Tantes Tod

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Maria anrufen. Das ging ihm völlig gegen den Strich. Das mit dem Nachsendeantrag, das könnte doch auch Georg machen, überlegte er. Und eine Vermisstenanzeige? Vielleicht hatte ja Rebecca schon an so etwas gedacht. Spontan rief er sie an. Er fragte sie nicht gerade charmant, ob sie inzwischen wüsste, wo seine Tante sei.

„Ich denke ständig daran“, antwortete Rebecca, „aber zu einem Ergebnis bin ich leider noch nicht gekommen. Vorgestern war ich bei der Polizei, um Viktoria als vermisst zu melden.“

„Gute Idee“, brummte Gerrit, der sich ärgerte, dass Rebecca vor ihm auf diesen Gedanken gekommen war.

„Aber stell dir vor, die wollten meine Vermisstenanzeige zuerst überhaupt nicht aufnehmen. Ein erwachsener Mensch könne schließlich selbst bestimmen, wo er sich aufhalten wolle und ob er seiner Familie etwas mitteilen wolle.“

„Stimmt“, meinte Gerrit, „sie könnte ja auch bei Freunden sein. Sie hat doch was von einem Freund erwähnt, einem Grönländer.“

„Aber Gerrit! Hast du denn nicht mitbekommen, dass sie in den letzten Jahren fast gar nicht mehr gereist ist? Sie hat nie jemanden besucht und ihr letzter Freund, der lebt meines Wissens in Nordost-Grönland, am Ende der Welt. Er besitzt wohl ein Satellitentelefon, aber ich kenne weder seine Telefonnummer noch seinen Namen. Und ob es da überhaupt Adressen wie bei uns gibt, bezweifele ich. Ich habe hier nichts über ihn gefunden.“

„Wann hat sie dich denn zum letzten Mal im Büro angerufen?“

„Wenn nichts Besonderes anlag, hat sie mich normalerweise jeden Mittwoch angerufen, immer irgendwann am Vormittag. Bei ihrem letzten Anruf hat sie davon gesprochen, es käme bald eine wichtige Nachricht von ihrem englischen Anwalt. Sie war so wie immer, da war nichts Besonderes.“

Aus der ist nichts heraus zu bekommen, konstatierte Gerrit. Rebecca war entweder unschuldig oder eine perfekte Schauspielerin, die ihre Stimme genau im Griff hatte.

Er rief Georg an und bat ihn, sich um den Nachsendeantrag zu kümmern. Nach kurzem Zögern berichtete er seinem Freund auch sachlich von dem Trecker, dem Einbruch und von der Schlauchboot-Fahrt durch das Eismeer. Er fragte ihn gerade heraus, ob er sich nun bedroht fühlen müsse oder nicht.

„Sag mal ehrlich, bist du nicht etwas überspannt? Ich meine, von Berlin in so ein kleines Dorf umzuziehen, sich von seiner Frau zu trennen und dann noch seine Tante suchen zu müssen, das geht wahrscheinlich an niemand spurlos vorbei. Das siehst du doch ein, oder?“

Ohne Gerrit die Gelegenheit zu einer Antwort zu geben, fuhr er fort: „In einem guten Krimi hat alles seine Ordnung, seinen Sinn, aber im Leben ist das höchst fraglich. Warum soll zwischen dem Schlauchboot, dem Trecker und dem Einbruch ein Zusammenhang bestehen? Wäre dies ein Krimi, würde ich meinen, wenn du zu wissen glaubst, wer hinter all dem steht, irrst du sicher – oder der Krimi ist stümperhaft konstruiert. Aber ich würde auch denken, dass der Autor diese drei Ereignisse in einen Sinnzusammenhang stellt, um den Leser aus Gründen des Spannungsaufbaus zu täuschen. Aber hier gibt es keinen Autor, das ist der springende Punkt, das ist das Leben, hier gibt es Zufälle. Bei der Sache mit dem Schlauchboot warst vielleicht gar nicht du persönlich gemeint, sondern nur du stellvertretend für die verhassten Ökos. Wusste der Fahrer des Treckers, dass du und nicht Viktoria in dem silbergrauen Volvo sitzt? Auch der Einbruch zielte nicht eindeutig auf dich. Wie willst du denn ausschließen, dass es da jemand gar nicht auf dich, sondern auf deine Tante abgesehen hatte? Normalerweise hält sich doch deine Tante dort auf, oder?“

