Buch lesen: «PLATON SIEHT CHEMTRAILS»
Kristjan Knall
Platon sieht Chemtrails
Eine Abrechnung mit Verschwörungstheorien
Außer der Reihe 51
Kristjan Knall
PLATON SIEHT CHEMTRAILS
Eine Abrechnung mit Verschwörungstheorien
Außer der Reihe 51
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© dieser Ausgabe: Februar 2021
p.machinery Michael Haitel
Titelbild: N.N. | Pixabay
Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda
Lektorat & Korrektorat: Michael Haitel
Herstellung: Schaltungsdienst Lange oHG, Berlin
Verlag: p.machinery Michael Haitel
Norderweg 31, 25887 Winnert
www.pmachinery.de
ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 224 9
ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 870 8
Beginn
»There’s something going on!«, tweetete Donald Trump. Er hatte recht. Meine Forscherkollegen am MIT Massachusetts prüften unlängst, ob Aluhüte gegen Strahlungen schützen. Sie gingen alle Formen durch: konisch, chinesisch, handgeformt, traditionelle Melone. Das erstaunliche Ergebnis: Aluhüte verstärken die Strahlen!
Verschwörungstheorien sind wie Epidemien: Wenn man sie nicht stoppt, breiten sie sich aus – vernichten. Übertrieben? Der prominente Impfgegner John Wilson löste mit gefälschten Studien eine Impfverweigerungswelle auf, über sechshundert Kinder starben.1 War er korrupt? Natürlich. Hätte er es gewesen sein müssen? Nein. Der Mensch ist ein geborener Verschwörungstheoretiker.
Wie viel Elend verursacht bis heute die in Nordafrika verbreitete Theorie, die Pharmakonzerne wollen aus Absatzgründen vertuschen, dass Sex mit einer Jungfrau AIDS heilt? Man kann es sich nur vorstellen. Der angebliche Angriff auf den Sender Gleiwitz, die nicht existenten Torpedos von Tonkin und die Brutkastenlüge sind Endpunkte paranoiden Antisemitismus, Antikommunismus und Xenophobie. Sie lösten vom Zweiten Weltkrieg über den Vietnam- bis zum Irakkrieg Millionensterben aus. Verschwörungstheorien sind kein Kinderspiel. Sie sind Massaker in spe.
Nicht mein Problem? Und wie. Statistisch gesehen ist fast jeder Dritte paranoid. Deine Nachbarn, Brüder, Freunde: vier Prozent der Deutschen glauben, die Medien würden »von ganz oben gesteuert« und verbreiteten deshalb »geschönte und unzutreffende Meldungen«. Sieben Prozent der Amerikaner glauben, die Mondlandung wäre eine Fälschung gewesen. Dreiundvierzig Prozent glauben, »dass Prinzessin Diana 1997 einem Mordanschlag zum Opfer fiel«. Vierunddreißig Prozent achten darauf, im öffentlichen Raum keine Gegenstände zu berühren, z. B. Haltestangen in der U-Bahn, aus Angst sich mit Keimen zu infizieren. Zweiundvierzig Prozent sagen von sich, dass sie bestimmte Rituale ausführen, um ihren inneren Frieden zu finden. Fünfzehn Prozent denken, dass ihre Lieblingsmannschaft eher gewonnen hätte, wenn sie das Spiel geschaut hätten. Neunundzwanzig Prozent vermeiden es, auf die Ritzen in Gehwegplatten zu treten – und fast jeder Zweite denkt, dass er spüren kann, wenn er von hinten angeschaut wird. Das alles könnte ich noch verkraften. Aber nicht Madonna. Die nannte 2015 ein Lied »Illuminati« und sagte, »ich weiß, wer die Illuminaten sind und wo sie herkommen.«2 Und das schließt Klimaskeptiker noch nicht mit ein.
»Was tun?«, fragte Lenin. »Revolution!«, antworteten alle, die nicht erschossen werden wollten. Bei Verschwörungstheoretikern ist es die geistige Revolution. Ich habe mich an drei Arten versucht, die ich hier für euch, die Nachwelt, festhalte. Ihr könnt daraus lernen, lachen oder weiter auf Echsenmenschen lauern. Nur eins könnte ihr nicht: Alles, was ich euch erzähle, ungehört machen. Wenn ihr ab jetzt weiter Idioten sein wollt, dann ist das keine Unwissenheit, sondern Vorsatz.
Der Unwissende wird also bei den Unwissenden
mehr Glauben finden als der Wissende.
