Wenn der Staat der Pate ist

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Wenn der Staat der Pate ist
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Inhaltsverzeichnis

Impressum 2

Zitat 3

Vorwort 4

1. Präludium. Bildung – die Ursache von Illusionen 6

2. Wissen ist Macht. Was macht man mit dem Wissen? 12

3. Antiscience – wenn Wissenschaft unwissenschaftlich ist 17

4. Dieselgate – ein Rückblick in die Zukunft (überarbeiteter Aufsatz in umg 2018; 30(4): 48-49) 29

5. Evolution und der Verlust der Vertrautheit 35

6. Epigenetik und die Unantastbarkeit der Würde 40

7. Die umweltmedizinische Versorgungssituation in Deutschland 44

8. Umweltmedizin – die Ignoranz einer Notwendigkeit 50

9. Umweltmedizin – Politik und Gesundheitspolitik 62

10. Die verpassten Chancen 68

11. Die Chlorchemie – wenn Fortschritt die Menschheit zurückwirft 80

12. Die COVID-19 Pandemie – ein unvollendetes Drama in vielen Akten 86

13. Sozio-biologische Symbiose 114

14. Engagement der Bürgergesellschaft 119

15. Literatur 121

16. Anhang: Schreiben an Institutionen im Frühjahr 2020 132

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2021 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-99107-661-2

ISBN e-book: 978-3-99107-662-9

Lektorat: Tobias Keil

Umschlagfoto: Berdsigns, Amandee | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

Zitat

„Die Welt, die wir geschaffen haben,

ist das Resultat

einer überholten Denkweise.

Die Probleme,

die sich daraus ergeben,

können nicht mit der gleichen Denkweise gelöst werden,

durch die sie entstanden sind.“

Albert Einstein

„Die Gedanken kluger und weiser Menschen

nehmen wir gerne

zur Kenntnis.

Allein wir handeln nicht danach.“

Kurt E. Müller (2021)

Vorwort

Innere Haltung und ethische Basis des ärztlichen Handelns beruhen auch heute noch auf einem „sittlichen Grundgesetz des Arztes“, nämlich dem Hippokratischen Eid, an dem die Tätigkeit des Arztes „zu Nutz und Frommen der Kranken nach bestem Vermögen und Urteil, mit Bewahrung vor Schaden und willkürlichem Unrecht“ orientiert ist. Der Staat, die ihn verwaltenden Politiker der Exekutive, die Organe der Legislative sowie Parlamente und Abgeordnete und deren Behörden und Mitarbeiter sind dem Grundgesetz und dem darin enthaltenen „Recht auf körperliche Unversehrtheit physischer und psychischer Art“ der ihnen anvertrauten Bürgerinnen und Bürger verpflichtet. Bei dieser klar festgelegten bindenden Aufgabe sind offenkundige Verletzungen, Missachtungen und Verdrehungen des verfassungsgemäßen Schutzes des Individuums sehr verwunderlich.

Bei zahlreichen Themen und Fragestellungen ist bei der Formulierung von Gesetzen, Ausführungsbestimmungen und Entscheidungen sowohl bei staatlichen Behörden, den verantwortlichen Politikern, aber auch bei vielen Berufs- und Standesorganisationen eine offenkundige Diskrepanz zwischen den wissenschaftlich gesicherten Erkenntnissen zum Wohle des Individuums einerseits und den entsprechenden Entscheidungen der Verantwortlichen im Staate andererseits zu erkennen. Dieses Dilemma kann man bei den ermüdenden Diskussionen über den Sinn von Einschränkungen der Freiheitsrechte für die Gesundheit der Menschen, bei der Diskussion um die Lizenzierungen der 5G-Netze, bei der zögerlichen Debatte um toxische, immunotoxische und endokrine Umweltschäden, bei den Debatten im Rahmen der dringenden Klimawende, der Verkehrs- oder Agrarwende deutlich erkennen.

Es besteht ein offenkundiger Bruch im Konflikt zwischen der Notwendigkeit einer ethischen Ausrichtung und den eher ökonomischen Interessen der Entscheider und der dem Grundgesetz verpflichteten Politiker. Entscheidungen werden gefühlt und immer wieder auch nachprüfbar durch zahlreiche Interessengruppierungen, Lobbyisten und Verbände beeinflusst, in der Regel so dass am Ende das Recht auf Unversehrtheit der physischen und psychischen Gesundheit in vielen Bereichen missachtet oder bis zur Unkenntlichkeit gebeugt wird.

