Buch lesen: «Der Nörgg, das Purzinigele und die Nichte der Nixe»

Schriftart:

KURT LANTHALER

Der Nörgg, das Purzinigele und die Nichte der Nixe

SAGEN AUS SÜDTIROL

Mit Illustrationen von Gino Alberti und einem

Nachwort von Brunamaria Dal Lago Veneri


Alda mo l corf, quĕ chanta

Cras, cras, doman, doman

Hör den Raben, der singt

Kras, Kras, morgen, morgen

Aus der Altonschen Sammlung

La vecchiaia l’è na brutta bestia

ma ’n ghe nè anca altre, de bestie

E ogni tant ne sboccia ’n fior

Das Alter ist eine häßliche Bestie

aber es gibt auch andere, an Bestien

Und ab und an sprießt eine Blüte

Aus meiner Sammlung, aus dem Delta des Deltas des Po

INHALTSVERZEICHNIS

Vom Nörgg auf Ötsch

Die Partschinsa Purzinigelen

Der Drache von Muntatschinig (und das seltsame Schicksal des Sagensammlers)

Der Schreier vom Schleierbach

Sterben und Leben auf Labiseben

Der Lorgg auf Wilder Fahrt

L mat e l porcel. Der Verrückte und das Schwein

Die Kellnerin, der Malider Goggl, und die Wette ums halbe Weinfaß

Die Nixe vom Karersee

Die Pest am Ritten

Mezzaselva, mitten im Wald. Und der Moarhund

Von den Salvans, und von der Aguana

Auf Castelfeder

Vom Schgumser Putz auf Tarnell

Das knocherne Eßmöbel von Völs

Der Felsnegger auf Gspell ober Rabenstein

Die Kegelpartie der Pitscheförter Riesen

Der Brennergeist

Von den Schnabelmenschen

Der Scheintote von Maderneid

Die Klaamandeln und das Wetter über Mauls und Trens

Die Wechselwiesen von Flaas

Vom ćiastel dles stries zu den ’Meriche, und retour

Die Nichte der Nixe

Die Pest in Tagusens und auf Untertschutsch

Der Hatzes auf Hinterthal

Von der Fai und der Jaufenburg

Allerhand Antrische

Der Ölprinz

Die Ritter auf Matsch

Das Almkoat

Der Todtenthomas und seine Fahrt durchs Martell

Die grüne Nixe vom Grünsee (zuhinterst)

Vom Lagrein für Laurein

Kegelspiele. Und Stratioten in Mareo

Was von Sagen zu sagen (An Stelle eines Essays)

Nachwort

Index, nach Gegenden

Index, nach Schlagworten


VOM NÖRGG AUF ÖTSCH


Zwischen dem Passeirer Wanns und dem Sarntaler Pens, unweit des Jochüberganges, lag am Fuße des Gipfels der Ötsch und vor langen Zeiten, wo heut nur Steinlammern, eine schöne Alm. Die Ötscher Alm. Eine der schönsten weitum. Die höchstgelegene allemal. Und es war ein fröhliches und unbeschwertes Leben, hier auf Ötsch, wie man die Gegend nannte, und der blaue Himmel lachte überm Kar.

(So sagt man. Aber es war harte Arbeit auch. Das sagt man nicht. Und es wetterte, am liebsten von der Jaufenspitz her. Und himmlatzte.)

Wer hier lebte, war trittsicher, und redete nicht viel. Auf jeden Fall nicht den ganzen Tag. Zumal in den Zeiten, von denen hier die Red ist, der Talmensch im Tal blieb, in seinen Sümpfen mit ihrem verpesteten Hauch. Und den Almmenschen allein ließ. Und also glücklich. Allerdings lebte der nicht allein, auf Ötsch.