– Platon
Prolog: Die Wette von Attika
»Huhu!«
»Was?«
»Hier oben!«
Da trifft mich der Blitz des Zeus. Epikur hängt zwischen zwei Bäumen, in einer Matte!
»Was ist denn das schon wieder für ein neumodischer Unfug?« Ich stütze die Arme in die Hüften, wie es sich für einen attischen Edelmann gehört.
»Höre ich da aufrichtige Entrüstung?« Er dreht sich nicht mal mehr zu mir um!
»Wie sonst soll man solcher … Untat denn begegnen?«
»Sagt unser werter Herr, der im ewigen Hartz-IV-Urlaub ist?«
»Was, wer ist Hartz der Vierte? Ein Kriegsherr?«
»Könnte man so sagen! Und auch wieder nicht.« Jetzt wagt er es, einfach zu lachen!
»Weise reden, weil sie etwas zu sagen haben, Toren sagen etwas, weil sie reden müssen!«, schmettere ich. Ein paar Spatzen fliegen irritiert auf.
»Platon, ganz ruhig. Du hast einen Grund zur Freude. Selten tritt dem Weisen das Schicksal in den Weg. Aber heute schon.«
»In deiner Gestalt?«
»Spar dir deinen Spott, spare deine Kräfte lieber für das, was da kommen mag.«
»Oho, seit wann plant unser Hedonist? Ich denke, nur der Spaß zählt?«
»Hey!« Er setzt sich halb auf, die Hängematte wackelt bedrohlich. »Du weißt ganz genau, dass Hedonimus bestenfalls eine Verballhornung meiner Philosophie ist. Es stimmt, Lust und Schmerzvermeidung sind wichtig. Wer sich um das Morgen am wenigsten kümmert, geht ihm mit der größten Lust entgegen. Aber ich habe immer betont, dass die geistige Lust die Bestätigendere ist. Es gibt Freuden des Leibes und Freuden der Seele. Die Freuden des Leibes sind an den Augenblick gebunden, die der Seele nicht.«
»Was einer sucht, das hat er nicht: Nun sucht die Liebe das Schöne und Gute; also hat sie solche nicht!«, gebe ich zurück.
»Das sagt der Richtige. Bist du nicht immer auf der Suche nach dem Großen, Ganzen, Allgemeinen? Den Regeln, die die Welt im Innersten zusammenhält?«
»Aufgabe der Philosophie sei es, den Menschen zu lehren, was er sei und was er tun solle! Und das ist ganz sicher nicht, hier im …«, ich mache eine verächtliche Handbewegung, ». Garten zu versumpfen.«
»Das ist unser Philosophiezimmer.«
»Ach ja, die Gärtner! Und immer schön Wein trinken und kotzen, nicht wahr?«3
»Das ist eine Unterstellung! Zumindest Letzteres. Aber sieh mal, wir können uns doch auf eins einigen: Der Einzelne ist für sein individuelles Glück selbst verantwortlich.«
»Ja«, gebe ich zerknirscht zu. »Allerdings sollen die Besten der Besten …«
»… der Besten …«
»Unterbrich mich nicht! Also die Besten der Besten sollen von Kindheit an zu den Philosophenkönigen werden! Der Weise ist Führer und regiert, der Unwissende möge ihm folgen. Keine weitere Politik, der Pöbel zerlegt alles!«
»Hast du eine Ahnung, wo das noch hinführen wird. Aber ja, Politik muss nicht sein – zu anstrengend.« Er springt aus der Matte.
Wir stehen uns gegenüber – zwei Giganten unserer Zeit. Das heißt, natürlich ein größerer und ein kleinerer Gigant.
