FreiSinnig

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa


Dieses Buch basiert auf Kolumnen der Autorin, die zwischen 2017 und 2021 in der WELT erschienen sind. Sie wurden für die Buchpublikation überarbeitet und aktualisiert.

Für Lotte, Mathilde und Dora

INHALT

Cover

Titel

Impressum

VORWORT

„Sagen, was ist“ von Andreas Rödder

CORONA

Es gibt keinen pandemischen Imperativ

How dare you?

SCHULE

Echte Ganztagsschulen bedeuten weniger Stress für Kinder

Der permanente Schlafmangel macht Kinder dumm, dick und krank

FRAUEN UND FAMILIE

Warum ich keine Feministin bin

Warum die Gender-Theorie eben doch mehr Glaube als Wissenschaft ist

Die Liebesehe – früher besungen, heute gelebt

Liebe Feministinnen, was ist mit der Liebe zwischen Frau und Mann?

GLEICHHEIT UND GERECHTIGKEIT

Die Forderung nach Parität wirft grundlegende Prinzipien unseres Wahlrechts über den Haufen

Kampf gegen Lohnlücke ist Kampf gegen freie Entscheidungen von Frauen und Männern

Mehr Respekt für Reiche!

Reiche sind nicht reich, weil Arme arm sind

OFFENER DISKURS

Empörung und Verachtung schüchtern ein – das war auch bei mir so

Ich schätze ARD und ZDF sehr. Aber so geht das nicht weiter

Es gibt nichts Besseres als Parteien

Mit dem „Unwort“ soll eine sprachliche No-go-Area geschaffen werden

Rechte Positionen in der CDU? Vorschläge zur Abgrenzung des politisch Legitimen

ISLAM UND MIGRATION

Wir brauchen klare Ansagen gegenüber dem Islam!

Und es hat doch mit dem Islam zu tun

Wir dürfen zu den Morden durch Flüchtlinge nicht ­länger schweigen!

Die brutalen Bedingungen in Sahara und Mittelmeer entscheiden, wer zu uns kommen kann

BIOETHIK UND WISSENSCHAFT

Warum Homöopathie nicht nur Mumpitz, sondern auch gefährlich ist

Natürlich wird bei Abtreibungen ein Kind getötet

Frauen, die eine Abtreibung bereuen, gelten Feministinnen als Verräterinnen

Verzicht ist keine Lösung

EPILOG

Offen über Privates sprechen? Warum ich das ­Annalena Baerbock nicht empfehle

VORWORT
„Sagen, was ist“
von Andreas Rödder

„Eure Rede aber sei: Ja, ja; nein, nein.“ Diese Forderung aus der Bergpredigt gilt auch zweitausend Jahre später für die Demokratie in Deutschland. Dort treiben moralisierende identitätspolitische und ressentimentgeladene identitäre Kräfte das Meinungsklima in eine zunehmende Polarisierung, während sich eine großkoalitionäre Mitte den Auseinandersetzungen intellektuell und argumentativ weitgehend entzieht. Darunter leidet die öffentliche Debatte über konkurrierende Konzepte, die zu besseren Ergebnissen führen soll. Genau darin aber liegt die Legitimität der liberalen Demokratie gegenüber autoritären Systemen. Politischer Streit statt exekutiver Verordnung, das ist der Kern von Demokratie.

Demokratische Theorie ist nichts ohne bürgerliche Praxis. Die Demokratie lebt von ihren Demokraten so wie die bürgerliche Gesellschaft von ihren Bürgern. Kristina Schröder ist eine wirkliche Bürgerin, die sich vor allem durch drei Eigenschaften auszeichnet: Sie ist liberal, souverän und mutig.

Wie ein roter Faden ziehen sich im besten, das heißt weltoffenen und menschenfreundlichen Sinne liberal-konservative Prinzipien durch ihre Texte: individuelle Freiheit und Selbstbestimmung ebenso wie Selbstverantwortung und Subsidiarität, Pluralismus und offene Gesellschaft anstelle eines überregulierenden Staates, von Kollektivismus jeder Art und ideologischer Bevormundung durch diejenigen, die sich eine höhere Einsicht anmaßen. Dabei ist sie niemals dogmatisch, sondern offen für Widersprüche und Ambivalenzen, für Gegenargumente und unorthodoxe Lösungen.