Gerrit schluckte. „Aber Georg“, sagte er, „wenn die es in Wirklichkeit auf Viktoria abgesehen haben, dann bin ich doch genauso bedroht!“

„Wer alle Ereignisse auf sich bezieht, nimmt sich selbst zu wichtig, der ist paranoid“, meinte Georg trocken.

Gerrit fand das gar nicht witzig. Er gab dem Gespräch eine andere Richtung: „Und wenn ich das hier alles aufgeben und wie nach einem Urlaub nach Berlin zurückkommen würde?“

„Spinnst du! Was willst du denn in Berlin? Sag mal, geht es dir nicht gut? Soll ich dir das Szenario ausmalen? Willst du wirklich die Wahrheit wissen? Hier am Institut will man dich doch sowieso am liebsten wegrationalisieren oder durch einen strebsamen beschränkten Junior ersetzen.“

„Da sagst du mir nichts Neues“, meinte Gerrit, „ganz blind und taub laufe ich ja auch nicht durch die Gegend.“

„Du wirst deiner Aufgabe nachweinen, passiv herumsitzen, beginnst zu saufen und mit schlechtem Gewissen deinen Studentinnen nachzustellen. – So ein blödes Gejammere, ich dachte, die Midlife-Crisis hättest du längst hinter dir! Geh ans Meer, lass dich von der Brise durchpusten und vergiss nicht deine gute Erziehung. So falsch war die doch auch wieder nicht, oder? In deinem Alter, lass dir das gesagt sein, fällt man nicht mehr in Pubertätsgehabe zurück – ehrlich!“

„Pubertät, so ein Quatsch. Ich bin nicht in der Pubertät, ich komme einfach nicht weiter, ich … „

„Jetzt jammerst du schon wieder herum“, unterbrach ihn Georg, „dein Gejammere, entschuldige, wenn ich das so deutlich sage, ist der verzerrte Ersatz für wahre Gefühle. Zwischen dir und deinen Gefühlen hast du eine Betonwand errichtet. Na, bei deinem Elternhaus wundert mich das nicht. Diese Viktoria, mit der du dich mehr oder weniger zwangsweise beschäftigst, die ist doch auch solch eine Person, für die Gefühl ein Fremdwort ist. Ich hab es dir schon eben gesagt: Geh ans Meer, betrachte die Wellen, rieche die Seeluft und hör endlich mit deinem Jammern auf. Statt zu lamentieren solltest du heulen, wenn dir danach ist, oder deine Wut aufs Meer hinausschreien.“

„Du magst recht haben“, sagte Gerrit kleinlaut, um das Gespräch zu beenden, aber er hatte am Ende gar nicht mehr richtig zugehört. Eine Betonmauer! Na so was! Wenn ich ihm erzähle, was mich bewegt, schimpfte er, dann nennt Georg mich überspannt, wenn ich ihm meine Zweifel schildere, rät er mir, ich solle am Strand spazieren gehen und alles vergessen – nichts als blöde Standard-Tipps aus Psycho-Ratgebern. Gerrit blickte zum Fenster hinaus. Er sah, wie der Wind die Zweige bewegte, tiefe Wolken zogen vorbei. Was würde passieren, wenn er jetzt da draußen rumlaufen würde? Würde er voll innerer Ruhe den Flug der Seeschwalben studieren oder sich selbstverloren den Geräuschen der Brandung hingeben? Hirngespinste, typischer Hobby-Psychologen-Quark! Tatsächlich würde er am Meer entlangstapfen und sich die ganze Zeit den Kopf über Viktorias Verschwinden, über das Romanschreiben, über Rebecca, Mary und Maria zerbrechen, was denn sonst? Einfach abschalten – als ob das so einfach wäre, wie dieser Kerl in Berlin sich das vorstellt! Was würde der mit seinem angelesenen psychologischen Halbwissen erst sagen, ereiferte er sich, wenn ich ihm erzähle, dass mir Figuren aus Romanen erscheinen und mit mir sprechen, dass sich eine Buch-Piratin nachts in mein Bett legt?