Dieses Dilemma, dieser unüberwindbare Bruch führt den seit Jahrzehnten den Arztberuf engagiert, aufrichtig und ernsthaft ausübenden Umweltmediziner und Gründungspräsidenten zweier Fachgesellschaften und Autor dieses Buchs an fast unüberwindbare Grenzen, die er in diesem spannenden Werk ausführlich beschreibt. Das hier vorliegende Buch ist ein Statement gegen willkürliche Entscheidungen von Staatsorganen, die von Wirtschaftsverbänden und verschiedensten Interessengruppierungen beeinflusst werden, die allein ihren Interessen dienend ethische Entscheidungen ins Abseits stellen, aber auch ein Statement gegen die Nachlässigkeiten in den eigenen Reihen der Ärzteschaft. Mit zahlreichen Beispielen belegt er, wie wichtige Prozesse zum Schutz der Menschen von zahlreichen medizinischen und staatlichen Institutionen übersehen, negiert und zum Teil mit unlauterer Begründung ins Gegenteil verkehrt werden.

Es ist ein längst überfälliges Buch und Dokument, mit dem die zahlreichen Zumutungen wichtiger Entscheidungsträger mit dem Blick auf den Schutz der Gesundheit der Menschen thematisiert werden. Die dabei berührten Themen betreffen nicht nur die zu wenig beachteten und verharmlosten Umweltbelastungen (als Beispiel dient der lange Konflikt um Glyphosat), über die der Autor höchste Kompetenz besitzt. Auch andere Konflikte spielen eine Rolle wie Infektionsschutz, Klimarettung, Verkehrs-, Mobilitäts- und Agrarwende sowie andere Maßnahmen der Vorbeugung von Krankheit (Prävention) und Gesundheitsschutz, bei denen der Staat seinen Bürger keine ausreichende Sicherheit gewährt. Eine neue, wichtige Debatte, die gerade in einem Wahljahr angesichts der COVID-19 Thematik Fahrt aufnehmen sollte.

Prof. Dr. Alfred Wolf, Ulm

1.

Präludium. Bildung – die Ursache von Illusionen

Das Gymnasium, das ich besuchte, war ein „humanistisches Gymnasium“. Zu einem Kloster gehörend, reduzierte sich der Anspruch „humanistisch“ eher auf altsprachlich, worunter die Sprachen Latein und Griechisch und die Anknüpfung an die Literaten der Antike, insbesondere Cicero, zu verstehen waren. Auch die hohe Rede (eloquentia) gehörte dazu (Petrarca). Die Gründung vieler Bildungsinstitutionen einschließlich der ersten Universitäten war damit verknüpft (Agricola, Celtis, Mutianus Rufus). Das sehr facettenreiche Bild des Humanismus mit dem Gedanken der Bildung zur Menschlichkeit war der katholischen Kirche allerdings eher suspekt, hatte doch früh schon der Erfurter Humanistenkreis (Erasmus) eine freie Religiosität und die Verbindung der Inhalte der Evangelien mit Gedanken von Platon und der Stoa herstellen wollen. Dass der Gedanke des Humanismus auch bei Luther auftauchte und mit dem Neuhumanismus von Karl Marx 1843 als letztes Ziel des Kommunismus beschrieben wurde, war sicher nicht Gegenstand des Verständnisses dieser Klosterschule. Dennoch: Der Gedanke einer Bildung zur Menschlichkeit und der später daraus gebildete Begriff der Humanität prägten meine Vorstellung vom Umgang der einzelnen Menschen miteinander, der Gesellschaft untereinander und der Staaten gegenseitig. Umso mehr, als der 2. Weltkrieg erst kurz zurücklag. Man erlag dem Trugschluss, dass eine Welt künftig in diesem humanistischen Verständnis funktionieren würde, weil die so gebildeten Menschen dementsprechend handeln würden, wenn sie Positionen erreichen, die dies möglich und erforderlich machen. Dieser Trugschluss prägte mein ganzes Leben und obwohl ich um ihn weiß, lässt mich diese Illusion nicht ganz los.