„FreiSinnig“ ist daher als Titel dieses Buches alles andere als ein Zufall, sondern vielmehr der Kompass, mit dem Kristina Schröder durch eine Vielzahl von Themen navigiert. Die Kreuzfahrt beginnt mit nachdenklichen Reflexionen über die Pandemie – vor allem mit Blick auf neue Gewohnheiten, die sich rasend schnell eingeschlichen haben. Unmerklich drehte sich zum Beispiel die Pflicht zur Begründung um: nicht mehr die Einschränkung von Freiheiten galt auf einmal als begründungspflichtig, sondern ihre Aufhebung. Ein „pandemischer Imperativ“, hinter dem der „klimapolitische Imperativ“ gar nicht zu übersehen ist, deutete auf einen neuen Autoritarismus hin, der nicht nur Bürgerfreiheiten gefährdet, sondern auch soziale Folgeschäden außer Acht ließ. Kristina Schröder hingegen plädierte schon während der Pandemie hartnäckig für Abwägung und Differenzierung von Verhältnismäßigkeiten, und sie ließ keinen Zweifel, dass die Unbedingtheit des „Hört auf die Wissenschaft“ nichts anderes ist als eine neue Form der selbst verschuldeten Unmündigkeit.

Freiheit und Selbstbestimmung, das waren auch ihre Leitlinien als Bundesfamilienministerin im zweiten Kabinett Merkel 2009–2013. Ins Zentrum geriet dabei ein Thema, das ursprünglich gar nicht ihres war: das Betreuungsgeld für Familien, die ihre unter dreijährigen Kinder selbst betreuen und nicht in eine Krippe geben. Ordnungspolitisch gab es manchen Grund zur Skepsis, ob es richtig ist, eine Kompensation für eine nicht in Anspruch genommene staatliche Leistung zu zahlen. Wer nicht in die staatlich subventionierte Oper geht, bekommt ja auch kein Musikgeld. Aber darum ging es nicht. Es ging vielmehr um ein Signal der Wertschätzung gegenüber denjenigen Familien, die zum Gemeinwohl beitragen, indem sie ihre kleinen Kinder innerhalb der Familie betreuen, und die ihr Lebensmodell durch eine hochnormative politische Wende zugunsten der außerfamiliären Betreuung infrage gestellt sahen. Insofern stand das Betreuungsgeld für eine wirklich liberale Familienpolitik, die auf die Vielfalt frei gewählter und selbstbestimmter Lebensentwürfe setzt, statt die Gesellschaft nach dem Bilde der vermeintlich Besserwissenden zu regulieren.

Das galt dann auch für ihre große biografische Entscheidung, nach der Bundestagswahl 2013 nicht wieder als Ministerin zur Verfügung zu stehen. Was für eine Entscheidung: mit glänzenden beruflichen Zukunftsaussichten auf ein Ministeramt zu verzichten, um mehr Zeit für die Familie zu haben! Ich habe mich oft gefragt: Hätte ich das fertiggebracht? Jedenfalls hat Kristina Schröders selbstbestimmte und sehr persönliche Entscheidung Vorbildcharakter, die sich dem Mainstream der Erwartungen entzieht. Souverän eben.

Stereotypen Erwartungen entzieht sie sich auch in der kritischen Auseinandersetzung mit dem Feminismus. Dass Unterschiede zwischen Männern und Frauen nur in den biologischen Geschlechtsmerkmalen lägen, alle anderen hingegen kulturell anerzogen seien, das widerspricht nicht nur Erfahrung und Alltagsvernunft (und vielfältigen wissenschaftlichen Erkenntnissen). Kristina Schröder ist eine der wenigen Frauen, die dies auch öffentlich und offen sagen. Natürlich gibt es strukturelle Benachteiligungen von Frauen, und es ist die Aufgabe von Politik, solche Benachteiligungen zu beseitigen. Aber es sind nicht nur Benachteiligungen, die zu Ungleichheiten führen, sondern auch individuelle Präferenzen. Und es sind eben diese freien Entscheidungen, die der Gedanke der Parität völlig außer Acht lässt. Kristina Schröder benennt die Dinge beim gesellschaftspolitischen Namen: Gleichstellung zielt auf die Herstellung von Ergebnissen und ist letztlich illiberal. Gleichberechtigung hingegen sorgt für möglichst faire und echte Startchancen und ist der liberale Ansatz von Gesellschaftspolitik.