»Du würdest mir doch zustimmen, wenn ich sage, die Dinge existieren nur im Kopf?«
»Allerdings – aber verwickle mich nicht in Fragestellungen, das habe ich als ›platonischen Dialog‹ urheberrechtlich schützen lassen. Meine Frage: Was willst du? Komm endlich zum Punkt. Nicht alle können faulenzen, es philosophiert sich nicht von alleine!«
»Du meinst wohl, die Knaben verfolgen sich nicht von alleine … Wenn du einen Menschen glücklich machen willst, dann füge nichts seinen Reichtümern hinzu, sondern nimm ihm einige von seinen Wünschen.«
Ich hebe entschlossen den Finger: »Schönheit bietet eine natürliche Überlegenheit.«
»Aber gut, was wäre, wenn ich mit dir wetten wollen würde.«
»Um was?«
»Um die Ehre.«
»Also um alles.«
»Exakt. Meine Philosophie, die Welt ist ein Chaos, gegen deine, die Welt ist ein Regelwerk.«
»Und wie, wenn man fragen darf, willst du das entscheiden? Seit Sokrates von der Politik hinweggerafft wurde, verkriechen sich die Philosophen. Oder willst du gar den Pöbel entscheiden lassen? Warum nicht gleich auch Frauen, Kinder und Ziegen?«
»Frauen sind bei uns willkommen und unterschätze nicht die Ziegen. Nein, ich garantiere dir eine Möglichkeit. Wenn du dir deiner Sache sicher bist, dann schlag ein. Der Bessere wird siegen.«
Er streckt die Hand aus. Ich weiß, dass er ein Schlauberger ist.4 Sicherlich, meine Philosophie ist erhabener. Selbst wenn er einen Beweis führen wollte, würde er sich nur blamieren. Ich ahne noch nicht, dass ich von ihm das größte Geschenk und die größte Strafe erhalten werde. Denn von uns beiden bin immer noch ich der größte Klugscheißer. Ich gebe ihm die Hand.
»Abgemacht.«
»Nun, Platon …« Er macht eine unerträglich lange Kunstpause. Eine Ziege schaut vorbei, verliert aber ob ihrer überlegenen Intelligenz schnell das Interesse. »Ich kann zeitreisen.«
Teil I: Spott
Linke Verschwörungen: Safe Space
»Those who make conversations impossible,
make escalation inevitable.«
– Stefan Molyneux
Ein Anhalter stellte einmal fest: In den Einöden eines total aus der Mode gekommenen Ausläufers der Galaxis leuchtet unbeachtet eine kleine gelbe Sonne. Um sie kreist in einer Entfernung von ungefähr einhundertvierundfünfzig Millionen Meilen ein absolut unbedeutender, blaugrüner Planet, dessen vom Affen abstammenden Bioformen so erstaunlich primitiv sind, dass sie Märchen noch immer für eine unwahrscheinlich tolle Erfindung halten.
Ich trete aus einer alten Fabrik, die jetzt anscheinend nur noch Rauchwolken, Unsinn und Schreie produziert, das Ende einer Ära. Ein fernes Echo des Wahnsinns. Gerade noch einmal davon gekommen. Von Leuten, die dort gelandet sind, weil Denken eben nicht ihr Steckenpferd ist. Die nach Hilfe schreien, weil sie von der Gesellschaft vergessen wurden. Schade, aber die sterben auch irgendwann weg. Und mit der Freiheit kauft man eben auch das Böse. Es muss immer ein paar Verrückte geben, damit man sich abgrenzen kann und sich so wunderschön normal fühlen.
Diese Zeit kotzt mich an. Das mächtigste Land der Welt wird von einem offensichtlich Wahnsinnigen regiert, das alte Europa schliert wie vor 1914 in den nationalistischen Regress und die Umstellung auf erneuerbare Energien und Automatisierung der Arbeit lässt die überflüssig gewordenen Eliten in trauter Zweisamkeit mit dem Neosklaventum wie angeschossene Bären um sich beißen. Aber alles in allem könnte es schlimmer sein. Das Mittelalter war übel, der Dreißigjährige Krieg. Das Dritte Reich. Selbst in Ländern wie Ägypten war der Lebensstandard noch nie so hoch wie heute. Eigentlich müssten dort alle auf den Straßen tanzen. Aber Glück ist eben immer eine Sache des Vergleichs und diese Zeit ist auf jeden Fall viel ungleicher und rückständiger, als sie es nötig hätte. Eine Diktatur der Willkür.
Ich glaube zwar nicht, dass die Verrückten aus der Fabrik mich einholen, aber ich reihe mich dort ein, wo sie als letztes nachsehen würden: in einer Demonstration. Lachende Sonnenplakate, trommelnde, junge Leute mit Rastazöpfen, eine Frau verteilt kostenlos Wasser aus einem Bollerwagen. Hier laufen die Hochschüler, die Idealisten, die Zukunft. Das, was man gemeinhin Linke nennt. Das, wo die Verschwörungstheorien die schlechtesten Chancen haben sollten. Menschen sind am ehrlichsten, solange ihr Sein noch nicht das Bewusstsein bestimmt. Studenten, die noch nicht in einen Beruf gepresst sind, wollen die Welt so logisch und gerecht wie möglich. Auch schon, damit sie nicht selbst durch die Maschen fallen. Nach zwanzig Jahren im Beruf würde sogar ein SS-Offizier argumentieren und dass er eigentlich nur das Beste wollte. Eichmann hat schließlich auch nur seinen Job gemacht. Die Menschen teilen sich nicht in ehrenhafte Davids und böse Goliaths. Jeder ist überzeugt, das Richtige zu tun. Erich Mielke sagte: Ich liebe euch doch alle.