Wer eigene Kinder hat, kennt das Problem. Sie lernen in der Schule, wie wichtig das historische Verständnis ist, um jüngere Entwicklungen besser zu verstehen und richtig einzuschätzen. Heute, im Zeitalter der Digitalisierung, bezeichnen sie gerne solche Kenntnisse als totes Wissen. Will man sie dennoch von der Nützlichkeit solcher Grundkenntnisse und Gedanken überzeugen, wird einem bewusst, dass man zwei Personen gleichzeitig täuscht. Zum einen um sich nicht eingestehen zu müssen, dass man seit seiner Jugend einer humanistischen Illusion nachhängt, zum anderen die Kindergeneration, um sie in der Motivation zu bestärken, das Gleiche zu tun, was sich im eigenen Lebensablauf nicht bestätigt hat. Was heute zählt, sind das Jetzt und seine Optimierung. Täte man nicht besser daran, den Kindern dieses Bewusstsein zu stählen, wenn man sie für die Realität des Lebens besser vorbereitet erziehen will? Dass der Großvater sein eigenes Jetzt und Nun nicht im Auge hat, wenn er den Wald pflanzte, sondern das der Kinder und Enkel, wird nur noch in Märchen erzählt. Die Generation der Erwachsenen hat es sich längst angewöhnt, ein Darlehen bei der Zukunft der Kinder zu nehmen. Das trifft nicht ausschließlich beim Klima zu. Die Dekompensation funktioneller Regelkreise der Menschen ist viel weiter fortgeschritten als die der Steuerung des Weltklimas. Die COVID-19 Pandemie ist ein düsteres Beispiel. Es interessiert sich niemand dafür, in welchem Ausmaß geänderte Bedingungen der Menschen Teil des Problems sind. Es gibt keine Greta für diese Probleme des menschlichen Organismus, obwohl die Generation Greta selbst bereits betroffen ist wie keine Generation zuvor.

 

Harari stellt in seinem Buch „Homo Deus“ (S. 490–491) das Ganze mit wenig Hoffnung nüchtern und kritischer dar. Er warnt davor zu versuchen, zu sehr in uns hineinzuhorchen, da wir „häufig von einer Kakophonie widerstreitender Geräusche (Anmerkung: in uns) überflutet werden“. Gleichzeitig befürchtet er einen Techno-Humanismus, der die Menschen am Ende „downgraden“ könnte. Dieses System, so fährt er fort, „dürfte zurückgestufte Menschen bevorzugen, nicht weil sie über irgendeinen übermenschlichen Knacks verfügen, sondern weil es ihnen an einigen wirklich störenden menschlichen Eigenschaften fehlen würde, die das System behindern oder verlangsamen“. Beim Lesen seiner Zeilen wurde mir klar, dass ich an diesen „störenden menschlichen Eigenschaften“ schon sehr früh erkrankte. Am Ende des Abschnitts resümiert er, dass wir über Millionen Jahre Schimpansen in verbesserter Ausführung waren. Er befürchtet, dass wir in Zukunft Ameisen in Übergröße werden könnten. Diese Entwicklung ist politisch quer durch alle Parteien und in der Weltwirtschaft so gewollt. Mit Bildung wird man nichts verhindern. Gestalten kann man nur mit zwei Mitteln – mit Geld und mit Macht, am besten mit beidem. In dieser Welt ist der Humanismus ein Handicap. Den fairsten Umgang von Menschen miteinander habe ich persönlich im Sport erlebt, der inzwischen allerdings nicht nur an Doping leidet, sondern auch in eine Abhängigkeit von der Droge Geld geraten ist.