Um sich zu beruhigen, arbeitete sich Gerrit weiter durch die Büchermassen. Die Regale wurden immer leerer, die Zahl der Stapel am Boden nahm zu. Wenn er so weiter machen würde, war absehbar, dass irgendwann der ganze Raum voller Bücherstapel war. Wie sollte er sich dann noch bewegen? Wie den Überblick behalten? Mir wird schon was einfallen, dachte er und nahm sich das nächste Regalbrett vor. Mitten unter verschiedenen geologischen Fachbüchern stand „Der Fänger im Roggen“ von J.D. Salinger. Komisch, dachte Gerrit, „Der Fänger im Roggen“, liegen davon nicht schon zwei Exemplare auf dem Stapel mit dem Buchstaben „S“? Er durchsuchte den Stapel und tatsächlich, Viktoria schien ein Faible für diesen Roman gehabt zu haben, es handelte sich tatsächlich um das dritte Exemplar, verschiedene Ausgaben, aber keines davon ein Taschenbuch, sondern alle gebunden mit Schutzumschlag.

Die Bibel der amerikanischen Jugendlichen der fünfziger Jahre, das ist doch nicht etwa Tantes Lieblingsbuch, wunderte er sich.

Ihm war „Der Fänger im Roggen“ seit seiner Schulzeit verleidet. Sein alter, ziemlich dürrer Englischlehrer hatte den Schülern einen Gefallen tun wollen und dieses Buch zur Klassenlektüre bestimmt, aber sie hatten es nicht lesen wollen, sie hatten überhaupt nichts auf Englisch lesen wollen. Deshalb erinnerte sich Gerrit so gut wie gar nicht mehr an den Inhalt dieses Klassikers, umso mehr aber daran, dass immer feine Tröpfchen durch die Luft flogen, wenn der Lehrer Englisch sprach, was am fehlenden Sitz seines Gebisses lag. Am besten hatte er die Szene im Kopf, als der alte Studienrat ein zerknittertes weißes Taschentuch aus der Hosentasche geholt und sein Gebiss darauf gelegt hatte.

Draußen stürmte es. Ab und zu fiel ein Sonnenstrahl auf die vielen Staubpartikelchen, die er bei seiner Arbeit aufgewirbelt hatte. Erotische Romane für Frauen, mehrere Exemplare eines Kultbuches für pubertierender Jugendliche, was würde er noch zwischen diesen Büchern finden, dachte er halb belustigt, halb neugierig. Vielleicht etwas Geheimnisvolles, meinetwegen eine Schatzkarte oder alte Liebesbriefe – irgendetwas würde sich schon finden lassen.