Denn es lebte auf Ötsch auch der Nörgg, und zwar anders als der Almmensch jahrein, jahraus, auch des Winters. Das konnte der Nörgg sich locker leisten, weil mit dem Nörgg auch die Harmelen auf Ötsch wohnten. Worunter man heutzutage Hermeline verstehen würde. Und so, ans weichwarme Bauchfell dieser Harmelen geschmiegt, in seinen Klaftern und Spalten und Höhlen auf Ötsch, überwinterte der Nörgg die strengsten Winterstürme, und Eis und Frost. Bei sonnigem Wetter aber gingen der Nörgg und die Harmelen über die endlosen Schneefelder spazieren, und rutschten lachend die Wächten ab. Man hätte, hätt man sich in diese Winterlandschaft vorgetraut, als Mensch, die Nörgge, denn es waren ihrer mehrere, weitum sehen und lachen hören können im Sonnenschnee. Die Nörgge waren nämlich stockrabenschwarz. Schwärzer noch als die Nörgg von Rabenstein. Die Harmelen aber hätt man nicht gesehen. Die verschwanden im Schnee, sie waren hermelinweiß allüberall, bis auf ihre leicht roten Lippen und die eisblauen, lachenden Augen.

Dann ging der Winter vorbei, und der Almmensch kam auf Ötsch zurück, und man lebte wieder zusammen, der Almmensch, der Nörgg und die Harmelen, wie die Sommer zuvor seit jeher. Der Almmensch almte, der Nörgg trieb Unsinn und Spaßletten, und die Harmelen sahen dem Treiben zu, mit etwas Abstand, nebeneinander aufgereiht, ziemlich possierlich.

Es brachte der Nörgg nämlich Wachstum und Gedeihen auf Ötsch, aber auch seinen Eigensinn, und eine gewisse, gern auch polternde Unernsthaftigkeit. Der Almmensch aber hatte, über die Zeit, gelernt, damit zu leben. Immerhin fand er auch sein Auskommen damit. Und die Harmelen sahen dem Treiben zu, und erwarteten sich Abend für Abend eine Schale Milch, hinterm Geißenstall.

Wär nicht, eines Tages, eine der Almfrauen türschlagend aus Ötsch ausgezogen, hinunter ins Tal, weils genug ist, wie sie dem Wendl sagte, weil der Wendl übern Winter mirnixdirnix sowie wollten, was Psairisch ist und ziemlich heißt, und also: ziemlich bequem geworden war, der Wendl, und seither ein jedes zweite Mal das Melken verschlief. Und wie die Filomena nun weg gewesen, wurde der Wendl ziemlich wirsch. Auch mit dem Nörgg. Der wieder einmal auf dem Rücken der Berta saß, einer zweijährigen Grauen, während der Wendl grad daneben die Bruna am Melken war. Und weil der Wendl am Einnicken, auf jeden Fall ganz schön weit an die Kuh sich vornübergelehnt hatte mit seinem Kopf, hustete der Nörgg ein paarmal scharf.

Da sprang der Wendl, erschrocken vom Wachwerden, vom Melkschemel auf, und sagte, in breitem Psairisch: »Nörggele, gea miar lai ou, du Nörggele, sou.«

Da aber wurde der Nörgg vom ein aufs andre fuchsteufelswild, wie man ihn noch nie gesehen, und sprang von Kuh zu Kuh, brachte alles in Aufruhr, schmiß die Mistgabel durch die Gegend und den Mistwagen um, gab der Milchkanne einen Tritt und rief wildteufelsfuchs:

Wendl, grupftsgrausigs Hendl

Du mi Nörggele heißen

ich di Zeh hinein beißen

Ich bin der Nörgg

du bist ein Zwörg

Nehm die Harmelen mit

tu die Alm dir verschütt

Und drehte sich um, der Nörgg, und ging, und stieß im Gehen noch einen kurzen Pfiff aus. Daraufhin tauchten aus Klaftern und Spalten weitere Nörgge auf, im Gelände, und neben jedem Nörgg ein Harmele, und ganz in Weiß. Und daraufhin sah man, wie sie paarweise, neben jedem Nörgg ein Harmele, die Alm auf Ötsch verließen. Ein stummer Auszug.

Der Wannser Bauer aber, ein großer und stolzer Bauer, draußen, wo das Wannsertal breit und flach wird, war sich sicher, es gäbe gar keine Harmelen. Dann hätt ich, sagte er, in seinem Wirtshaus, das er zur Bauernschaft und neben der Kapelle auch noch hatte, dann hätt ich längst einen Hermelinmantel, meinerwegen auch ganz in Weiß. Aber dann mit blutrotem Kragen.

