Der Alphornpalast

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Der Alphornpalast
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Kurt Marti

Der Alphornpalast

Prosa aus dem Nachlass

Herausgegeben von Stefanie Leuenberger

Mit einem Nachwort vonFranz Hohler

Wallstein Verlag

Inhalt

Schreckmomente Vorwort von Franz Hohler

Der Alphornpalast I. Begegnungen

Meerleuchten, finnisch

Der Alphornpalast

Ein Brandstifter

Lauf, Bubi, lauf!

Rettung

Ausgegangene Antworten

I carceri

Irrläufer

Alte Bekannte

Piquer et disparaître

Aus einer anderen Zeit

Urgebrumm

Blaue Ameisen

Mittagsspuk in Hilterfingen

Ein Wunder, kein Wunder

Julias Bericht

Wahre Liebe

Letzte Begegnung

Bote der Stille

Der Alphornpalast II. Reflexe – Am Vorabend

Vorabend

Ein anderer im Pass

Heute geschenkt

Aufstieg

Herr Fremd. Ein Phantombild

Nachwort von Stefanie Leuenberger

Editorische Notiz und Dank von Stefanie Leuenberger

Anmerkungen

Impressum

Schreckmomente
Vorwort

Es kann ganz harmlos anfangen, mitten im Alltäglichen. Eine kleine Abweichung vom Gewohnten lässt uns ein zweites Mal hinblicken. Ein Witwer, der seine Haushaltabfälle seit dem Tod seiner Frau unauffällig in einen öffentlichen Abfalleimer drückt. Kennen wir ihn? Der laut vor sich hersprechende Straßenprediger, der im Gehen die Weltkatastrophe verkündet. Haben wir ihn nicht auch schon gesehen und waren erleichtert, als er in einer Seitengasse verschwand? Und wenn einer vor einem Demonstrationszug stehen bleibt und von einem alten Bekannten zum Mitgehen aufgefordert wird? Ein kleines Erschrecken über die Bresche, die in die Normalität geschlagen wird, und das Leben geht weiter.

Weniger harmlos: Ein Gestürzter, der in der Tiefe einer Schlucht gefunden und gerettet wird, aber die Frage, wie er heiße, nicht beantworten kann, ein Sonnenanbeter, der in der Mittagshitze eine endlose Felsentreppe hinaufsteigt und von dem, was er hört, bevor er zusammenbricht, überwältigt wird, ein Bub, der von andern Buben gefoltert wird – oft geht es nicht um den kleinen Schrecken, sondern um den großen, um Leben und Tod.

Aber oft geht es auch um Augenblicke, in denen etwas passiert, das nicht in unsere Welt gehört. Zar Alexander der Zweite reitet an einer Touristengruppe in Finnland vorbei. Ein korrekt gekleideter Mann springt aus einem Zeppelin auf einen Tannenwipfel, klettert hinunter und erkundigt sich bei den Leuten, die aus ihren Häusern gerannt kommen, nach dem Alphornpalast. Ein Schalter für Antworten, vor dem die Menschen Schlange stehen, wird überraschend geschlossen. Für die Dauer einer Buchseite betreten wir eine Schaubude des Surrealen.

Die wenigen Ich-Texte: Schreckmomente. Der Pass des Erzählers enthält seine richtigen Personalien, aber ein vollkommen anderes Foto, und der Grenzübertritt wird ihm verweigert. Eine geistesgestörte Frau bittet den Erzähler in ihren Garten, um ihm blaue Ameisen zu zeigen. Dieser Wahnidee wegen wird sie in die psychiatrische Klinik eingewiesen. Bloß: der Erzähler hat die blauen Ameisen auch gesehen.

Nie können wir uns sicher fühlen, wir, die wir mit beiden Beinen auf dem Boden stehen. Auf welchem Boden? Sind wir nicht zweifelsfrei in Hilterfingen gesehen worden, wo wir schon lang nicht mehr waren?

Immer trifft Kurt Martis Suchscheinwerfer auf ein Stück verfremdetes Leben.

Aber war da nicht noch etwas? Die Hoffnung auf etwas, das das Leben ganz macht? Die Suche danach gehört ebenso zum Menschen wie das Verirren im »Lebenslabyrinth«. In den Alphornpalast hat ein Blitz eingeschlagen, hören wir von einem, der drin war und mit verbundener Hand von der Notfallstation nach Hause kommt. Gesehen hat er kaum etwas, geschweige denn Alphörner gehört. In einem Gespräch vernehmen wir bloß, dass der Türsteher dieses Palastes der wortmächtige Prediger Pater Basilius Paraburi sein soll. Ein kleines Augenzwinkern des Autors, war doch Paraburi der Titel eines seiner früheren Werke, einer »Sprachtraube«, in der Sätze vorkamen wie »Niedergefahren zur Hölle, aufgefahren zum Himmel – sonst aber ging Jesus zu Fuss«. Jetzt hütet der verstummte Sprachgewaltige also nur noch einen Palast, dessen Inneres niemand kennt.