Als er auf die Toilette ging, kam ihm plötzlich in den Kopf, „Der Fänger im Roggen“ habe etwas mit Mord zu tun. Da war etwas, überlegte er, darüber hatte er einen Aufsatz gelesen, aber er konnte es nicht fassen, es verschwand wie die Erinnerung an einem Traum. Da gab es einen Zusammenhang. Kurz darauf tauchte ein Bruchstück aus seiner Erinnerung auf: Natürlich, das war es, dieser Typ, der John Lennon erschossen hatte, der hatte „Der Fänger im Roggen“ bei sich. Aber da war noch mehr gewesen, da war er sich sicher. Er schaltete sein Notebook ein und forschte nach. Lange brauchte er nicht zu suchen: Nicht nur Lee Harvey Oswald, der Mörder von J.F. Kennedy war fasziniert von diesem Buch, auch Theodore Kaczynski, der Una-Bomber, der tödliche Briefbomben hauptsächlich an Professoren verschickt hatte, hatte ein Exemplar in seiner Hütte. Und im Regal von jenem John Hinckley, der das Attentat auf Ronald Reagan verübte hatte, hatte nur ein Buch gestanden: „Der Fänger im Roggen“.

 

Kapitel 13 Roggenfängereien

Eigenartig, sollte man nicht erkennen, dass jegliche Beobachtung für oder gegen eine Ansicht sein muss, soll sie von irgendwelchem Nutzen sein?

Charles Darwin

Bald muss ich mich umziehen, nur noch eine knappe Stunde bis zu Marys Abendessen, dachte Gerrit, klappte sein Notebook zu und brühte sich schnell noch einen Kräutertee auf. Mit der Tasse in der Hand ging er sofort wieder zu den Büchern zurück. Mit der rechten Hand nahm er „Fänger im Roggen“ vom Stapel, die linke balancierte seine dampfende Teetasse. Noch im Gehen versuchte er, das mit einer Hand aufzuschlagen, um seine Erinnerungen an diesen Klassiker etwas aufzufrischen. Das Buch glitt ihm aus der Hand. Er wollte es noch auffangen, konnte aber nicht verhindern, dass es herunterfiel und kurz vor dem gelben Teppich hart auf den Holzdielen aufschlug.

Hoffentlich habe ich keine wertvolle Ausgabe beschädigt. Er bückte sich und inspizierte den Band von allen Seiten. Es wird sich doch nicht um die Erstausgabe handeln? Eine Ecke war derart stark angestoßen, dass er argwöhnte, der Buchblock könnte sich gelöst haben. Als er das Buch öffnete, um die Bindung zu überprüfen, sah er zu seiner Verwunderung, dass es nicht gedruckt, sondern handgeschrieben war.

Kein Zweifel, es handelte sich um ein von Viktoria handgeschriebenes Buch, voller Notizen, kaum ein längerer Text, offensichtlich eine Art Tagebuch. Sofort kontrollierte Gerrit die anderen Ausgaben von „Der Fänger im Roggen“. Immer das gleiche: Notizbücher, die ihm nicht aufgefallen waren, da seine Tante sie mit den Schutzumschlägen von „Der Fänger im Roggen“ unkenntlich gemacht, sie sozusagen verkleidet hatte.

Endlich hatte er etwas Aufregenderes gefunden als erotische Romane für Frauen. Besonders auf die letzten Einträge war er gespannt. Kaum hatte er angefangen zu lesen, da störte ihn das Klingeln des Telefons das in der Küche neben dem Herd lag. Der Anruf kam von einem Call-Center. Eine Frauenstimme versuchte ihn rasend schnell mit einem seltsamen, vielleicht schottischen Akzent zu bereden, einer Sterbekasse beizutreten, so dass eine würdige Beerdigung sichergestellt sei. Nein, das ist nichts für mich, sagte Gerrit, der nicht der Meinung war, ab Mitte vierzig müsse man für seine Bestattung sparen. Ob die denken, alle, die in diesem Dorf wohnen, bereiten sich schon auf das Sterben vor, überlegte er amüsiert. Das ganze Dorf ist ein Altenheim, hatte seine Tante gesagt, aber das hielt Gerrit mehr für ein Bonmot. Immerhin wohnte Mary mit ihren Kindern hier und dieser Quentin war auch noch weit vom Pensionsalter entfernt. Im Übrigen wollte er eine Seebestattung, dafür würde seine Barschaft wohl noch reichen.