Woraufhin die Harmelen, zusammen mit den Nörggen, bei ihrem Auszug um den Wannserbauer einen ordentlichen Bogen machten. Und der Wannserbauer in der Folge ins Nichts verarmte. Und der Wannserbach, zuvor ein klares Gewässer, nur mehr trübes Geschiebe führte vom nunmehr vermurten Ötsch herunter.


DIE PARTSCHINSA PURZINIGELEN


Vor sehr langer Zeit, kurze Zeit, nachdem die Erde noch öd und leer gewesen war und also , tohu wabohu (was im übrigen Buber/Rosenzweig sehr viel treffender mit Irrsal und Wirrsal übersetzen, den alten Luther verbessernd; – der noch einige Verbesserungen mehr vertragen hätte, wie man an seinen heutigen Nachkommenschaften unschwer ablesen kann. Aber das tut hier nichts zur Sache –),

… vor sehr, sehr langer Zeit also, kurze Zeit, nachdem die Erde noch »wüst und leer« gewesen war, wohnte auf dem, was heut der Partschinser Sonnenberg genannt wird und bis vor kurzem wie präpandemisch noch extensiv touristisch zum Zwecke aller möglichen Bespaßungen beworben, also Wellness und Fitness und Gutess,

… vor sehr, sehr langer Zeit wohnte auf diesem steilen, der südlichen Sonne freundlichst zugewandten Berghang eine inzwischen längst sagenumwobene Spezies: die Purzinigelen. Und was auch immer wir heute uns davon erzählen, und wie auch immer wir sie in Kinderliedern (Weihnachtsliedern gar) hineinverniedlichen, es waren, die Purzinigelen, eine hochkultivierte Zivilisation.

Wenn auch, zugegebenermaßen, von sehr kleinem Wuchs. Was ihnen bei ihrem Hauptgeschäft, dem Graben nach Silber, allerdings prächtig zupaß kam. Mußten sie die Stollen nicht allzugroß aus dem Granitgneis des Partschinser Sonnenberges hauen. Denn das Silber versteckte sich im Berge. Und ließ sich nur finden, wenn man freundlicher und sangesfröhlicher Natur war, wie die Purzinigelen, und intelligent und dem Leben zugewandt, sowie am Tauschwert des Silbers nicht im geringsten interessiert. All das traf auf die Purzinigelen zu, und sie freuten sich, am Feierabend in der tiefstehenden Sonne am Partschinser Berg sitzend, am Widerglanz des gewonnenen Silbers. Aßen aus Silbertellern und schliefen auf Silberkissen. Standen morgens nicht allzufrüh auf, und machten sich gemächlich auf den Weg in die Silberstollen. In deren Dunkelheit sie ein paar Stunden verbrachten. Um dann wieder ans Tageslicht zu kommen, und, nach einem Bade in einem Gebirgsbach, den sie zu diesem Zwecke mit Steinen, Ästen und Moos zu einem Swimmingpool etwas angestaut, sich im frischen Gebirgsgras in die Sonne zu legen und etwas auszuruhen. Danach vertrieben sie sich die Zeit mit Hand- und Kopfständen und Rollen vor- und rückwärts. Das half ihren Silberstollenrücken auf die Sprünge.

Und so vergingen die Tage, und so vergingen die Zeiten.

Bis die Purzinigelen eines Tages, wieder einmal im Grase ruhend, feststellten, zu ihrem Erstaunen, daß im Tal weit unten, unter ihnen, in dem Tal, das bis vor kurzem ein einziger Sumpf voller übler Luft, und also mal aria war, daß sich dorten etwas tat. Sie wollten es erst nicht glauben. Mußte sie die Sonne und das Silber zu stark geblendet haben, zumal ihre von der Silberstollendunkelheit geschwächten Augen.

Doch da, Tage später, wieder. Woche drauf, auch. Im Tal unten, an dessen Rande, auf einem kleinen Hügel, schienen sich Wesen anzusiedeln. Und hantierten gar mit Feuer. Und bauten sich wacklige Laubhütten.