Dazu kommt noch die verdammte Projektion: Wenn jemand ein Glas Wasser trinkt und wir sehen zu, feuern bei uns dieselben Neuronen, wie wenn wir es selbst trinken würden. Unser Gehirn ist auf Empathie getrimmt und dessen nicht so sympathischer, aber dafür hyperaktiver Bruder ist die Projektion. Wir denken, dass das, was wir denken und tun, bei anderen ebenso ist. Nur leider ist das in den seltensten Fällen so. Andere Leute denken allen möglichen Scheiß.
Mein Blick schweift über die Plakate. Grundeinkommen, Förderung für die Wissenschaft, erneuerbare Energien. Forderungen, die schon seit zwanzig Jahren Realität sein sollten. Und dazwischen dann wieder Homöopathiebefürworter. Heilpraktiker. Anstatt das einzig Richtige zu tun, nämlich mit den Schildern auf sie einzuprügeln, werden sie toleriert und vergiften so das ganze Anliegen.
Mir reicht es jetzt. Ich bin lange genug weggerannt.
»FÜR – DIE – ANERKENNUNG – NATÜRLICHER – MEDIZIN!«, schreit eine kurzhaarige, leicht Untersetzte. Hinreichend androgyne Kleidung, um niemanden zu sehr vor den Kopf zu stoßen, Achselhaare als Ausdruck politischer Freiheit.
»Wie Arsenkur?«
Die Gruppe sieht verstört herüber. Wahrscheinlich wird gleich der Ordner gerufen, um die Demokratur in den gewünschten Regeln wiederherzustellen.
»Lass den doch, der ist senil«, höre ich sie tuscheln.
»Nicht zu senil, um Blödsinn zu erkennen, wenn ich ihn höre!«
»Ach ja? Was weißt du schon über Medizin?«, fragt sie.
»Du, Sarkasmus, im Ernst? Eine ganze Menge, aber darum geht es nicht. Ich weiß noch mehr über Verschwörungstheorien und deine Naturmedizin ist eine.«
»Verschwörungstheorien sind was für Rechte!«
»Ad hominem, bravo. Die Erstsemester applaudieren. Die Verunglimpfung der Gruppe.« Ich werde warm. Wohlig steigt ein Brei aus Hass und Wut in mir auf. »Wie wäre es, wenn ich sagen würde, Verschwörungstheorien sind nur was für Frauen? Da ist zwar wissenschaftlich nichts dran, klingt aber gut, oder?«5
Sie holt Luft.
»Verschwörungstheorien, Miss Kitty, sind eben nicht nur am Rand, sondern in der Mitte der Gesellschaft. Und warum auch nicht, wenn sich damit Geld verdienen lässt? Wer will schon Mediziner werden? Du etwa? Jahrelang studieren, zentnerweise Fakten ins Hirn dreschen und dann auch noch eine riesige Verantwortung über Leben und Tod am Ende eines Sechsunddreißig-Stunden-Tages haben? Und vorgeworfen bekommen, man würde von der Juden-Chemo-Mafia kontrolliert werden? Bist du Medizinerin?«
»Heilpraktikerin!«
»Beim Zeus, wieso nicht einfach Heilpraktikerin werden? Das schafft man in ein, zwei Jahren und alles, was man sich merkt, ist so logisch, wie Märchen eben sind. Im Zweifelsfall tendiert alles zu Natur, Ausgeglichenheit und ganz viel reden und sich lieb haben. An sich kein Problem, aber der Staat finanziert Homöopathie und Heilpraktiker mit Millionen Euro im Jahr.6 Ihr seid genau die Leute, die bis zur Unkenntlichkeit potenzierte Hundescheiße als Medikament verkaufen. Ihr seid keine Hypokriten, ihr seid Hippiekriten.«7
»Was, so ein Quatsch! Du tust mir leid, echt.«
»Mensch, schade, dass ich nicht in deiner In-Group bin, die scheint ja einen direkten Draht zur Weisheit Allahs zu haben!«
Köpfe drehen sich um. »Hat er das eben gerade echt gesagt?«
Ich ignoriere die Scheißer.