Die Zäsur

Der Beginn des Medizinstudiums fiel mit einer relevanten sozialen Zäsur zusammen. Ich gehörte plötzlich der Generation an, die man später als die „68er“ bezeichnete. Um es vorwegzunehmen – in kaum einer Generation der Vergangenheit ist der Widerspruch zwischen dem Anspruch der Kindergeneration an die Eltern und der dann erbrachten eigenen Leistung dieser Kindergeneration im Erwachsenenalter größer gewesen, als es bei den „68ern“ war, wie sie wegen der Ereignisse in jenem Jahr genannt wurden. Es ist zweifellos unter soziologischen Gesichtspunkten ein Verdienst dieser Generation, dass sie mit vielen Verkrustungen der Vergangenheit brach. Die sexuelle Revolution ist nur ein Teilaspekt. Die Bürgerrechtsbewegung der Afroamerikaner in den USA war in den 60er Jahren der Beginn und fand in vielen Ländern die Fortsetzung in den Protesten gegen den Vietnam Krieg. Daniel Cohn-Bendit, der die Odenwald-Schule besucht hatte, radikalisierte damals die Studentenschaft in Paris (Dany le Rouge). Des Landes verwiesen und nach Deutschland zurückgekehrt, schloss er sich in Frankfurt der militanten Gruppierung an, aus der später der Realo Flügel der Grünen um Joschka Fischer hervorging. Als Promotoren dieser Strömungen werden viele Faktoren genannt, von den einige erwähnt, aber nicht näher diskutiert werden sollen: Antiimperialismus, Antikolonialismus, Ausstieg aus dem Kapitalismus und Aufdeckung von Mechanismen der Beherrschung und Unterdrückung. In den sehr unterschiedlichen Biotopen deutscher Universitäten hatte es zur Folge, dass hierarchische Strukturen unterlaufen, Autoritäten und Institutionen beschädigt und akademische Historie achtlos zur Seite geworfen wurden. Gewalt und Radikalität waren vielfach, aber an den einzelnen Universitäten unterschiedlich eingesetzte Mittel. Während die korporierte Studentenschaft an der Pflege der Tradition weiter festhielt, orientierte sich die übrige Studentenschaft in einer Neuen Linken, die in ihrem Selbstverständnis ein breites, aber auch sehr unterschiedliches Feld bot. Die Radikalität der Studenten bekam nicht zuletzt auch deshalb eine so große Bedeutung, weil die politischen und universitären Mandatsträger Gemäßigten wie Knut Nevermann in Hamburg, Sohn des damaligen Bürgermeisters der Stadt, nicht zuhören wollte. Ein genereller Fehler der Etablierten. Letztendlich resultierte aus dieser dissoziierten Entwicklung ebenso die kriminelle RAF wie die heutige Partei Die Grünen, die nach der Koalition mit Bündnis 90 inzwischen auf dem Weg zu einer Volkspartei sind. Sie haben es längst gelernt, ausschließlich noch solche Themen aufzugreifen, die machtpolitisch von Interesse sind. Wie sonst wäre es beispielsweise zu erklären, dass die, die früher nur noch Naturfasern am Körper tragen wollten und vegane Kost für unabdingbar hielten, einer ungehemmten Digitalisierung das Wort reden, ohne auch nur einen Gedanken an bereits bekannte oder mögliche Risiken zu verschwenden. Es ist nicht mehr erkennbar, dass sich diese Partei einmal vehement für die Wahrung der Bürgerrechte eingesetzt hat.