Der Fänger im Roggen: Offenbar war seine Fantasie mit ihm durchgegangen. Die Recherchen über die Mörder und den Möchtegernmörder, die dieses Buch im Regal stehen hatten – alles Hirngespinste – tatsächlich hatte die Tante mit der Wahl dieses Buches nur sichergestellt, dass sie ihre Tagebücher schnell findet. Hätte ich damit nicht so viel Zeit vertrödelt, könnte ich jetzt noch eine Weile in Viktorias Notizbüchern lesen, konstatierte Gerrit verärgert.

Aber die Zeit drängt. Er musste sich für den Besuch bei Mary vorbereiten. Was sollte er anziehen? Er legte den blauen Pullover auf das Bett, der seine blauen Augen betonen sollte. Oder würde ihm der silbergraue Pullover besser stehen? Sollte er seine übliche Cord-Hose tragen, zu der der graue Pullover schicker wirkte? Die Kombination graue Flanellhose mit dem blauen Pullover zog er nur kurz in Betracht. Da er sich nicht entscheiden konnte, ging er ins Bad. Haarewaschen mit Kamillenshampoo. Sollte er sich rasieren? In Berlin hatte er sich immer rasiert, aber seitdem er in England war, noch nicht ein einziges Mal. Er schaute sich seinen Mehrtagebart im Spiegel an. Ein kleines Stück Wildheit, dachte er, steht mir doch gut, so sehe ich ein wenig wie ein Seemann aus. Andererseits wollte er auch nicht wirken wie jemand, der sich im Urlaub einen Bart stehen lässt. Die Stoppeln mussten also weg. So konnte er auch besser eine Anti-Falten-Creme aus dem Bestand seiner Tante auftragen. Danach fummelte vor dem großen Wandspiegel an seinen Haaren herum, probierte Gel, rieb es aber wieder aus. Mit den Haaren war er endlich zufrieden, nicht aber mit seinen Falten am Bauchnabel, die sich zeigten, als er eine knappe grün-lila gestreifte Unterhose anzog. Er entschied sich gegen ein Unterhemd und für den grauen Pullover mit seiner Alltags-Cordhose, zu dick auftragen wollte er keinesfalls. Aber im letzten Moment benutzte er ein wenig Parfum, wobei er sich ermahnte, es bei zwei Spritzern zu belassen.

Er schaute abermals in den Spiegel, zog seine weißen Leinenschuhe an, geplagt vom Zweifel, sich zu jugendlich gestylt zu haben, suchte eine passende Tasche für den Sekt – leider nur ein Crémant de Loire, die einzige Flasche Champagner im Haus hatte ja der verfluchte Dieb mitgehen lassen – packte die Weingummis für die Kinder ein und trat endlich ebenso aufgeregt wie erschöpft von all den Vorbereitungen vor die Tür. Im Westen färbte die untergehende Sonne die einsam treibenden Wolken zart rosa. Aber Gerrit bemerkte die Farben am Himmel nur am Rande. Ein Besuch bei der Nachbarin, mehr nicht, nur ein Freundschaftsbesuch, sagte er sich beim Abschließen der Haustür, aber das entspannte ihn nicht wirklich. Wenn er ehrlich war, dann war er es einfach nicht mehr gewohnt, eine Frau mit vagen Absichten zu besuchen.

Er schaute nochmals auf seine Uhr. Es war genau fünf Minuten nach acht. Seine Mutter und Viktoria wären stolz darauf gewesen, wie er der Etikette folgte.

Mary öffnete lachend. Sie trug den gleichen blauen Rock wie bei ihrem Besuch, in der Hand hielt sie eine Kehrschaufel aus himmelblauem, fleckigem Plastik. Kurze Umarmung, Küsschen rechts und links, dann stürmte sie unter Entschuldigungen in die Küche. Gerrit sollte auf dem Sofa Platz nehmen, das über Eck in der Küche stand, ein ausladendes Möbel, keine Antiquität, sondern ein altes Stück, über das eine pflaumenrote Decke gebreitet war.