»Was ist denn ›Excrementum caninum‹ sonst?«
Ihre Pupillen schlagen panisch von rechts nach links aus und versuchen aus dem Kopf zu fliehen. Würde ich genau so machen.
»Und wenn ab und zu ein Dutzend stirbt, wie mehrere Patienten nach einer Behandlung in einem alternativen Krebszentrum am Niederrhein, waren es ein trauriger Einzellfall, kein wahnsinniges System?8 Als wenn ein Deutscher mit einem Dachboden voll Gewehre nur ein ›Waffennarr‹ ist, ein Moslem aber schon bei einem Klappmesser ein Terrorist?«
»Komm mal runter, ey, du redest viel zu schnell.«
»Ach, macht der Rhythmus jetzt die Musik? Wie genau soll ich dir den vorsingen, dass du nur Blech erzählst? Wäre eine Arie genehm?«
Sie rollt in bester Britney-Spears-Manier mit den Augen.
»Und das ist nur die Angebotsseite, wie der gute Kapitalist es sagen würde.«
»Kapitalismus ist schlimm!«
»Genau, warum machst du dann mit? Deine Kritik ist so flach, dass sich Marx nicht mal mehr darin ertränken könnte. Auf der Nachfrageseite herrscht ebenso viel Unwissenheit. Wenn man sich mit bockigen privaten Krankenversicherungen herumschlagen muss, ist es kein Wunder, dass man das billigste Medikament sucht. Und was ist schon billiger, als ein Placebo? Die Wirtschaft optimiert die Medizin nicht, sondern macht sie zu Schamanismus. Du bist nichts als eine moderne Schamanin.«
»Ja und, wir haben zu wenig Gefühl in der Welt! Der Mensch zählt!«
»Ja, du laufendes Drama, aber Gefühl bedeutet nicht blinde Affirmation! Die Esoteriklehre von Heilpraktikertum bis Homöopathie sagt: Du hast Krebs? Selbst schuld, würdest du mal eine bessere Lebenseinstellung gehabt haben oder wirklich dran glauben, dass die potenzierte Hundescheiße hilft, wäre das nicht passiert. Du Wurm. Smile or Die.«9
»Das ist jetzt aber übertrieben.«
»Ja? Ist alles übertrieben, was nicht die Norm ist? Wo setzt man denn da an? Ist es nicht übertrieben, Menschen falsche Hoffnungen zu geben, sich dafür aus Staatsmitteln bezahlen zu lassen, nur damit sie Hundescheiße fressen und verrecken können?«
»So kann man das nicht sagen.«
»Nein? Was habe ich dann gerade getan? Schlechtes Juju heraufbeschworen? Kennst du ›Smile or Die‹? Dachte ich mir. Frustrierend akkurat, aber gibt es leider nicht als YouTube-Video oder ›für Dummies‹. Da beschreibt die Kolumnistin Barbara Ehrenfeld, wie der Zwang zum Fröhlichsein uns verdummt. Besonders in den Vereinigten Staaten, aber auch hier.«
»Das ist doch völlig wirr! Was hat das mit Verschwörungstheorien zu tun?«
»Eine ganze Menge. Nur, weil du nicht folgen kannst, heißt es nicht, dass es keinen Sinn hat. Newsflash, du bist nicht klüger als eine der berühmtesten Kolumnistinnen Amerikas. Verschwörungen sind auch Wirtschaft. Max Weber, der alte Grantler, beschrieb eindrücklich, wie der Kapitalismus aus den freudlosen Calvinisten hervorging. Freude war für den guten Kapitalisten kein Maßstab, als ich noch die Kinder durch die Kohleminen kriechen sah.«
»So alt bist du nun auch wieder nicht!«
»Hast du eine Ahnung. Erst als die überdrehte Konsumgesellschaft im zwanzigsten Jahrhundert aus den Trümmern der Industrieproduktion auftauchte, war Freude auf einmal das Nonplusultra. Mit nichts kann man besser verdienen. Auch wenn man sein Unternehmen anpreist, muss man immer in den höchsten Tönen lügen. Smile or Be Bankrupt.«
»Ja also, Kapitalismus eben.«
»Schön, dass du das Wort kennst. Der erste Grundsatz der Rhetorik: Redundanz macht Argumente sinnvoller. Macht Argumente sinnvoller. SINNVOLLER.« Ich zappele mit der herausgestreckten Zunge und genieße den Bastard aus Trotz, Ekel und Angst, der über ihr Gesicht huscht.