 

So klar die „unerbittliche Denkerin“, wie ein führender deutscher Publizist sie kürzlich nannte, die Dinge beim Namen nennt, nie fehlt es ihr dabei an feiner Ironie und am augenzwinkernden Humor fatalistischer Eltern, die das Leben kennen. Das gilt für die Doppelmoral von Meghan und Harry als Verzichtprediger bis zum CO2-Fußabdruck der Skipper, mit denen Greta Thunberg über den Atlantik segelte. Kristina Schröder argumentiert nie verbissen, sondern immer mit Empathie für die Verschiedenheit der Menschen und ihrer Bedürfnisse.

Sie ist energisch in der Sache und verbindlich in der Art, wenn sie keine Themen scheut, vor allem nicht die unbequemen. Wenn sie sagt, der „Islam ist das, was die Muslime daraus machen“, dann trifft sie den liberalen Ton von Selbstbestimmung und Selbstverantwortung, der Muslime als mündige Bürger ernst nimmt, statt sich in identitärer Abschottung oder multikultureller Schönrednerei zu verschanzen. Und wenn sie auf Regeln des Zusammenlebens besteht, die von Muslimen einzufordern sind und die zugleich für alle gelten, dann ist dies das Konzept einer bürgerlichen Kultur, die Offenheit und Verbindlichkeit miteinander verbindet und ohne die eine Gesellschaft nicht auskommen kann.

Oder das nach wie vor hoch ideologisierte Thema Abtreibung: Während entschiedene Abtreibungsgegner meist wenig Sinn für das Dilemma ungewollt schwangerer Frauen aufbringen, haben Abtreibungsbefürworter den Begriff „Lebensschützer“ in die Nähe von Verfassungsfeinden gerückt. Dass es so sehr an Bereitschaft zur Vermittlung im Zielkonflikt zwischen weiblicher Selbstbestimmung und dem Lebensrecht ungeborenen Lebens fehlt, ist ein Armutszeugnis der öffentlichen Debatte. Auch hier plädiert Kristina Schröder dafür, sich ehrlich zu machen: „Natürlich wird bei einer Abtreibung ein Kind getötet“ – um zugleich für abwägende Lösungen zu plädieren.

Oder der öffentlich-rechtliche Rundfunk. Kristina Schröder verbindet Wertschätzung mit der Benennung unübersehbar ideologischer Schlagseiten und fordert nach dem guten alten Grundsatz von Hanns Joachim Friedrichs einen Journalismus ein, der sich „nicht gemein macht mit einer Sache – auch nicht mit einer guten Sache“, der „überall dabei ist, aber nirgendwo dazugehört“, und der die Dinge von unterschiedlichen Seiten beleuchtet, sodass sich mündige Bürger selbst ein Urteil bilden können, statt moralisch belehrt zu werden.

Abwägung statt Unbedingtheit, Alltagsvernunft statt Ideologie und Gesprächsoffenheit statt Ressentiment – zu Recht schrieb der bereits zitierte Publizist: „Andere Autoren moralisieren, Frau Schröder argumentiert.“ Offene Debatten und klare Positionen sind das Lebenselixier der liberalen Demokratie. Insofern kann die Quintessenz von „FreiSinnig“ nur lauten: Mehr Kristina Schröder wagen!

CORONA
Es gibt keinen pandemischen Imperativ

Wie kommen wir da wieder raus? Im Frühsommer 2021 scheint mir diese Frage die dringendste.

Damit meine ich weniger das Infektionsgeschehen. Die Inzidenzen befinden sich derzeit im steilen Sinkflug, der R-Wert, der uns allen inzwischen so vertraut ist, liegt stabil unter 1 und die Impfquote steigt seit ein paar Wochen endlich nennenswert an. Sollte uns nicht wieder eine Mutante in die Quere kommen – Delta wird derzeit heiß gehandelt –, könnte wirklich die Beherrschbarkeit der Pandemie nahen.