Im Studium der Medizin kam Radikalität nicht so sehr zum Tragen wie in anderen Fakultäten der Universitäten, weil der Umgang mit kranken Menschen zwangsläufig weiter ein gewisses Maß an Besonnenheit erforderte und der schulische Ablauf des Medizinstudiums dies kaum zuließ. Ich arbeitete freiwillig auf den Intensivstationen im Nachtdienst von 20 bis 7 Uhr und ging um 8 Uhr in die Vorlesung. Es brachte 2,50 DM pro Arbeitsstunde, verbesserte das Budget und dämpfte die Bereitschaft zu extremen Positionen oder Handlungen. In der Rückschau hat jedoch die Generation der 68er ihre antikapitalistische Haltung aufgegeben, ist den Verlockungen von Karriere und Geld gefolgt und hat einen noch stärkeren Kapitalismus entstehen lassen. Der Geldtransfer von unten nach oben wurde weiter intensiviert, der Shareholder Value anderen gesellschaftlichen Notwendigkeiten vorgezogen, der hierarchischen Umgang in Wissenschaft und Forschung bewahrt. Bei der Realisierung ökologischer Ziele versagt diese Generation völlig. Die Fehler, die zu einer Klimakatastrophe führen können, gehen weitgehend zu ihren Lasten. Die Verletzung der biologischen Integrität der Menschen schritt unbehindert fort und ist ein bis heute ignoriertes Problem, obwohl es uns viel näher ist als die Klimakatastrophe und uns schon jetzt bedroht. Pandemien werden die Klimakatastrophe der Gesundheit sein. Wie kritisch die Situation ist, wird erst dann wahrgenommen werden, wenn die Kosten aus dieser Entwicklung den ökonomischen Nutzen der praktizierten Strategien übersteigen. Die individuelle Redlichkeit und das Aufbegehren bei Unrecht und Ungleichheit, das Einsetzen für soziale Gerechtigkeit und Chancengleichheit für und bei Bildung sind auf der Strecke geblieben. Die Ziele haben einen Stern, vier Ringe oder eine Niere. Sie stehen am Stadtrand und haben in jedem Zimmer TV und einen Pool im Garten. Für ein oder zwei Winterurlaube ist es das Chalet mit Kamin. Hängen sie am Hals, ist ein Karat ein Muss. Kinderarmut kennt man nicht. Sie ist so unauffällig und so still. Es wurde mühsam, wenn man zu denen gehörte, die die in den 68er Jahren gewonnenen positiven Erkenntnisse in demokratisch gelebtes Leben umsetzen wollten. Horkheimer und Adorno stand ich damals, als sie lehrten, eher distanziert gegenüber, wenn sie feststellten, dass angesichts von inneren und äußeren Feinden Demokratien schon immer den Kern des Anti-Demokratischen in sich tragen. Ich habe lernen müssen, dass die Raster der Zuordnung für das eine oder das andere tatsächlich bedarfsgerecht verschoben werden können. So wundert es nicht, dass in der Nachkriegszeit Richter ihren Beruf auf einer gänzlich anderen Rechtsbasis ausübten als noch wenige Jahre zuvor. KZ-Ärzte, die sich mit Experimenten der Bewusstseinskontrolle an KZ-Insassen vergangen hatten, wurden hernach in demokratischen Systemen mit leitenden Aufgaben betraut. Nicht nur die Waffen- und Raketentechniker. Wer hingegen Unrecht aufdeckt, dessen Entlarvung einem demokratischen System unangenehm werden kann, lebt gefährlich. Wie weit das geht, hängt vom Mut Einzelner ab. Die Bereitschaft, diese Personen scheitern zu lassen, auch wenn sie recht haben, ist immer größer als die Bereitschaft, etwas grundsätzlich zu ändern. Gerade die aktuelle Diskussion der COVID-19 Pandemie dokumentiert, dass ein offener Disput wissenschaftlicher Meinungen nicht stattfindet, die Medien und der Journalismus eine Selektion in gute und schlechte Wissenschaft vornehmen und die Gesellschaft an der tatsächlich vorhandenen Pluralität der Positionen nicht teilnehmen lassen. Das fördert die Verknüpfung notwendiger Kritik mit politisch und sozial bedenklichen Entwicklungen und die logistische Nutzung sozialer Medien, wie es die Meinungsträger national und international selbst längst auch tun. Der Whistleblower ist überall gefährdet und in Isolation.

2.

Wissen ist Macht. Was macht man mit dem Wissen?

Das Gesundheitswesen befindet sich in einer politischen, sozialen und finanziellen sowie, was schlimmer noch ist, in einer intellektuellen Krise. In Letzterer ist die Ärzteschaft tief involviert. Die über 1 Milliarde Euro, die die Gesellschaft seit 1 ½ Jahren täglich für das Gesundheitswesen ausgibt, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es an Effizienz mangelt. In allen Bereichen chronischer Erkrankungen liegt die BRD innerhalb der EU bestenfalls im Mittelfeld, obwohl sehr viel mehr Geld zur Verfügung steht als in den anderen Mitgliedsstaaten. Wollten wir die wachsende Zahl an Demenz erkrankten Menschen in Zukunft so betreuen, wie es das Menschenbild unserer Verfassung vorgibt, würden wir allein dadurch die Grenzen der personellen und ökonomischen Möglichkeiten erreichen. Für 2018 werden für Deutschland 1.534.170 Mio. Demenzkranke genannt (Deutsche Alzheimer Gesellschaft). Bis 2060 wird ein Anstieg auf 2,3 Mio. erwartet. Das entspricht 34% der über 65jährigen (Statista: Dosier Demenzerkrankung 2020). Eine funktionierende Primärprävention ist so gut wie nicht existent. Sie würde auch den Markt des Geschäfts mit der Krankheit verderben. Es gibt zwei sehr unterschiedliche Lösungswege: den macht- und ordnungspolitischen oder den inhalts- und strukturanalytischen.