Alsbald aber gingen über diese Wesen im Tale unten Geschichten um unter den Purzinigelen, und sie sagten sich: Sage, sag mal, was glaubst du?

»Ich glaub schonmal gar nichts, pàr tschínsa, pàr tschínsa«, sagte das Altpurzinigele, nochmal einen Kopf kleiner als die anderen Purzinigelen, da inzwischen etwas vornübergebeugt, Altersskoliose, »und außerdem sollte es uns egal sein. Was da unten in diesem Drecksloch sich tut.«

Das aber war ein Irrtum gewesen. Denn eines Tages kam ein Talbewohner den Berg hoch. Tage später kamen mehr von ihnen den Berg hoch. Und sie streiften durchs Gelände, unsicher auf ihren Beinen ob der Steilheit. Aber sie kamen immer wieder. Schauten hinter jeden Stein, grasten alles ab.

So daß die Purzinigelen, nachdem sie Rat gehalten, eines Nachts alles zerstörten, was sie aufgebaut hatten, ihre Silberteller und Silberkissen in die Stollen zurückbrachten, und die Stollen auf immer verschlossen. Ihre Wohnplätze dem Erdboden gleichmachten und das Bad im Bach. Woraufhin sich eine wahre Sturzflut zu Tale wälzte.

In derselben Nacht noch machten sich die Purzinigelen auf den Weg, den Sonnenberg entlang am Kamm, am Ortnott vorbei und am Madratsch, und ließen sich erst am Plantavilas, hoch oben über Schluderns, wieder nieder. Da war dann ein paar hundert Jahr lang wieder Ruhe.

Schließlich aber verschwanden sie ganz. Von dort, wo heutzutage die Spezies der Mauntenbaiker Jagd auf Fußgänger macht.

Später dann, als das Wissen über die wirklichen Purzinigelen längst verschütt wie ihre Silberstollen, später dann haben sich aus dem Wort Purzinigele Wörter herausgebildet, die, wenn nicht wir, so zumindest unsere Vorgänger, noch kannten. Im Adelung (Grammatisch-Kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart. Ausgabe letzter Hand, Leipzig 1793–1801) findet sich also zum Beispiel Purzel für kleines, täppisches Kind. Im Deutschen Wörterbuch der Gebrüder Grimm (Leipzig 1833–1961) lesen wir: wenn ich (hanswurst) meinen purzelbaum machen kann, was ficht die politik mich an? Und im Duden steht schließlich Nigel für kleiner, widerspenstiger Kerl.

Und so ist allen Recht und Genüge getan.


DER DRACHE VON MUNTATSCHINIG (UND DAS SELTSAME SCHICKSAL DES SAGENSAMMLERS)


Oben über Schluderns, am Eingang des Matscher Tales, zwischen Muntatschinig und Kartatsch, wohnte ein Drache. Lebte sein meist gemächliches Leben und war respektiert in der Gegend. Gefürchtet aber waren die Matscher Raubritter. Mit denen der Drache sich allerdings im Waffenstillstand befand. Was die schlaueren Schludernser wiederum das Gleichgewicht des Schreckens nannten.

Zurück zum Drachen. Der war, verglichen mit anderen Kollegen seiner Zunft, zum Beispiel dem badiotischen vom Sas dla Crusc, also dem Kreuzkofel, eigentlich ein recht genügsamer wie freundlicher. Zweimal im Jahr ein Ochs und zwischendurch ein paar Schafe oder Ziegen (Ziegen eher weniger gern, wegen des gewissen haut goût derselben, das allen ernstzunehmenden Köchen gewisse Zusatzkenntnisse abverlangt), wenn also seine menschliche Umgebung dem Drachen von Muntatschinig den halbjährlichen Ochsen sowie das halbe Dutzend Schafziegen, auf das man sich, sozusagen per Handschlag, als Menüplan geeinigt, zukommen ließ, und das alles in vernünftig zeitlichem Abstand, und nicht alles auf ein Mal, was in der ersten Zeit seiner Anwesenheit am Berg über Schluderns oben einmal vorgekommen war und den Muntatschiniger Drachen vor erhebliche organisatorische wie kühltechnische Probleme gestellt hatte, sowie zu einer Magenverstimmung, und also in der Folge verständlicherweise zu einer Allgemeinverstimmung geführt hatte – sobald also diese anfänglichen Probleme ausgeräumt gewesen waren, war es relativ friedlich geworden in der Gegend. Bis auf die Matscher. Und, wie gesagt, verglichen mit seinem Kollegen vom Sas dla Crusc.