Aber auch das Ende unserer „neuen Normalität“, an die wir uns während der Pandemie so erschreckend schnell gewohnt haben? Werden wir in wenigen Monaten wirklich wieder unbefangen Menschen zur Begrüßung umarmen, Schüler auf Klassenfahrt schicken und Freunde (aus mehreren Haushalten!) zum Abendessen einladen?

Ich fürchte: Erst mal nicht. Die Pandemie, mehr noch, unser Umgang damit, hat unser Denken und Fühlen, unsere Einschätzungen und Wertungen verändert. Viele von uns haben eine unbarmherzige Konsequenz im Umgang auch mit sehr kleinen Risiken entwickelt, die alle anderen Nebenfolgen dieser Handlung ausblendet. Wir haben uns an eine prinzipielle Umkehr der Begründungspflicht gewöhnt, wer „normal“ leben will, muss beweisen, dass er nicht ansteckend ist, wer Freiheiten wieder etablieren will, muss beweisen, dass damit kein Risiko verbunden ist. Wir haben eine Verwischung der demokratietheoretisch fundamentalen Zuständigkeiten von Wissenschaft und Politik zugelassen, Teile der Wissenschaft verkauften Werturteile als Tatsachenaussagen und viele in der Politik nahmen diesen angeblichen „pandemischen Imperativ“ dankbar an. Wir haben uns an Grundrechtseinschränkungen auf Verdacht gewöhnt, der legitime Zweck reicht aus, Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit sind irgendwie 2019 verloren gegangen.

Unsere Maßstäbe sind verrutscht, dies empfinde ich spätestens seit Mai 2020 so. Und ich habe die Sorge, dass dies Folgen lange über die Pandemie hinaus haben wird. Denn Instrumente, deren Einsatz bisher in freiheitlichen Rechtsstaaten kaum vorstellbar waren, liegen jetzt nicht nur auf dem Tisch, sondern kamen zum Einsatz. Wir wissen, dass sie in einem gewissen Maß funktionieren und vor unseren Verfassungsgerichten weitgehend bestehen. Und dass eine stabile Mehrheit der Deutschen ihre Anwendung in einer krisenhaften Lage befürwortet, viele sogar ein noch härteres Vorgehen fordern. Dieses neue Bewusstsein wird, fürchte ich, so schnell nicht wieder weggehen.

Umso bemerkenswerter, dass über die entscheidende Frage dieser Pandemie kaum gesprochen wird: Haben wir, alles zusammengenommen, mit unseren Maßnahmen zur Bekämpfung wirklich insgesamt mehr Schaden verhindert als verursacht?

Ich halte es für denkbar, dass der Schaden überwiegt, vor allem bei einer längerfristigen Betrachtung. Und eine Betrachtung der weltweiten Praxis der Pandemiebekämpfung, die ja einem gigantischen Versuchsaufbau entspricht, das gleiche Virus mit unterschiedlichen Methoden zu bekämpfen, verstärkt meine grundlegenden Zweifel an der Verhältnismäßigkeit unseres deutschen Weges.

Als medizinischer Laie, der lediglich über statistisches Fachwissen verfügt, habe ich den Eindruck, dass überall der Löwenanteil der Dämpfung des Infektionsgeschehens auf die Anwendung der AHA-Regeln zurückgeht, auf Abstand, Hygiene und das Tragen von Masken. Hinzu kommt wohl der Verzicht auf Großveranstaltungen, wobei mir hier nur die in Innenräumen insgesamt relevant zu sein scheinen. Allein diese Maßnahmen, die die Menschen weltweit, ob staatlich vorgeschrieben oder nicht, inzwischen weitgehend internalisiert und habitualisiert haben dürften, scheinen mir gegen eine wirklich unkontrollierte Durchseuchung entscheidend gewirkt zu haben.

In den darüber hinaus geltenden Maßnahmen gingen die Länder uneinheitliche Wege: Manche schlossen den Einzelhandel, manche nicht, Kontaktbeschränkungen und Ausgangssperren wurden in sehr unterschiedlichem Maß verhängt und auch beim umstrittensten Punkt, den Schulschließungen, unterschied sich das Vorgehen der Länder Europas mit fortschreitender Pandemie immer stärker. Spanien und die Schweiz beispielsweise ließen die Schulen in der zweiten und dritten Welle komplett offen, in Deutschland waren sie insbesondere für die Mittelstufe viele Monate lang geschlossen. Wenn ich mir diese Maßnahmen anschaue, in denen sich die Länder weltweit unterscheiden, kann ich beim besten Willen kaum einen systematischen Zusammenhang mit Erfolgen in der Pandemiebekämpfung erkennen. Ihr Anteil an der Dämpfung des Infektionsgeschehens scheint mir bestenfalls ein geringer zu sein. Aber natürlich sind sie es, die je nach Qualität und Quantität die verheerenden Schäden psychischer, gesundheitlicher, sozialer und ökonomischer Art angerichtet haben.