»Wenn also nicht nur Gier und Ruchlosigkeit in der Gesellschaft propagiert werden, sondern auch zwanghafte Fröhlichkeit, nimmt sich dies das verarmte und vergessene Individuum natürlich zu Herzen. Die Rhetorik ist: Sei glücklich, dann wirst du reich. Oder eben ›die trying‹.« Ich lege den Ring über den Zeigefinger und schenke wissend ein »West-Side«. »Der Soziologe William H. Whyte sah darin eine ›geistestötende Kollektivierung, ähnlich wie in der Sowjetunion‹, und das schon 1956.«
»Schön für dich, Fifty. Aber ich sehe immer noch nicht, was das mit mir zu tun hat.«
»Dein Heilpraktikerismus ist Optimismusquacksalberei. Wer zu blöd ist, da selber drauf zu kommen, kann zum Glück jetzt Studien dazu einsehen.10 Nach Operationen gibt es keinen Unterschied, ob du glaubst, nach einem Tag wieder laufen (oder fliegen) zu können. Ganz im Gegenteil, (negative) Realisten packen Probleme eher an. Ebenso, wie Studien belegen, dass Religion die Menschen nicht netter, sondern erbarmungsloser macht, ist die zwanghaft positive Autosuggestion schlicht und einfach ein Zeichen von Schwäche.«11
»Glaube ich nicht!«
»If you believe in something that is not proven you do not improve. Schwäche an sich ist kein Problem, wenn man sie zugibt. Sich von Leuten beraten lässt, die wirklich helfen könnten. Aber wenn man nicht die Anstrengung aufbringen will, sich zu bessern, sondern die Abkürzung über Wahrsager sucht, dann geschieht es einem recht, wenn man die volle Packung Unglück serviert bekommt. Du schickst dich sogar an, einer dieser Wahrsager zu werden!«
»Hast du mal mit Leuten Musik gemacht?«
»Was? Was ist das für …«
»Halt die Fresse, antworte!«
»Ja«, antworte ich genervt und versuche, die Widersprüchlichkeit zu ignorieren.
»In einer Gruppe?«
»Ja.«
Sie ist erstaunt. Du-warst-nicht-Bundeskanzler-also-kannst-du-den-Bundeskanzler-nicht-kritisieren läuft wohl nicht. »Hast du nicht gefühlt, dass da was Größeres ist, zwischen euch? Man kann nicht alles mit der Wissenschaft erklären!«
»You don’t know what it’s like? Natürlich. Das lässt sich auch mit der Messung der Gehirnströme feststellen. Viele Musiker agieren wie ein großes Bewusstsein. Wir wissen bis heute fuck all, was Bewusstsein überhaupt ist oder ob es existiert. Das beweist aber nicht, dass die Wissenschaft falsch ist. Dass unser Gehirn aber das einzige Organ ist, das nicht auf Autopilot fliegen soll, legt zumindest nahe, dass Verschwörungstheorien eine Art eingebauter Bug sind. Oder, dass unser Bewusstsein eine Illusion ist. Klar kann man deswegen wimmern, dass man nicht anders kann. Das ist aber auch nicht mehr als das You-Don’t-Know-What-It’s-Like: ein Fatalismus-Fehlschluss. Nur weil du manchmal auf deine eigene Mechanik reinfällst, heißt das nicht, dass Denken unmöglich ist.«
»Oder die Schwarzen Löcher! Die kann keiner erklären. Ich meine ja nur, die Wissenschaft ist auch nur ein Glaube.«
»Nur weil wir nicht alles beweisen können, heißt das nicht, dass nichts stimmt. Das ist ein Denkfehler, das ›Versetzen des Zaunpfahls‹! Nimm den am besten mal aus deinem Auge! Wissenschaft ist eben nicht das Gleiche wie ausgedachte Märchen. Sonst könntest du alles mit dem Islam begründen. Was genau haben Märchen uns denn außer gesellschaftlichen (meinst schlechten) Veränderungen gebracht? Historisch exakt nichts!«
»Aber das weißt du ja gar nicht! Vielleicht existiert die freie Energie ja!«
»Natürlich, und die Zeitreisemaschine, Beamen und ein Echsenmenschenbordell exakt unter uns. Hör mal, Einsteinin, du siehst die ganze Geschichte vor dir und kein einziges Ereignis, in dem sich eine unwissenschaftliche Verschwörung als wahr heraus gestellt hat. Du nimmst aber an, du weißt es besser. Genau wie Religiöse. Wenn Gott nicht im Wald lebt, lebt er in den Wolken, im Schwarzen Loch. Du meinst, du bist klüger als alle Wissenschaftler und Historiker die leben und je gelebt haben?«