Wer sich in dieser Welt bewegt, kann in ihr nicht wirklich behaust sein. Dem Menschen, der versucht, dem Leben auf die Spur zu kommen, gibt Kurt Marti den Namen Herr Fremd. Für ihn gleicht die Welt einem Schauspiel, das in einer unverständlichen Sprache gespielt wird. Wenn Herr Fremd unterwegs ist, gehen seine Gedanken andere Wege als die Füße, und die Gedanken sind die eines Philosophen und Aphoristikers. »Die Seelenvögel verschwinden, die Seelenärzte vermehren sich«, geht ihm durch den Kopf, oder angesichts des rasenden Tempos, in dem sich das Sonnensystem durchs Weltall fortbewegt, fragt er sich: »Ist Leben ein Bremsprodukt, eine List der Schöpfung vielleicht, um wenigstens auf diesem Planeten Raum zu schaffen für ruhiges Werden und Wachsen?« Und immer, wenn Herr Fremd auftaucht, »um weiterhin seiner Gewohnheit, dem Leben, zu obliegen«, möchte man sich ihm eine Weile lang unbemerkt anschließen, denn das, was er von sich sagt, traf auch auf den Zeitgenossen Kurt Marti zu: »Nach wie vor aber weigere ich mich, im sozialen Theater die Rolle des Außenseiters oder gar eines Sonderlings zu spielen.«

Er hat uns dieses eigenartige Buch hinterlassen, das uns einlädt, dem Schrecken standzuhalten und seinen Füssen und seinen Gedanken zu folgen. Wer weiss, wohin sie uns führen? Vielleicht in einen Alphornpalast.

Franz Hohler

Der Alphornpalast I Begegnungen

Meerleuchten, finnisch

Eine steife Brise drückt die Grashalme auf der Insel zu Boden. Silbern leuchtet, blendet das Meer. Und wer galoppierte da eben vorbei, hoch aufgerichtet auf dampfendem Pferd? Zar Alexander der Zweite, belehrt ein rüstiger Greis, der überraschenderweise Deutsch versteht und sogar spricht, die kleine Touristengruppe. Angesichts des Reiters hat er ehrfürchtig die Mütze abgenommen, stülpt sie jetzt wieder über seine weisse Mähne. Im Glauben, er habe sich einen kleinen Scherz erlaubt, lachen die Touristen, lachen überaus freundlich. Doch ergrimmt wendet er sich ab, stapft schimpfend davon. Was sagt er? fragen die betretenen Touristen einander. Niemand versteht Finnisch. Merkwürdiges Land, bemerkt eine Frau, die sich wegen des starken Windes den gelben Schal als Kopftuch umgebunden hatte, in Turku oben stand auf einmal Lenin vor uns – fast scheint es, als würde selbst in dieser schnell vergessenden Zeit die Vergangenheit hierzulande nicht vergehen.

Der Alphornpalast

Aus lockerem Mittagsgewölk plötzlich aufgetaucht, schwebte in silbernem Gleitflug die Riesenzigarre dem nahen Wäldchen entgegen. Aufgeregt stürzten, Kinder voran, die Leute aus ihren Häusern und liessen das eben aufgetragene oder schon angefangene Mittagessen stehen. Noch hatten nicht alle das Wäldchen erreicht, da hielt der Zeppelin schon an, so knapp über Tannspitzen schwebend, dass der Eindruck entstand, er habe sich auf sie gesetzt. Die Kabinentüre tat sich auf und mit der Behendigkeit eines Tarzan, freilich in schwarz-feierlichem Anzug, mit ebenfalls schwarzen Handschuhen, schwang sich ein Herr ins Freie, hielt sich mit beiden Händen erst am Kabinenboden fest, liess sich dann fallen, so dass die Zuschauer, am schrillsten die Frauen, aufschrien. Doch im Fallen fasste der Herr Griff an einem kräftigen Tannast. Mit zwei drei weiteren Griffen hangelte er sich stammzu, um von da mit elegantem Geschick niederzuklettern. Am Boden angelangt, zog er sich die Handschuhe aus, wischte einige Tannnadeln von Jacke und Hosen, rückte die Silberkrawatte zurecht und winkte zum Zeppelin empor: Alles o. k.! Aus der offenen Kabinentüre des Luftschiffs salutierte ein dunkelblau Uniformierter zurück. Dann fiel die Türe ins Schloss und langsam erhob sich die Riesenzigarre wieder in die Lüfte. »Das muss Graf Zeppelin selber gewesen sein«, sagte begeistert ein Mann neben mir, meinte den Uniformierten und wiederholte noch einige Male: »Kein Zweifel, das muss er gewesen sein!«