Das angemessene Alternativszenario, mit dem wir unseren deutschen Weg harter und lang anhaltender Maßnahmen vergleichen sollten, ist daher keines, in dem das Virus einfach völlig ungebremst durchläuft, wie es von Anhängern eines strikten Kurses immer wieder drohend an die Wand gemalt wird. Ebenso wenig macht es Sinn, unseren Weg mit einer Welt ganz ohne Corona zu kontrastieren, wie es von vielen Maßnahmenkritikern immer wieder versucht wird. Sondern die Frage ist, wie unser deutsches Maßnahmenpaket abschneidet im Vergleich mit einem Szenario, in dem die AHA-Maßnahmen konsequent gelten und auf Großveranstaltungen verzichtet wird, Einzelhandel, Gastronomie und Schulen aber offen sind und keine strikten Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen gelten.

An dieser Stelle beginnt die Abwägung – und die Wertung. Relativ leicht ist es dabei noch, Kranke gegen Kranke, Tote gegen Tote abzuwägen. Ein Mensch, der an Covid-19 stirbt, wiegt genauso schwer wie einer, der an einem Herzinfarkt stirbt, weil er sich wegen des Lockdowns nicht in die Klinik getraut hat, oder wie einer, der sich umbringt, weil er vor den Scherben seiner Existenz steht. Und eine lebenslange gesundheitliche Folge aufgrund einer schweren Corona-Infektion muss ähnlich ernsthaft betrachtet werden wie diagnostizierbare Langzeit-Beeinträchtigungen eines Jugendlichen, der nach über einem Jahr, in dem ihm sämtliche Sportangebote in Schule und Freizeit verwehrt wurden, nie wieder zum Sport zurückfindet und daher vielleicht lebenslang mit Übergewicht und all dessen Konsequenzen zu kämpfen hat.

Aber was ist mit den anderen schwerwiegenden Folgen? Was zählt der Verlust von bis zu neun Monaten gemeinschaftlicher Schulzeit für Millionen von Kindern und Jugendlichen? Was zählt der sprunghafte Anstieg schwerer psychischer Erkrankungen insbesondere bei Jugendlichen? Was zählen ökonomische Wohlstands- und Existenzverluste, die Geschäfte und Restaurants, die nie wieder aufmachen? Was zählt der Verlust an kulturellem und sozialem Leben, der Männerchor, das Stadtteilfest, das Angebot zum Kinderturnen, die nach über einem Jahr Zwangspause oft schlicht nicht mehr existieren? Was zählen die Depressiven, die Abhängigen, die Gewaltopfer, deren Leid im häuslichen Elend meist noch schlimmer geworden sein dürfte?

Jede Antwort darauf ist subjektiv, hängt unmittelbar von individuellen Wertüberzeugungen ab. Ich persönlich neige dazu, diese gesamtgesellschaftlichen Folgen als langfristig schwerwiegender zu bewerten – zumal ich der Überzeugung bin, dass sich wesentliche Infektionsgefahren auch mit milderen Mitteln wie Luftreinigungsgeräten, dem früheren und gezielteren Einsatz von Schnelltests oder einer nicht durch einen geradezu paranoiden Datenschutz kastrierten App hätte wirkungsvoll eindämmen lassen. Aber selbstverständlich kann man hier begründet auch die gegenteilige Auffassung vertreten.

Was mich aber nachhaltig irritiert hat, war der in Politik und Wissenschaft verbreitete Versuch, zu negieren, dass wir es hier überhaupt mit notwendigen Abwägungen zu tun haben. „Das darf man nicht gegeneinander aufrechnen“, lautet die wohlfeile Variante dieses Arguments, das gnadenlos ignoriert, dass unser ganzes Leben aus Abwägungen dieser Art besteht, ohne die wir gar nicht handlungsfähig wären.