»Naja, so kann man das …«
»Und trotz zweihundert Jahren Homöopathieforschung, in der absolut nichts herausgekommen ist, glaubst du immer noch daran?«
»Es gab Studien zur Wirksamkeit!«
»Ja, die gibt es immer, im Faktor eins zu tausend. Mit lächerlich wenig Probanden, nicht reproduzierbar oder beeinflusst durch Interessen.«
»Jeder hat Interessen!«
»Ja, aber das macht eben ›Peer-Review‹ aus, dass dort viele gegenlesen und nicht nur die ›Akademie für Russische Bäderwissenschaften‹, die bei Homöopathen gerne herangezogen wird! Klar gibt es auch dort Probleme. Es gibt Bots, die schreiben Papers, die angenommen werden.12 Aber es ist besser als im Schlamm zu wühlen, aus Eingeweiden zu lesen oder an das zu glauben, was sich Verwirrte vor Tausenden Jahren aus dem Arsch gezogen haben.«
»Ey, voll sorry, ey, ich wünsche dir echt, dass du jemanden findest, der dich liebt?«, sagt sie und verpisst sich.
»Was war denn das? Ein implizites: Sieh mal, wie geil ich emotional bin, das willst du doch auch? Argumentation auf Blumen- und Bienchenebene?«
Ein paar Veganer laufen auch mit. Anscheinend gibt es jetzt sogar eine vegane Partei.
»Und wieso auch nicht?«, rufe ich ihnen zu. Ich gebe jetzt überall meinen Senf dazu. Die können mich alle. Wenn die Welt mich mit Dummheit zuschreit, schreie ich zurück. Ein Ordner der Demo verfolgt mich. Aber der junge Typ lächelt, er sieht eher wie jemand aus, der im Leben noch was vorhat. Jackett, aber auf dem T-Shirt, keine aufmerksamkeitsheischende Frisur, lockere Gesten.
»Der Direktor der amerikanischen Kardiologiegesellschaft ist Veganer«, sagt er, »und das hat seinen Grund.13 Wussten Sie, dass Veganismus und eine fettlose Ernährung das Einzige ist, was jemals bewiesenermaßen Gefäßerkrankungen, die Todesursache Nummer eins, rückbilden konnte?«14
»Natürlich, Doktor Esselstyns Studien!«
»Genau, der Gesundheitsberater von Bill Clinton!«
»Und was machen die Leute? Sie fressen Fett.«
»Ja, Wahnsinn, nicht? Ketonische Ernährung nennt sich das, habe ich gehört …«
»Ja, und im Grunde genommen heißt das, man prügelt sich Fleisch rein, Butter, Sahne und alles, was man sowieso schon mochte.«
»Eine Verschwörungstheorie!«
»Genau! Ein Grundzug aller Verschwörungstheorien ist, dass sie zufällig genau das gutheißen, was man sowieso schon wollte. Wer will nicht den ganzen Tag nur schlemmen? Schokoladendiät, Burgerdiät, Ich-sitze-meinen-fetten-Arsch-vor-dem-Fernseher-platt-und-sehe-wie-Spasten-von-jetonischen-Diäten-krank-werden-Diät? Keinen Arsch interessiert, dass diese Studien nicht reproduzierbar und meist von den Industrien finanziert sind, die ein Interesse an fortgesetzten Tiermassakern haben. Die Wahrheit darf nicht unangenehm sein. Wer will schon Gemüse fressen? Da macht man sich lieber passiv zum tausendfachen Mörder. Da lässt man lieber die Ozonschicht wegätzen. Da verschließt man lieber felsenfest die Augen vor der kognitiven Dissonanz, die einen Hunde streicheln und Schweine essen lässt.«
»Irgendwann werden die Außerirdischen uns auch fressen. Und wir hätten es verdient!«
»Auf jeden Fall. Aber sag mal, wieso lauft ihr hier mit den komplett Übergeschnappten rum?«
»Naja, man muss abwägen, ob man alle Meinungen tolerieren will, auch wenn Quatsch dabei ist oder nicht. Und wenn nicht, dann endet man ganz schnell als judäische Volksfront …«
»Na, dann gute Reise von der Volksfront von Judäa!«
Entspannend. Es gibt doch nicht nur Idioten. Aber es gibt Verschwörungstheorien, die so psychotisch dumm sind, dass sie schon wieder unterhalten. Die Flat Earther zum Beispiel. Da vorne laufen ein paar Muttersöhnchen, die nur mit Mühe ihre Fettschürze unter den »KNOW THE TRUTH!«-T-Shirts verbergen können. Ihre Pickel sind prall gefüllt, sodass man sich ihnen nur mit Deckung nähern will. Aber heute kann mir keiner.