 

Der behende Herr im feierlichen Anzug nickte höflich in die Runde, sagte »Grüss Gott« und fragte: »Wie kann ich von hier zum Alphornpalast kommen?« Niemand wusste es. Als jemand zögernd sagte: »Hier gibts nirgendwo einen solchen Palast«, befeuchtete der Herr mit der Zungenspitze kurz seinen rechten Zeigefinger, streckte diesen in die Höhe. Dann bedankte er sich, wieder sehr höflich in die Runde der verblüfften Gesichter nickend, und ging entschlossen westwärts.

Ein Brandstifter

Kannst du Feuer machen? fragte der Bub.

Glaub schon, sagte der Vater.

Warum hast du mir noch nie ein Feuer gemacht?

Wo soll ich dir ein Feuer machen, Bub? sagte der Vater. Hier in der Wohnung kann ich nicht Feuer machen. Hätten wir ein Cheminée, wärs was anderes.

Warum nicht in eine Wohnung zügeln, wo wir Feuer machen könnten? fragte der Bub.

Eine Wohnung mit Cheminée ist zu teuer.

Der Bub dachte nach. Dann schlug er vor: Aber unten auf dem Rasen, da könntest du mir doch ein Feuer machen.

Geht nicht, sagte, der Vater, das ist verboten.

Wer verbietets?

Die Hausverwaltung unseres Hauses, die Hausverwaltungen auch der anderen Häuser. Alle Mieter aus allen Häusern würden sonst ebenfalls auf dem Rasen Feuer machen wollen. Das ginge zu weit.

Und warum ginge das zu weit?

Der Rauch würde in die Wohnungen der Leute eindringen. Auch ich möchte nicht, dass es hier in der Wohnung nach Rauch stinkt.

Und draussen, dort wo die Stadt aufhört? fragte der Bub. Da würde der Rauch in keine Wohnungen kommen.

Wie stellst du dir das vor, draussen vor der Stadt? Man kann doch nicht einfach hingehen und auf dem erstbesten Feld ein Feuer machen. Jedes Feld gehört einem Bauern. Und der würde die Polizei holen, wenn wir Leute aus der Stadt hinauskämen und alle anfangen würden, auf seinen Feldern mir nichts dir nichts Feuer anzuzünden.

Und im Wald? fragte der Bub. Oder gehört der Wald auch den Bauern?

Mal ja, mal nein, ich weiss nicht, sagte der Vater, aber im Wald ist Feuermachen gefährlich. Wenns trocken ist, könnte das Feuer sich weiterfressen, der Wald zu brennen anfangen. Ists dagegen feucht, gibts vor allem Rauch, doch kein richtiges schönes Feuer.

Ich möchte aber so gerne lernen, ein richtiges schönes Feuer zu machen, sagte, traurig geworden, der Bub.

Willst du nicht zu den Pfadfindern gehen? Sagte der Vater. Pfadfinder machen hie und da Feuer.

Wo denn? wollte der Bub wissen.

An ganz abgelegenen Orten, wo ein Bauer es ausnahmsweise erlaubt, dass die Pfadfinder Feuer machen. Er erlaubts aber nur, weil es Pfadfinder sind.

Doch kannte der Bub keinen anderen Buben, der Pfadfinder war und hatte deshalb keine Lust, Pfadfinder zu werden.

Dann eben musst du warten, bis du zum Militär kommst, sagte der Vater, zum Militär muss jeder und das Militär darf überall Feuer machen.

Der Bub dachte nach. Aber wenn ich zum Militär komme, sagte er schliesslich, und noch immer nicht weiss, wie man ein Feuer macht, werde ich ausgelacht.

Ach wo, sagte der Vater, im Militär hat man gute Kameraden.

Aber das dauert noch lange lange, sagte der Bub.

Das schon, musste der Vater zugeben.

Und wer weiss, ob sie mich überhaupt nehmen werden beim Militär, sagte der Bub.

Na ja, wart mal ab, sagte der Vater.

Aber vielleicht sterbe ich, bevor ich zum Militär komme und bevor ich einmal ein Feuer gemacht habe, sagte der Bub.

Ach geh, lachte der Vater.

Lauf, Bubi, lauf!