„Das Virus diskutiert nicht“ oder „Hört auf die Wissenschaft“, lautete der autoritärer daherkommende, aber gleichwohl durchschaubare Versuch, aus einer Tatsachenaussage ein Werturteil abzuleiten. Auch Sandra Cieseks Tweet aus dem April 2021 „Wenn wir als Ärzte klar gegen Evidenz handeln, hat das massive Folgen. Wenn dies Politiker tun, ist das egal?“, der über 22 000-mal geliked wurde, gehört in diese Kategorie. Für politische Werturteile gibt es keine Evidenz. Gäbe es sie, könnten wir uns den ganzen Aufwand unserer Demokratie sparen. Denn dann könnte man ja genauso gut mit wissenschaftlichen Methoden berechnen, was zu tun ist. Anhänger der Idee von „Expertenregierungen“, Verächter des politischen Streits (man solle doch stattdessen einfach mal das „Vernünftige“ tun) und die guten alten „Parteienkritiker“ tendieren zwar immer wieder in diese Richtung, kommen aber nie um das alte Problem herum: Wer legt denn dann fest, was die angebliche Volonté générale ist, wenn nicht demokratisch legitimierte Volksvertreter?

 

Aus Tatsachenaussagen lassen sich keine Werturteile ableiten. Der naturalistische Schluss bleibt ein Fehlschluss, auch in der Pandemie. Man kann von jeder einzelnen wissenschaftlichen Aussage aus über 100 Folgen Podcast mit Christian Drosten und Sandra Ciesek überzeugt sein – und dennoch auf der Ebene der Maßnahmen mit vielen guten Gründen auch einen anderen als den in Deutschland gewählten Weg für human, vernünftig und erfolgversprechend halten.

Denn zwischen Tatsachenaussagen und Werturteilen gibt es einen kategorialen Unterschied: Max Webers Schriften zum Postulat der Werturteilsfreiheit der Wissenschaft ist meines Erachtens im Kern bis heute wenig hinzuzufügen. Tatsachenaussagen sind empirische Aussagen über das Seiende. Sie sind oft umstritten, aber prinzipiell wissenschaftlicher Analyse zugänglich, sie sind unter anderem falsifizierbar. Werturteile hingegen sind normative Urteile über das Sein-Sollende. Sie rekurrieren auf subjektive Wertüberzeugungen über das „Gute“, objektive Geltung können sie deshalb prinzipiell nicht für sich beanspruchen, falsifizieren lassen sie sich ebenso wenig. Weber sprach in diesem Zusammenhang davon, dass jeder selbst wissen müsse, was „für ihn der Gott und was für ihn der Teufel“ ist. Und immer, wenn ich mit meiner besten Freundin, die seit unserer gemeinsamen Grundschulzeit den Grünen zuneigt, über Politik diskutiere und wir irgendwann an dem Punkt ankommen, an dem sie sagt: „Aber die Gleichheit …!“ und ich entgegne: „Aber die Freiheit …!“ und uns nur noch bleibt, darauf gemeinsam einen schweren Rotwein zu trinken – dann weiß ich, was Max Weber damit gemeint hat.

„Children may be as infectious as adults“, diese inzwischen berühmte Conclusio aus Christian Drostens Pre-Print einer Studie zur Viruslast bei Kindern, das im April 2020 am Tag vor den entscheidenden Verhandlungen der Kanzlerin und der Ministerpräsidenten zu Schulöffnungen in Deutschland erschien, ist eine Tatsachenaussage. Der berühmteste deutsche Virologe betreibt damit das, was seine Aufgabe ist: Wissenschaft.