Die Kinder fielen zuerst über die Weingummis, danach über Gerrit her. Geschirr türmte sich im Waschbecken, der Besen stand am Küchentisch. Anne trat in die volle Kehrschaufel, Tony räumte Zeitschriften und ein Buch vom Tisch. Gerrit spürte, dass er willkommen war. Er wunderte sich über sich selbst, als er fragte, in welchem Schrank die Gläser stehen, und dann selbstverständlich Mary und sich Sekt einschenkte.

„Und wir?“, riefen die Kinder im Chor.

„Ich habe Saft für euch“, antwortete Mary vom Herd her, was gar nicht gut ankam. „Ein kleines Schlückchen Sekt wird ihnen wohl nicht schaden.“ Mit diesem Satz hatte Gerrit gewonnen. Bald saß Anne Weingummis kauend auf seinem Schoß. Er wunderte sich, wie schwer sie war. Tony lehnte an seinen Beinen, das Glas mit dem Schluck Sekt fest in der Hand. Wie ein Kenner betrachtete er die feinen Bläschen, die träge nach oben strebten. Gerrit las ihnen etwas vor und versuchte anhand der Düfte, die ab und an von den Töpfen her an seine Nase drangen, zu erschießen, was es zu essen geben würde. Gesehen hatte er nur „50 clevere Rezepte – wie Sie schnell und leicht Ihre Gäste beeindrucken können“, ein abwaschbares Kochbuch, das halb unter einem Salatkopf lag.

An den Wänden hingen die üblichen Kinderbilder, Sonnenblumen und ein großes weißes Tier mit einem Korkenzieher auf dem Kopf, das ein Einhorn sein sollte, wie ihm Tony ernst erklärte. Erstaunlich fand er den roten Schirm der Lampe über dem Küchentisch, der Rosenblättern nachempfunden war. Gerrit hielt das Ding für eine üble ästhetische Entgleisung, schlimmer als Kitsch, denn Kitsch konnte doch immerhin etwas Gemütliches haben. Über seinem Küchentisch hätte er solch eine Lampe, in deren milden rötlichen Licht man überdies schlecht lesen konnte, nicht ertragen.

Zu Gerrits Überraschung wurde für das Essen der Tisch in der Küche gedeckt, den er für einen etwas zu hohen Couchtisch gehalten hatte. Einen Esstisch schien es nicht zu geben, man aß auf dem Sofa sitzend. Bald war dieser Couch-Esstisch gedeckt, durchaus geschmackvoll, wie eine Märcheninsel im Chaos, dachte Gerrit. Mary ging sich umziehen.

Als sie wiederkam, trug sie als Rock ein seltsames flattriges Gebilde in verschiedenen Rottönen, das Gerrit für Tüll hielt, dazu eine weiße Bluse, das Haar offen. Tony setzte sich schnell an den Tisch und Anne kletterte mit der Bemerkung „Mom, du siehst ja wie eine Fee aus“ von seinem Schoß herunter.

„Ja, wie die Küchenfee“, sagte Mary. Gerrit wusste nicht, ob das einfach nur eine witzige Bemerkung oder eine subtile Anspielung auf die Rollenverteilung sein sollte.

Eine Fee mit einer halb durchsichtigen Bluse, dachte Gerrit und bemerkte, dass er schon länger als schicklich den BH unter der Bluse betrachtete. Ein BH, darin steckten Marys Brüste. Na und? Macht mich gar nicht scharf, bemerkte er irritiert, aber warum glotze ich dann so? Reine Gewohnheit, so wie man im Gebirge die Form eines Berggipfels mit der eines anderen vergleicht?