Im Gesundheitswesen werden Entscheidungen in der Regel machtpolitisch getroffen. Die Vorgehensweise ist dabei reduktionistisch. Die Methoden werden so gewählt, dass das anvisierte Ziel erreicht werden kann, ja erreicht werden muss. Leicht findet man die notwendigen Experten. Nichts lässt sich besser kalkulieren als die Expertenmeinung, die man sich passend zum gesetzten Ziel aussuchen und einkaufen kann. Damit ist nicht Bestechlichkeit gemeint. Diese ist ein zusätzliches Problem. Gemeint ist die Position „Wes Geld ich nehm, des Lied ich sing“. So bedient sich die Politik scheinbarer seriöser Meinungsbildung und kann vermeintlich nicht anders handeln, als sie es tut. Ihre Gutachter werden als besonders qualifizierte Gutachter angesehen, da sich eine politische Institution oder der Staat ja ihrer bedient. Jede andere Meinung rutscht in ein hierarchisches Gefälle und gilt als weniger kompetent. Wie siamesische Zwillinge wachsen Politik und Experten miteinander heran. Bei der Meinungsbildung und der Informationspolitik zu COVID-19 wird es überdeutlich. Man muss in diesem Zusammenhang sogar von Zensur sprechen, die mit den digitalen Medien nicht etwa schwerer, sondern bedarfsweise viel leichter funktioniert. Es spricht nicht gegen diese Feststellung, wenn Meinung grundsätzlich leichter dargestellt werden kann. Wenn aber Beiträge jederzeit entfernt werden können oder die Tatsache der Präsentation in diesen Medien bereits als ein Qualitätsmangel angesehen wird, ist eine Diskussion auf Augenhöhe nicht zu erwarten.

In dem von mir unmittelbar miterlebten Feld kann die Studie des Umweltbundesamts (UBA) zur Untersuchung der Eigenschaften der Multiplen Chemikalien Sensitivität (MCS) exemplarisch herangezogen werden, die durch das Robert Koch-Institut (RKI) durchgeführt wurde einer Institution, der man eine besondere Bedeutung infolge des unabhängigen und neutralen Gebrauchs von Wissen und Wissenschaft gibt.

 

Es handelt sich bei MCS um Patienten, die eine starke und rasch einsetzende Überempfindlichkeit gegenüber alltäglich vorkommenden Chemikalien entwickelt haben, welche sie zuvor als Gesunde problemlos vertragen haben. Die Mechanismen sind nur teilweise geklärt. Sie sind nicht toxischer oder allergischer Natur. Vielmehr kommt es auf der Grundlage genetischer und epigenetischer Variabilität zu einer komplexen Störung physikalischer, biochemischer und immunologischer Effekte. In den Bereichen, in die ich im Laufe vieler Jahre Einblick in die Arbeit des RKI nehmen konnte, kann ich eine Neutralität und stringente Wissenschaftlichkeit nicht bestätigen. Der Vertreter des UBA stellte bei der angesprochenen Studie bereits bei der Eingangskonferenz zum Thema fest, dass sie kein anderes Resultat zeigen kann, als dass es sich um eine psychische oder psychosomatische Erkrankung handelt. Warum hatte man dieses Ziel?

Die Prosperität der BRD wurde über lange Zeit stärker durch die Leistungsfähigkeit der chemischen Industrie als durch die Autoindustrie bestimmt. Ein Viertel der weltweiten Produktion chemischer Substanzen fand damals auf westdeutschem Boden statt. Es fiel auch ein Viertel der unerwünschten gasförmigen, an Partikel gebundenen und festen Abfallstoffe an und sie wurden über dieses kleine Land in der Luft verteilt, in das Wasser geleitet oder sorglos in den Boden vergraben. Es bestand ein gemeinsames Interesse von Industrie und Staat, die Erkennung des Risikos gering zu halten. Zwei Disziplinen der Medizin sind dabei hilfreiche Assistenten: die Toxikologie und die Psychiatrie. Warum? Die Toxikologie untersucht die Giftigkeit von einzelnen Stoffen in kurzen Zeiträumen. Damit wird ein künstliches Szenario geschaffen, das allenfalls bei (beruflichen) Unglücken eine Rolle spielt. Die Realität der Situation der Bevölkerung besteht darin, dass Langzeitexpositionen von niedrigen Mengen, dafür aber sehr komplexen Schadstoffgemischen vorliegen, die oftmals eine lange Speicherdauer aufweisen. Sie reichern sich deshalb stetig im Körper an. Ein Sachverhalt, dem im Kapitel der COVID-19 Pandemie noch besonderes Augenmerk geschenkt wird. Die Toxikologie untersucht diesen Sachverhalt nicht und berücksichtigt die Unterschiedlichkeit der Toleranz einzelner Personen (Suszeptibilität) auch nicht. Sie informiert auch nicht über die Grenzen ihrer Möglichkeiten, sondern suggeriert, dass unterhalb einer so ermittelten Schwellendosis nichts passieren könne. Die Institutionen signalisieren auf dieser Basis der Bevölkerung eine Wissenschaftlichkeit, die nicht existiert. Erst jüngst hat Straub in einem exzellenten, international beachteten Buch dargestellt, dass sich chronische Krankheiten über lange Zeiträume durch das Zusammenwirken genetischer Gegebenheiten und ständiger Einflüsse aus der Umwelt entwickeln. Wie auch anders – die gesamt Evolution hat sich dieses Wegs bedient. Die eigene Überschätzung der Menschen führt zu einer Unterschätzung der Macht der Natur. Die chemische Industrie der Nachkriegszeit hatte ein großes Interesse daran, Zusammenhänge von Krankheit und Exposition mit Chemikalien ungeklärt zu lassen. So wundert es nicht, dass für das Studienkonzept des RKI ausschließlich psychiatrische Aspekte gewählt wurden. Funktionelle Analysen, die in der wissenschaftlichen Literatur bereits publiziert waren, wurden nicht berücksichtig. Auf diesen Sachverhalt wird im nächsten Kapitel genauer eingegangen.

Wie geht man vor, einer Position internationale Bedeutung zu geben? Man holt sich eine renommierte Institution an die Seite. Die Welt-Gesundheitsorganisation (WHO) ist eine solche Institution, mit deren Hilfe man der eigenen vertretenen Meinung mehr Gewicht verleihen kann, wenn diese Organisation mit dieser übereinstimmt. Auf Betreiben der chemischen Industrie kam es zu einem Treffen in Berlin. Die chemische Industrie erwartete eine Änderung der Diagnose Multiple Chemikalien Sensitivität (Multiple Chemical Sensitivity, MCS) in Idiopathische Umwelt Intoleranz (Idiopathic Environmental Intolerance; IEI), um den Begriff Chemikalien aus der Diagnose zu entfernen, da dieser Zusammenhang nicht bewiesen sei. Es waren u. a. Vertreter der chemischen Industrie, der nationalen Behörden, zwei amerikanische Wissenschaftler und ein Mitglied der WHO eingeladen worden. Ich hatte als damaliger Vorstandsvorsitzender und Gründungspräsident des Deutschen Berufsverbands der Umweltmediziner (dbu) keine Einladung erhalten, obwohl die Ärzte des dbu die einzigen waren, die solche Patienten auch in nennenswerter Zahl betreuten. Der Öffentlichkeit wurde später in einer Pressekonferenz das Treffen als eine Konferenz der Welt-Gesundheitsorganisation (WHO) dargestellt, auf der beschlossen worden sei, dass MCS in IEI umzubenennen sei. Die Industrie hatte vermeintlich ihr Ziel erreicht. Diese Strategie hatten sich mit der Industrie kooperierende Personen ausgedacht, denen wir als Beamte von Behörden eine besondere Sicherheit ihrer Existenz aus unserem Steueraufkommen bieten und denen wir besonders vertrauen. Der WHO-Vertreter stellte hernach klar, dass es eine Konferenz der WHO in diesem Zusammenhang nie gab (s. nächstes Kapitel) und dass er als WHO-Repräsentant lediglich Gast dieser Veranstaltung war. Fachliche Inkompetenz, strategisches Geschick und Verlogenheit wurden zu Lasten der Kranken und der Gesellschaft eingesetzt. Sie wurden von denen umgesetzt, zu denen wir auf Grund der Zugehörigkeit zu scheinbar neutralen, vom Bürger finanzierten Institutionen ein besonderes Vertrauen haben. Das wiederholt sich bei COVID-19 und 5G erneut.