Aber nur einen Satz weiter überschreitet er die Grenze: „Based on these results, we have to caution against an unlimited re-opening of schools and kindergartens in the present situation.“ Dies ist ein Werturteil. Eines, das sich zwar auf seriöse wissenschaftliche Forschung berufen kann („based on these results“), das aber dennoch so tut, als folge aus diesen Erkenntnissen notwendig („we have to caution against“) die Aufforderung, Schulen und Kindergärten vorerst nicht uneingeschränkt zu öffnen. Diese politische Forderung kann man natürlich vertreten, etwa unter Verweis auf das herausragende Ziel des Gesundheitsschutzes. Man kann aber selbstverständlich auch gegenteilig argumentieren, etwa indem man die Wertüberzeugung vertritt, dass man Kindern nicht unverhältnismäßig starke Lasten fremdnützig auferlegen dürfe oder dass der gesamtgesellschaftliche Schaden von Schulschließungen überwiege. Oder wie es der Virologe Jonas Schmidt-Chanasit ausdrückte: „Was ich unter virologischem Aspekt gutheiße, kann unter sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen Aspekten desaströse Auswirkungen haben.“

Christian Drosten hat sein folgenschweres Werturteil nicht kenntlich gemacht, er hat nicht darauf hingewiesen, „wo der denkende Forscher aufhört und der wollende Mensch anfängt“, wie Max Weber es in seiner Schrift zur „Objektivität sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis“ verlangt. Dabei wäre es problemlos möglich gewesen, auf Basis der vorliegenden Erkenntnisse eine einfache Zweck-Mittel-Relation zu formulieren, etwa: „Wenn die Schulen und Kindergärten uneingeschränkt geöffnet werden sollen, muss beachtet werden, dass Kinder so infektiös sein könnten wie Erwachsene.“ Damit wäre das Forscherteam auf dem Boden von Tatsachenaussagen und damit der Wissenschaft geblieben und Deutschland wären vielleicht viele weitere Wochen Schulschließungen erspart geblieben.

So tagten am nächsten Tag die Ministerpräsidenten und die Bundeskanzlerin und schoben die Öffnungen der Schulen und Kindergärten auf die lange Bank. Aus der drastischen, aber kurzfristigen Intervention zu Beginn der Pandemie, als die die Schulschließungen anfangs verkauft wurden, wurde spätestens hier eine monatelange Dauermaßnahme.

Christian Drosten will seine Rolle in diesem Drama nicht wahrhaben. In seinem Podcast verwies er auf mediale Darstellungen dieser entscheidenden Tage: „Da stand am Ende sogar drin, dass die Regierung diese Studie genommen hätte, um ihre Entscheidungen zu treffen. Das ist blanker Unsinn. Also das ist auf keinen Fall so. So läuft das einfach nicht.“

Ich fürchte, dass Christian Drosten hier irrt. So läuft das durchaus.

Denn nicht nur in Teilen der Wissenschaft, mindestens ebenso sehr in der Politik gab es seit Beginn der Krise die Neigung, die gewählten Maßnahmen als pandemische Imperative zu interpretieren. Nicht unbedingt in der engen und wenig anschlussfähigen Auslegung, die Drosten im November 2020 in seiner Schiller-Rede vorschlug. Sondern in Form einer sich rational und bescheiden gebenden Beschränkung der eigenen Entscheidungsmöglichkeiten, die die beschlossenen Maßnahmen als objektive Erfordernisse des pandemischen Geschehens deutet, statt als selbst gewählten Weg. Die demokratietheoretisch wichtige Arbeitsteilung zwischen Wissenschaft und Politik wurde dadurch verwischt, der originäre Anteil politischer Entscheidungen an den fundamentalsten Freiheitseinschränkungen in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg blieb vor allem in der ersten Welle in der öffentlichen Debatte merkwürdig blass. Manche politischen Akteure gerierten sich fast wie eine Art Notar, der diese pandemischen Imperative nur noch feststellt, dann aber umso härter durchsetzt. Christian Drostens Veröffentlichung mitsamt ihrer politischen Forderung, die nun das Gütesiegel wissenschaftlicher Objektivität trug, kam unter diesen Umständen gerade recht.

Ähnlich unsauber war die Rollenverteilung zwischen Wissenschaft und Politik beim Beschluss des zweiten harten Lockdowns kurz vor Weihnachten 2020. Nach einem als gescheitert erachteten „Wellenbrecherlockdown“ im November sollte das Land nun über die Weihnachtsfeiertage weitgehend heruntergefahren werden. Wie stets lag ein besonderer Fokus auf den Schulen, debattiert wurde, die Weihnachtsferien früher beginnen zu lassen, und Bundeskanzlerin Angela Merkel flehte mit bewegter Stimme im Bundestag, „für diese drei Tage noch irgendeine Lösung zu finden“. Die Lösung fand sich und dauerte bis Mai. Bis dahin waren die Schulen zumindest für die meisten Mittelstufenschüler in Deutschland komplett dicht.