Dem, sagten die Badioten, regelmäßig nach Jungfern- wie Knabenfleisch war; der, sagte der Drache vom Sas dla Crusc, durchaus mit Ziegen oder Altkühen zufrieden gewesen wär, an einen Ochs hätte er sich nicht einmal zu denken gewagt, weil nämlich, und da lag die Krux für den Drachen vom Sas dla Crusc und das Kreuz für den Kreuzkofeldrachen: weil nämlich die Badioten schon gehabt hätten, zumal einige von ihnen reiche Bauern, aber eben … nicht geben … wollten.

Den Obervinschgern um Schluderns, Muntatschinig und Kartatsch herum und bis nach Liachtawerg und Söles hinüber auf der anderen Talseite aber war das gleichgültig. Sie hielten sich ihren Drachen gut, und sie wollten ihn sich behalten. Besser der, als so einer wie der andere. Noch besser natürlich gar keiner, weil ein Ochs und sechs Ziegenschaf im Jahr, das ist schon ein ordentlicher Zehent. Andererseits bot der Drache von Muntatschinig, zumindest indirekt, einen gewissen Schutz vor den Raubzügen gewisser Matscher Ritter. Die sich nämlich bei Nacht nicht mehr recht auf den Weg ihr Tal hinaus trauten. Und bei Tag waren Raubzüge eben deutlich weniger erfolgreich. (Zumindest in jenen Zeiten.)

Das hätte noch ewig so weitergehen können, also sozusagen bis in unsere Zeiten, wenn nicht eines Tages ein sehr neugieriger Studierter, also einer, der behauptete, er sei ein Studierter, aus dem nun wirklich fernen Bautzen oder Botzen oder wie die Ansiedlung seiner Meinung nach heißen sollte, in der, immer seiner Behauptung nach, mehrere hundert Leute lebten, und zwar ganz ohne Drachen, dafür aber mit einem Bürgermeister, was nun alles geradezu ins Märchenhafte geriet, und ihm also von keinem Obervinschger abgenommen noch für bare Münze, nachdem er aber eine solcherne, nämlich bare Münze, auf den Tisch des Wirtshauses gelegt, konnte man ihm seinen Wunsch, nach erstens einem Stück Braten (es gab stattdessen Schwarzplentnen Riebel), zweitens einem Schluck Wein (es gab stattdessen Leps) und zuallerletzt, drittens, einen Blick auf den ebenso wohlberühmten wie sagenhaften Drachen von Muntatschinig – konnte man ihm nicht abschlagen, der Münze wegen.

Der Abend wurde noch lang. Der gelahrige Botzner hatte eine weitere Münze auf den Tisch gelegt und an seinen Tisch hinzugebeten, also fand sich diesmal tatsächlich Wein statt des Lepses, und so saß man zusammen und trank, und um weiter zusammensitzen und trinken zu können, ließen sich die Schludernser auch die ein oder andere Red des Gelahrigen aus Botzen gefallen. Der anfing zu erzählen von der eigenartigen Sumpfgegend nördlich von Botzen, wo Wein wachse und Mais und Maulbeerbäume und Seide. Und weiter sprach er, immer lauter ausholend, während Wein nachgeschenkt wurde:

Die Seidenzucht gibt indeß überall fröhliche Anzeichen und wälscher Fleiß weiß die Cocons zu zeitigen, und den Miasmen der Luft mehr zu widerstehen als dem deutschen Worte, das sie in der Regel nach zwei Menschenaltern ganz germanisirt hat. Lose Sagen und Mährlein flattern und hüpfen auf diesem Gebiete wie die regellos pfeifenden Sumpf- und Schilfvögel mit ihren bunten Schwingen, von Nachtwandlern ohne Kopf, von Riesen, die Steine aus den Schluchten schleudern, von kugelartigen Ungethümen, die sich den Fuhrleuten zur Nachtzeit in den Weg legen, und vom giftigen Athem fürchterlicher Drachen. Es lohnt wohl der Mühe, sie zu sammeln, wenn auch nur zu beweisen, wie eigenthümlich der Volksgeist dichtet beim edelsten Wein in fieberhafter Luft. ***

Dann war aber auch gut, nach solch wirrem Gerede des Gelahrigen, und es war spät und also verabredete man sich auf den allerfrühesten Morgen. Um den Muntatschiniger Drachen aufzusuchen. Und ihm, außer der Reihe und vom Botzner bezahlt, ein Schaf zu bringen.

Die ersten paar Minuten oben beim Drachen von Muntatschinig vergingen noch wie gehabt. Der Drache besah sich das Schaf, das ihm da abgelegt worden war. Nickte mit dem Kopf. Und wollte, wie immer, sich schon wieder zurückziehen, und die Obervinschger auch, da trat der Botzner Gelahrige vor und dachte, er müsse den Drachen ansprechen.

Der aber erzürnte sich fürchterlich, daraufhin, und spie, was man seit ewigen Zeiten bei ihm nicht mehr gesehen, meterlanges Feuer und fauchte und schlug den gepanzerten Schwanz auf den Felsen, daß die Funken stiebten. Und dann sagte er: »Du hast heut nacht laut genug geredet, beim Wein, du Nichtsnutziger von da ganz unten irgendwo. Wird sein, daß ihr da einen Würgemeister habt (der Drache war nicht mehr der Jüngste und hatte es etwas am Gehör), aber deswegen hab ich noch lang keinen giftigen Atem. Und nun: Hinweg mit dir.« Und nochmal Fauch.

Da rannte der Gelahrige halsüberkopf den Berg hinunter. Und ward nicht mehr gesehn. Der Muntatschiniger Drache aber zwinkerte den Schludernsern zu.

Seither gibt es einmal jährlich just an diesem Tag ein Extraschaf. Das sich der Muntatschiniger Drache und die Obervinschger friedlich teilen.

*** in: Beda Weber. Die Stadt Bozen und ihre Umgebungen. Eberle’sche Buchhandlung, Bozen 1849


DER SCHREIER VOM SCHLEIERBACH


Wer einmal, in jungen wie in alten Zeiten, das Pflerer Tal von vorne bis nach hinten durchschritten und dabei mit seinen Bewohnern gesprochen, wird erfahren haben: Es teilt sich das Pflerer Tal in Außer- und in Innerpflersch. Und zwar ziemlich rabiat.

Dermaßen, daß ein Außerpflerer nicht ohne guten Grund nach Innerpflersch: nie. Und ein Innerpflerer selbst nicht mit gutem Grund nach Außerpflersch: außer er müßt in die ferne Stadt hinaus. Dann aber beeilt sich der Innerpflerer in Außerpflersch und hält die Augen fest geschlossen. An der Gossensasser Brücke schließlich öffnet er sie wieder, und sieht sich das Malheur an seinem Reiseuntersatz an. Und umgekehrt.

Weswegen auch der Innerpflerer meist in Innerpflersch, der Außerpflerer meist in Außerpflersch verbleibt.

Deshalb auch ist der Schleierbach, der das Tal in Außer und Inner teilt, wie das glührote Messer den Butter, seit jeher eine Gegend, in der ein Genosse sich umtreibt, den alle, Inner wie Außer, den Schreier nennen. Man sagt, er gehe am Schleierbach um, der Schreier, seit, vor hunderten von Jahren – zu einer Zeit, als es noch kein Außer und kein Inner, sondern nur ein einziges Pflersch gegeben –, in diesem Pflersch, und zwar außen wie innen, allerreichste Bergwerksvorkommen sich gefunden, und die Gegend also, nach viel Graben und Hauen, zu einigem Wohlstand gekommen. Damit aber, mit dem Silbervorkommen, sei es auch, wenn auch nicht gleich vom ersten Tage an, so doch alsbald, zu Streitereien gekommen im Pflerer Tal, und alsbald zur Scheidung in Inner- und Außerpflersch. Und dabei war es die nächsten hunderte von Jahren geblieben, selbst als der Bergwerksreichtum sich wieder verzogen, als ob ins Innere des Gebirgs retour. Als ob beleidigt.