„Den Rock habe ich mir selbst geschneidert“, erklärte Mary später, als die Kinder schliefen und sie beide auf dem weichen Sofa nebeneinander saßen, plauderten und Rotwein tranken. Gerrit bemerkte wohl, wie ihr Rocksaum etwas höher glitt, bis dahin, wo ihre Oberschenkel sich nach innen wölbten. War das nun unbewusst oder bewusst, dass sie ihre Knie leicht spreizte, wodurch ihr Rock noch höher glitt?

Gerrit tat so, als ob er den Rocksaum nicht bemerkt hätte und sprach von dem grünen Trecker, später von dem Einbruch. Während er davon erzählte, bemerkte er, dass seine Erlebnisse weniger bedrohlich als unterhaltsam klangen. Mary sah das anders.

„Gerrit“, sagte sie, „entschuldige, wenn ich das so gerade heraus sage, aber mir kommt es so vor, als ob du etwas zu naiv bist.“

Gerrit wollte schon protestieren, aber Mary fuhr ernst fort: „Viktoria ist eine Frau, die die Natur liebt, die hier Apfelmus und Pflaumenkompott eingekocht und dabei von Grönland geschwärmt hat. Aber sie ist doch auch Geologin, jemand der selbst nach Öl gesucht hat und in diesem Geschäft immer noch tätig ist. Das ist es doch, worum es bei ihrer Firma geht, oder nicht?“

Direkt zugeben, dass er so gut wie nichts über Viktorias Geschäfte wusste, wollte Gerrit nicht, also nickte er nur stumm.

„Ich habe das nie verstanden“, sagte Mary, wobei sie langsam den Kopf schüttelte, „wie jemand, der die Natur und die Arktis liebt, gleichzeitig im Ölgeschäft tätig sein kann. Ich meine, die Förderung von Erdöl zerstört doch die Natur, besonders in der Arktis. Es muss ihr klar gewesen sein, dass sie mit ihrer Arbeit dazu beitrug, das zu zerstören, was sie liebt.“

Gerrit schaute sie erstaunt an.

„Gut, lassen wir das“, fuhr Mary fort, „das tut im Moment nicht so viel zur Sache. Aber eins kannst du mir glauben: Ich wohne seit langem hier in diesem Dorf. Dass ein betrunkener Treckerfahrer mal einen Autofahrer ins Schleudern bringt, gut, das kommt schon mal vor. Aber ein Einbruch? Hier wird nicht einfach so eingebrochen. Das gibt es hier nicht, obwohl hier nicht nur liebenswerte alte Tanten wohnen. Ich will jetzt keinen verdächtigen und keine Gerüchte in die Welt setzen, das ist nicht meine Art. Ich will dich nur warnen. Hier in der Gegend gibt es Leute, die im Ölgeschäft mitmischen. Das ist ein verdammt hartes Business, mit denen würde ich mich nicht anlegen.“

„Das ist mir klar.“ Gerrit versuchte cool zu bleiben. „Aber selbst wenn Viktoria Probleme mit Ölfirmen haben sollte, was habe ich damit zu tun? Das Öl liegt doch nicht unter dem Haus, in dem ich jetzt wohne.“

Das sollte witzig sein, aber Mary machte nach wie vor eine bedenkliche Miene. Dann gab sie sich einen Ruck und schenkte noch einmal die Gläser voll.

Die Verabschiedung bestand außer den obligatorischen Küsschen rechts und links noch aus einem gar nicht so ganz kurzen Kuss auf den Mund, auch die Umarmung fiel kräftiger aus als bei der Begrüßung. Als Gerrit die paar Schritte zu Viktorias Haus ging, sah er einige Sterne am Himmel. Das Haus selbst aber kam ihm sehr dunkel vor. Ich werde erst einmal überall Licht machen und nachsehen, ob sich niemand eingeschlichen hat, dachte er, machte sich aber sofort danach Vorwürfe, weil er sich von Marys Furcht hatte anstecken lassen.

 
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