Berufen konnte sich Angela Merkel auf „die“ Wissenschaft, die einen solchen harten Lockdown fordere. Denn das hatte die Nationale Akademie der Wissenschaften, die Leopoldina, am Tag zuvor in einer Ad-hoc-Stellungnahme getan: Es sei „aus wissenschaftlicher Sicht unbedingt notwendig, die weiterhin deutlich zu hohe Anzahl von Neuinfektionen durch einen harten Lockdown schnell und drastisch zu verringern“.

Eine bemerkenswert apodiktische Aussage, vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass wir über die Kosten-Nutzen-Ratio von Lockdowns bis heute immer noch eher wenig wissen. Während der Nutzen in diesem Zusammenhang in der Zahl der durch einen Lockdown verhinderten Infektionen besteht und damit wissenschaftlicher Analyse zumindest prinzipiell zugänglich ist, ist der dadurch entstandene Schaden eher sozialer, ökonomischer oder psychologischer Art. Hier können die Sozialwissenschaften, die Ökonomie und die Psychologie zwar ebenfalls Aufschluss geben. Aber die Abwägung der Schwere dieser Folgen ist unmöglich ohne subjektive Wertüberzeugungen.

Dafür muss man aber vor allem erst einmal anerkennen, dass es diese Folgen gibt, und sie prinzipiell genauso in die Abwägung mit einbeziehen wie die medizinischen Aspekte. Wer dies bereits Ende März 2020, also auf dem Höhepunkt des ersten Lockdowns forderte, war Armin Laschet. Das derzeitige Vorgehen sei selbstverständlich nicht alternativlos, schrieb er in der WELT. „Wir müssen alle Konsequenzen unserer Maßnahmen bedenken: Welche sozialen, ökonomischen, psychologischen und letztlich auch gesundheitlichen Kollateralschäden hätte eine lang andauernde Politik der sozialen Distanzierung und des wirtschaftlichen Shut-downs? Wären nicht gerade die Kinder von den häuslichen und familiären Konflikten in ganz besonderer Weise betroffen?“ Daher bedürfe es einer öffentlichen Debatte über die Maßstäbe einer Öffnung, die Erkenntnisse aller relevanten Wissenschaftsdisziplinen mit einbeziehe, so Laschets Postulat. Die „schwierigen ethischen Abwägungsfragen, die sich daraus ergeben“, blieben aber „in der Verantwortung der Politik“.

Armin Laschet hatte es mit diesem klugen Kurs, den er die gesamte Pandemie über durchhielt und der sich beispielsweise auch in der Tatsache widerspiegelt, dass das Corona-Dashboard des Landes NRW konsequent auch soziale Kennziffern, wie etwa die Arbeitslosenquote oder den Anteil der Schüler im Präsenzunterricht, ausweist, oft nicht leicht. Ein Bündnis aus Vertretern meines eigenen politischen Lagers, die gerade in der Krise einen hart durchgreifenden Staat favorisieren, und den zumeist linken Anhängern der „No Covid-Bewegung“, die ein attraktives Ziel mit nach meiner Überzeugung teils totalitären Instrumenten durchsetzen wollten, erkor ihn zum populären Feindbild – und mit ihm etwa den Virologen Hendrik Streeck, zu dem man auf Twitter unter dem Hashtag #SterbenmitStreeck sogar Bezüge zu Auschwitz herstellte.

Ähnlich unterbelichtet wie die sozialen Folgen der Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung waren die seit dem Zweiten Weltkrieg umfassendsten Einschränkungen von Grundrechten. Wie schwer wiegen sie, in Abwägung mit den Aspekten des Gesundheitsschutzes, dem damit hoffentlich gedient war? Dies kann auch kein Jurist abschließend beantworten, am ehesten liefert hier noch die Rechtsphilosophie Anhaltspunkte. Der liberale Wisssenschaftsphilosoph Michael Esfeld, Mitglied der Leopoldina seit 2010, traf den wunden Punkt, als er den Präsidenten der Akademie der Wissenschaften in einem Brief zur Zurücknahme der 7. Ad-hoc-Stellungnahme für einen harten Lockdown kurz vor Weihnachten 2020 aufforderte: