasch die mageren Lebensmittelvorräte gekauft, die er brauchte, um die nächsten zwei Tage über die Runden zu kommen. Schon längst hatte er herausgefunden, dass er mit seinem Geld viel besser auskam, wenn er bestimmte Marken kaufte und die beigefügten Coupons für weitere Käufe verwendete. Doch sein wirksamster Spartip war: weniger essen!

Mike kaufte Fertiggerichte, die man nicht zu kochen brauchte. Dadurch konnte er auf den Herd verzichten und musste weniger Strom zahlen. Er fühlte sich zwar unbefriedigt, irgendwie noch hung­rig, und bekam nie einen Nachtisch, auf den er sich freuen konnte – doch paßte das gut zu seiner selbst kreierten Opferrolle. Außerdem fand er es sehr praktisch, über dem Spülstein direkt aus der Packung zu essen. Damit ersparte er sich das leidige Spülen! Er hasste Spülen und rühmte sich seinem Kollegen und einzigen Freund John gegenüber oft, wie toll er dieses Problem gelöst habe. John, der Mikes Gewohnheiten kannte, witzelte dann, Mike werde sicher bald einen Weg finden, wie er – ganz ohne Apartment – alles vom nächsten Obdachlosenheim aus erledigen könne. Dabei pflegte er zu lachen und klopfte Mike auf den Rücken. Doch Mike hatte diese Möglichkeit tatsächlich in Betracht gezogen.

Als Mike sich vom Supermarkt auf den Weg nach Hause machte, war es schon dunkel. Den ganzen Tag über hatte sich der dichte Nebel in Regen aufgelöst und immer noch war alles glatt und glänzte im fahlen, gelben Licht der Straßenlaterne, das sich auf den Stufen zu Mikes Apartment spiegelte. Froh, in Kalifornien zu leben, dachte Mike oft zurück an die entbehrungsreichen Wintermonate in Minnesota, wo er aufgewachsen war.

Seine ganze Jugend hindurch hatte er eine Leidenschaft für alles Kalifornische gehabt. Er hatte sich geschworen, dem Hundewetter, das offenbar alle sang- und klanglos hinnahmen, zu entkommen. »Wie kommt es, dass Leute freiwillig irgendwo leben, wo man in zehn Minuten tot sein kann, wenn man bei schlechtem Wetter nach draußen geht?«, fragte er seine Mom immer wieder. Sie schaute ihn dann nur lächelnd an und sagte: »Familien bleiben meistens da, wo sie herkommen. Außerdem ist man hier sicher.« Das war ihre typische Antwort, um ihm klarzumachen, wie gefährlich Los Angeles und wie schön Minnesota war. Aber es stimmte nur, wenn man nicht Tod durch Erfrieren hinzufügte! Mike konnte seine Mutter nicht davon überzeugen, dass die Gefahr eines Erdbebens einfach wie ein Glücks­spiel sei. Es konnte einen zwar erwischen – musste es aber nicht. Die zermürbenden Winter in Minnesota dagegen kamen jedes Jahr – eine Tatsache, mit der man absolut zu rechnen hatte!

Kein Wunder also, dass Mike seine ländliche Heimat verließ, sobald er die Highschool beendet hatte und seine College-Jahre in Kalifornien verbrachte. Er hatte seine kaufmännische Begabung genutzt, um alles, was er unternahm, selbst zu finanzieren. Jetzt wünschte er sich, er wäre in den Jahren vor dem Unfall noch eine Weile zu Hause geblieben, bei seiner Mom und seinem Dad. Er fand, dass er in seinem Drang, der Kälte zu entrinnen, kostbare Zeit mit seinen Eltern verschenkt hatte. Im Nachhinein kam es ihm egoistisch vor.

Im trüben Dämmerlicht schleppte sich Mike nun die Stufen zu seiner Parterrewohnung hoch und nestelte an seinem Schlüsselanhänger. Die Tüte mit Lebensmitteln im Arm, steckte er den Schlüssel ins Schloss. Der Schlüssel passte auch normalerweise; doch von da an war an diesem Freitagabend das »Normale« für Michael Thomas zu Ende. Auf der anderen Seite der Tür befand sich ein Geschenk – eine potenzielle Episode in Mikes Schicksal –, etwas, das sein Leben auf immer verändern sollte.

Da der Türrahmen verzogen war, hatte Mike sich angewöhnt, die klemmende Wohnungstür mit seinem Körpergewicht aufzudrücken, wobei sie jedesmal mit großem Schwung aufflog. Mike hatte eine Methode perfektioniert, wie er die große Papiertüte mit Lebensmitteln auf der einen Hüfte balancierte, den Schlüssel ins Schloß steckte, ihn umdrehte und gleichzeitig mit dem Fuß gegen die Tür trat. Für das Manöver musste er die Hüfte verdrehen, und obgleich es gut funktionierte, fand sein Freund John, dass es ziemlich komisch aussah!