Plötzlich hatten sie ihn umzingelt und gepackt, bogen seinen rechten Arm bis zu den Schulterblättern empor, trieben ihn mit Püffen, Fusstritten vorwärts, einander um die Wette ausmalend, wie sie das Bubi im nahen Wald jetzt dann bis aufs Blut quälen, foltern und, warum eigentlich nicht, auch hinrichten wollten, etwas besseres habe so ein Herrenbüblein und Höseler ja auch nicht verdient.

Im Namen des Gesetzes! schrie einer, den sie Sheriff nannten, vielleicht, weil ihm bereits Barthaare sprossten.

Gestossen, geboxt fiel der Eingefangene hin, wurde am Hemdkragen wieder hochgerissen, eine Knieschramme blutete.

Er stört, sein blosser Anblick beleidigt uns, wiegelte der Sheriff auf. Weg mit ihm, er muss weg! brüllten die andern.

Nirgends Hilfe, die Felder menschenleer.

Schnell, schneller! hetzten die Richter, die Henker. Und schlugen auf ihn ein: Mach dein Testament, Bubi! Sollen wir Mami nachher einen Gruss bringen von dir? Gewiss wird sie ob deines Todes untröstlich sein.

I wo, krähte einer, gern wird der Papi ihr ein anderes Bubi machen, ein besseres sogar.

Im Wald wurde der jetzt käsbleiche Bub mit dem Strick, den ein Blondschopf lange schon wie ein Lasso hatte durch die Luft wirbeln lassen, an einen Buchenstamm gebunden. Unter Schmähungen, wilden Drohungen hob rund um das Opfer eine Art Kriegstanz an. So ist das Leben, so wills die Gerechtigkeit, schrie der Sheriff, von einem Bein aufs andere hüpfend, schwört ihr, über alles, was hier jetzt abläuft, zu schweigen wie das Grab? Die Hüpfer und Tänzer reckten Schwurfinger empor: Wie das Grab, wie Bubis Grab, ja, wir schwören, wir schwören bei unserem eigenen Blut, bei Super-Man, bei Rambo, dem heiligen Rächer, bei allem, was stark ist und gerecht!

Der Bub, am Buchenstamm fixiert, der Strick schmerzte, wollte tapfer bleiben, doch Schluchzen überwältigte, schüttelte ihn.

Wer hat dir denn erlaubt, so erbärmlich zu heulen, du Nussgipfel, du Schwächling? fuhr ihn der Sheriff an, noch immer tanzend, wer überhaupt erlaubt dir, so feige zu sein?

Seine Feigheit schreit nach Strafe, brüllte die Meute, sie stinkt zum Himmel, sie beleidigt den grossen Manitou.

Der Tanz ebbte ab, hörte auf.

Schuldig oder nicht schuldig? fragte der Sheriff.

Schuldig, schuldig, was denn sonst! krähte die Bande. Und plötzlich blitzte eine Messerklinge, wurde dem Bub an die Gurgel gesetzt. Der, schreckensstarr, brachte keinen Laut mehr hervor, pisste hilflos in die Hosen, an die blossen Beine.

Pfui Teufel! schimpfte der Sheriff, als ers bemerkte. Pfui, pfui! auch die andern und traten mit ihren Schuhen nach den Schienbeinen des Opfers: Schweinigel, Hosenbrünzler! Hände, Finger zerrten, rissen ihm die feuchten Kurzhosen, den nassen Slip auf Füsse und Sandalen herab.

Ha! Wenn Änneli dich jetzt sehen würde, höhnte einer, ist doch dein Schatz, oder nicht? Würde wohl Augen machen, wenns dich sähe, so ein Bubi, ein feiges, so ein Schnäbi, ein kleines!

Schneiden wirs doch ab, wurde vorgeschlagen, dann ist fertig gebrünzelt! Und flugs war die Messerstahlklinge an der Wurzel des kleinen Pimmels.

Nein nein! heulte der Bub entsetzt auf.

Wiehernd weideten sich die Richter, die Henker an seiner Angst: Geschieht dir recht, du Bettnässer, du Schmutzfink!

Dann aber entschied der Sheriff: Genug jetzt!

Der Bub wurde losgebunden. Hoch im Bogen flogen seine Hosen, sein Slip, von Pfuirufen begleitet, ins übernächste Gebüsch.

Dass du uns nie wieder unter die Augen kommst! drohte der Sheriff. Hast du verstanden: Nie wieder! Bleib beim Mami und lass dir Märlein erzählen. Hier draussen hast du nichts zu suchen, kapiert? Wenn du dich wieder zeigst, machen wir kurzen Prozess mit dir.

Nur in Hemd und Sandalen rannte der Bub davon, stolperte über eine Wurzel, fiel hin, rappelte sich wieder auf, rannte in Panik dem Waldausgang zu.

Höhnisch schrieen sie hinter ihm her: Lauf, Bubi, lauf!

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