Und geblieben war der Schleierbach. Und geblieben auch der Schreier vom Schleierbach.

Die Innerpflerer sagten, er sei ein Riese, dieser Schreier. Die Außerpflerer beschrieben ihn als einen Zwerg. An manchen Tagen. An andren Tagen ging sie umverkehrt, die Rede vom Schreier.

Der Schreier hauste seit jeher, seit er also zusammen mit dem Silber im Tale aufgetaucht war, am Schleierbach. Wenn der Bach hoch ging, und das tat er oft, hing sein Wasser neblig wie ein Schleier über Bachbett und Brücke.

Der Schreier saß tagsüber im Schleier des Baches, machte sich nichts daraus, daß er auf und auf naß war, summte vor sich hin und wartete die Dämmerung ab. Nachts dann ging er mal nach draußen ins Tal, mal nach drinnen ins Tal, und tat dabei nichts lieber, als mit seinem markdurchdringend gespenstischen Geschrei des Weges kommende Pflerer zu erschrecken. Das war sein Vergnügen. Und außer für die zu Tod Erschreckten war es ein harmloses.

Wer aber des Nachts im Pflerer Tal unterwegs war, mußte recht gute Gründe dafür haben. Wie zum Beispiel ein, zwei, drei Viertel Rot im Wirtshaus. Oder sonstige Untaten. Weil der Schreier aber nicht katholisch war, konnte er, trotz seiner Abstinenz, es auch dem Pfarrer nicht recht machen. Außerdem führte der Innerpflerer Pfarrer selbst auch ein Wirtshaus. Direkt an der Kirch in Innerpflersch. Vor und nach der Messe. Während der Messe ermahnte er seine Schafe. Und wetterte gegen den Schreier.

Weshalb der Schreier gern, wenn von der Kellerei St. Pauls wieder ein Holzfaß Missianer Rot geliefert wurde, an der Brücke über den Schleierbach auf den Ochsenkarren sprang und sich am Spundloch des Fasses zu schaffen machte. Die Innerpflerer sagten, er hätte was herausgesoffen. Die Außerpflerer, er hätte was hineingeschifft. Der Pfarrer sagte, die Paulser nähmen es nicht mehr so genau, mit den unreif fuchseten Weimern, den noch halbgrünen Trauben, deshalb der Wein dann auch ein Sauremus. Und daß er zur Girlaner Kellerei wechseln würde. Bis er deren Preise hörte. Nach drei Tagen spätestens aber hatten sich die Innerpflerer den Wein schöngetrunken, und der Disput hörte auf. Daraufhin kümmerte sich der Schreier um die Weinlieferungen der Außerpflerer.

Es war aber ein junges Mädchen eines Tages, weil es ihr zu viel geworden war mit den Männern im Tal, innen wie außen, allein am Schleierbach talaus unterwegs. Und sang vor sich hin. Da erhob sich ein Wind, leis. Verblies allen Nebel. Woraufhin sie auflachte, und sagte: Weg isser, der Schleier vom Schleierbach. Und da hörte sie, durchaus nicht unschön, und gar nicht laut, ein Singen. Vom Schleierbach her.

Varkehrt harum

Ummedumm ummedumm

Varum dakehrt

Olledumm olledumm

Mi grosz, ti kluan

Zaubastuan, Zaubastuan

Mi pitschl, ti Gitschl

Nixfaluan, nixfaluan ***

Sehr schön, sagte das Mädchen, und lachte.

Und seit diesem Tag war der Schreier vom Schleierbach verschwunden. Und blieb verschwunden bis an den Rest der Tage. Das Mädchen fand sich an einem sonnigen Strand wieder. Ansonsten aber änderte sich nichts. Auch nicht am Wein.

*** (Versuch einer annähernden Übertragung) Verkehrt herum Rundherum, rundherum Weswegen verdreht Alle dumm, alle dumm Ich groß, du klein Zauberstein, Zauberstein Ich klein, du Mädchen (Du hast hier) Nichts verloren, nichts verloren