Die widerspenstige Tür flog durch den Druck von Mikes Hüfte auf und erschreckte den Einbrecher, der sich im dunklen Zimmer zu schaffen machte. Mit der Behendigkeit einer aufgescheuchten Katze und durch jahrelange Erfahrung mit dem Unvorhersehbaren, schoss der ungeladene Gast – der einen Kopf kleiner war als Mike – nach vorn, packte Mikes Arm und zerrte ihn in den Raum. Da Mikes Hüfte noch verdreht war, befand dieser sich bereits in der Vorwärtsbewegung und der Dieb konnte ihn leicht zu Fall bringen. Mikes großer Körper schlug der Länge nach hin, wobei die Lebensmittel auf die gegenüberliegende Wand prallten und die verschweißten Packungen aufplatzten. Kurz bevor er auf dem Boden lag, hörte Mike – geschockt und alle Sinne hellwach – wie die Tür hinter ihm zuknallte – und der Einbrecher noch im Zimmer war! Dann sah er eine Glasscherbe auf sein Gesicht zukommen, ein Stück des zertrümmerten Fensters, durch das der kleinere Mann eingebrochen war.

Solche Momente sind es oft, von denen Menschen später sagen, alles sei wie in Zeitlupe abgelaufen. Bei Michael Thomas war das anders. Die Sekunden rasten wie im Zeitraffer vorbei und versetzten ihn in äußerste Panik! Der Mann, der in Mikes Apartment eingebrochen war, schien entschlossen, sein Vorhaben durchzuführen. Er wollte Fernseher und Stereoanlage mitnehmen und was mit seinem Opfer geschah, interessierte ihn nicht im Geringsten. Kaum lag Mike am Boden, als der Mann auch schon auf ihm saß und seine verschwitzten Hände wie einen Schraubstock um Mikes Kehle presste. Seine weit geöffneten Augen waren nur wenige Zentimeter von Mikes Gesicht entfernt. Mike spürte den fauligen Atem des Mannes, dessen Rumpf jetzt schwer auf seinem Magen lag. Instinktiv reagierte Mike wie jemand, dem der Tod im Nacken sitzt und machte eine Bewegung wie aus einem zweitklassigen Film: Trotz seiner Verwirrung warf er den Kopf schnell und mit aller Kraft nach vorn und schmetterte ihn gegen den Kopf des Einbrechers. Es funktionierte. Der Angreifer, überrascht von der Heftigkeit des Aufpralls, lockerte sekundenlang seinen Griff; Mike rollte sich blitzschnell zur Seite und versuchte, aufzustehen. Doch bevor er noch auf den Beinen stand, schlug der Einbrecher zu und versetzte ihm einen Hieb in den Magen. Der Aufprall hob Mike buchstäblich in die Höhe; er fiel nach links, schlug hart auf etwas Großes und registrierte benommen, dass es sich um sein Aquarium handelte. Mit lautem Getöse gesellten sich Vitrine, Aquarium und der einsame Fisch zu den Einkäufen an der Rückwand des kleinen Zimmers.

Der Schmerz verschlug Mike den Atem. Doch während er noch nach Luft schnappte, weiteten sich seine Augen vor Entsetzen, als ein Stiefel von der Größe Montanas auf ihn herabstieß. Sein Angreifer grinste. Es war zu schnell gegangen: Der Tritt saß! Mike spürte und hörte, wie die Knochen seines Halses grauenhaft knirschten. Entsetzt schnappte er nach Luft, absolut sicher, dass seine Luftröhre zertrümmert war – womöglich auch seine Wirbelsäule. Sein ganzer Körper reagierte auf das knackende, brechende Geräusch seines malträtierten Halses. Mit Entsetzen begriff er, was passiert war. Es war vorbei – der Tod war da! Er versuchte zu schreien, doch sein Kehlkopf funktionierte nicht. Er bekam keine Luft mehr und es wurde schwarz vor seinen Augen. Alles war still. Der Dieb beeilte sich – ungeachtet des reglos daliegenden Mannes –, sein nächtliches Werk zu beenden, als er erneut durch Lärm an der mitgenommenen Wohnungstür aufgeschreckt wurde.

»Was ist los da drin? Ist alles in Ordnung?!« Ein Nachbar hämmerte wie wild mit der Faust auf das unnachgiebige Holz.

Der Einbrecher – fluchend über sein Missgeschick – wandte sich widerstrebend dem zertrümmerten Fenster zu. Er schlug ein paar Glasscherben weg, die ihm im Weg waren und glitt mühelos hinaus.

Mikes Nachbar, der Mike nicht näher kannte und wieder das Geräusch von splitterndem Glas im Zimmer hörte, entschloss sich, am Türgriff zu drehen. Die Tür war unverschlossen. Er trat ein, fand das Apartment in wüstem Durcheinander und sah, wie ein Mann durch das zertrümmerte Fenster floh. Vorsichtig tappte er im Dunkeln an Fernseher und Stereoanlage vorbei – die merkwürdigerweise mitten im Raum standen – und knipste das Licht an. Eine nackte Birne flammte an der Decke auf.

»Oh, mein Gott!« Er hörte, wie seine Stimme vor Entsetzen verstummte.

In Sekundenschnelle war der Mann am Telefon und rief um Hilfe. Michael Thomas lag bewusstlos und schwer verletzt am Boden. Es war jetzt still im Raum – bis auf das Geräusch des hin und her schlagenden Fisches, nicht weit von Mikes Kopf entfernt. »Katze« wand sich, zwischen Salat und Nudel-Fertiggericht, in einem unappetitlichen Haufen verstreuter Lebensmittel, den die wachsende Lache von Mikes Blut allmählich rot färbte.


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