»Hey, wusstet ihr, dass ›Flat Earther‹ es ins Englische geschafft hat? Für Leute, die die Wissenschaft nicht verstanden haben.«
»Ja, äh, klar, das müssen Sie sagen. Diese Arroganz immer.« Man merkt, ich habe seinen Safe Space schon durch die Frage ramponiert, abgebrannt und die Erde danach versalzen und verflucht. Karthago West Side OG.
»Was ist denn eure Antwort?«
»Ganz einfach. Die Erde ist flach.«
»Wie kommst du darauf?«
»Ich glaube nur, was ich gesehen habe. Und aus dem Flugzeug war nichts zu erkennen. Und auf flatearthradio.com gibt es Interviews dazu!«
»Moleküle gibt es dann also auch nicht? Und ihr seid klüger als alle Wissenschaftler, weil ihr was im Internet gehört habt? Ihr lehnt das ab, was uns menschlich macht: abstraktes Denken. Jedes Tier kann fühlen.«
»Wir sind uns eben nicht sicher! Man muss auch mal Lektionen in Demut nehmen.«
»Achso? Seid ihr euch auch nicht sicher, wie ihr Zähne putzen, Tee kochen oder Fahrrad fahren sollt? Es gibt da ein einfaches Prinzip, das für euch überall gilt, außer bei den größten Fragen: Ursache – Wirkung.«
»Du invadest hier voll unseren Safe Space! Du kannst nicht einfach alles hinterfragen, es gibt auch Grenzen, da wird es persönlich.«
»Was? Habe ich dich etwa kastriert, ohne es zu merken? Wie willst du denn Argumente sonst entkräften? Mir klingt das eher nach: Je schwächer die Position wird, desto mehr wird ein Kuschelkurs gefordert. Wenn euch ein Argument nicht gefällt, dann ist es zu ›böse‹, ›persönlich‹, ›nicht politisch korrekt‹? Wie wäre es, statt rumzuheulen, Argumenten mit Argumenten zu begegnen? Was ist denn das für eine Diskussionskultur? Was machst du denn, wenn Nazis sich darauf berufen?«
»Die wohnen auf der dunklen Mondseite!«
Bevor ich etwas sagen kann, schiebt mich ein Ordner weg.
»Hören Sie, es ist ja schön, dass Sie hier den Altersdurchschnitt heben, aber das hier ist ein Friedensmarsch. Also bleiben Sie bitte friedlich.«
»Das hat die DDR auch gesagt! Und wo war ich nicht friedlich? Ist Rationalität jetzt schon Körperverletzung?«
Er verschwindet in der Menge, meine Lieblingsdickis auch. Dafür kommt die Heilpraktikerin wieder.
»Ich habe jetzt mal gegoogelt, es gab voll wahre Verschwörungstheorien! JFK wurde erschossen!«
»Ja, das stimmt. Aber das ist eine soziale Theorie, keine wissenschaftliche. Soziale Verschwörungen sind zum Beispiel Reptiloiden, Bilderberger oder die Judenverschwörung. Wissenschaftliche sind, völlig aus dem Zusammenhang, Chemtrail- und Orgonverschwörungen, Germanische Neue Medizin, Pyramiden oder Geisterheilung. Die Gefährlichen sind die, die gute Ideen vergiften. Und Idioten haben Verschwörungstheorien wie Ratten Orgasmen.«
»Keinen Sexismus, ja!?«
»Stimmt, die Rhetorikgestapo könnte uns sonst ins Syntaxauschwitz bringen!«
Da bleibt ihr der Mund offen stehen, wie der brüskierten Sisi. Die hätte sich daraufhin erst einmal einen Koksschuss setzen müssen.15
»Du kannst doch nicht solche Worte benutzen! Das ist voll außerhalb des akzeptablen Diskurses!«
»Ach, und wer bestimmt, was akzeptabel ist? Du? Der V. Parteitag der SED von Walter Ulbricht? Ist dir mal in den Kopf gekommen, dass du mit Tabus nur verlieren kannst?«