Jugend

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Sie hatten sich hingekniet und beteten mit dem Pfarrer, auch ich betete mit. Dann verließen sie den Raum, ich musste mich zur Wand drehen, denn jetzt wollte der Pfarrer Karl die Beichte abnehmen. Ob er das mit seiner Rache beichten würde? Er musste es! In der Beichte durfte man keine Sünden verschweigen, und so eine große schon gar nicht! Ich hörte Murmeln und Flüstern, dann stand der Pfarrer auf. Ich drehte mich um und sah, wie der Pfarrer das Kreuzzeichen über Karl schlug. Dann war er seine Sünden los. Dann war er auch die Rache los!

Seine Familie kam wieder herein, und der Pfarrer salbte Karl an Augen, Ohren, Mund, Händen und Füßen und betete dabei. Ich verstand von seinem Gemurmel nur, dass Karl vor dem bösen Feind geschützt war und die Hölle keine Macht mehr über ihn hatte. Dann riefen wir alle Amen.

Karin kam zu mir, setzte sich auf mein Bett und nahm meine Hand, als wäre ich ein guter Freund von ihr. Ob ich glaubte, dass er sterben musste, fragte sie ängstlich.

Ich schüttelte heftig den Kopf. Das glaubte ich auf keinen Fall!

Karin senkte die Stimme, damit keiner sie hörte, und fragte, warum der Pfarrer von der Hölle sprach. Glaubte er, dass Karl in die Hölle kam?

Ich schüttelte wieder den Kopf. Nein, im Gegenteil, durch die Salbung war er vor der Hölle geschützt. Der Teufel konnte ihm nichts anhaben.

Also glaubte ich doch, dass er starb!

Ihr Gesicht war blass geworden, die Augen, von denen eins ab und zu wegrutschte, blickten mich groß und flehentlich an. Von meiner Antwort schien ihr ganzes Lebensglück abzuhängen. Sie erinnerte mich an Rosie. So hatte sie mich angesehen, damit ich still hielt, als wir uns vor den Russen hinter einem Busch versteckt hatten. Mein Herz klopfte, das Blut schoss mir hoch in einer Weise, dass es mich glücklich machte. Ich fühlte mich zu Karin hingezogen wie noch nie zu einem anderen Menschen.

Ich drückte ihre Hand, die immer noch auf meiner lag. Ich würde ihr jetzt sagen, warum Karl nicht sterben konnte.

Sie schaute mich wie in Trance an.

Karl und ich waren Blutsbrüder. Das bedeutete, dass jeder wusste, was der andere dachte. Und so wusste ich, dass Karl nicht sterben würde.

Sie riss die Augen auf, die sich mit einem sehnsüchtigen Glanz überzogen.

Es war ganz einfach. Wie er nicht wollte, dass ich starb, so wollte auch ich nicht, dass er starb. So konnte er nicht sterben.

Sie schaute mich voller Bewunderung an, was mir ein Gefühl der Macht gab. Das war neu für mich, das löste in mir Mut und Freude aus.

Sie wollte auch wissen, was Karl dachte, sagte sie leise.

Oh, meinte ich, das war einfach, ich brauchte nur ihr Blutsbruder zu werden.

Das wollte sie sofort, aber ich merkte, dass es mit dem Blut nicht so einfach wäre. Denn als ich ihr sagte, wie ich mit Karl das Blut ausgetauscht hatte, verzog sie das Gesicht. Klar, dachte ich, bei Blut stellen sich die Mädchen an. Ich hatte auch noch nie von Blutschwestern gehört.

Da hatte ich einen Einfall und ganz berauscht davon, sagte ich, dass es ganz einfach war. Sie brauchte mir nur einen Kuss zu geben.

Sie starrte mich an. Das hatte sie nicht erwartet.

Dann waren wir zusammen, erklärte ich. Sie kannte meine Gedanken und da drin waren auch Karls Gedanken. Also wusste sie, was Karl dachte!

Ihr linkes Auge rutschte ab und versuchte, wieder zurückzukommen. Dann schloss sie beide Augen, spitzte den Mund und schob ihn zu mir.

Ich küsste ihn und merkte, wie wir beide zitterten. Sie zog ihre Lippen nicht zurück, als erwartete sie noch mehr. Ich blieb auch so, weil es schön war. Dann aber lösten sich ihre Lippen, weil sie wissen wollte, was jetzt passierte. Dabei hielt sie ihre Augen geschlossen.

Richtig, ich musste ja an Karl denken und durfte ihre Erwartungen nicht enttäuschen. Ich suchte nach einem Vergleich. Es war wie beim Telefonieren, sagte ich. Manchmal kam man durch, manchmal nicht.

Oh!, machte sie, öffnete aber nicht die Augen. Und dann küsste ich sie noch einmal und sie küsste mich zurück, als wollte sie mir danken, und wir kamen ganz dicht zusammen und hörten unsere Herzen klopfen und unser Blut rauschen. Es war der Moment der ersten Liebe, ein magischer Moment!

Wir hörten ein Hüsteln und sahen den Apotheker die mitgebrachten Sachen einsammeln, weil der Pfarrer seine Gebete beendet hatte. Karin stand sofort auf, als ihre Mutter zu uns kam und umarmte sie. Dann wandten sie sich Karl zu, der regungslos in seinem Bett lag.

Plötzlich hatten sie es eilig, uns zu verlassen. Karl war eingeschlafen und sie wollten ihn nicht wecken. Der Pfarrer war schon gegangen und sie winkten kurz in meine Richtung. Das genügte ihnen zum Abschied.

Tatsächlich war es der letzte Abschied, denn ich sah Karin nicht wieder. Auch mit Karl sprach ich kein Wort mehr. Er schlief fest und ich wollte ihn nicht wecken. Einmal hörte ich sein Wimmern und Winseln, das immer höher anstieg, bis es abbrach und von neuem begann, es klang wie weinendes Schnarchen.

Früh am Morgen wurde Karl für seine entscheidende Operation hinausgerollt, mich unterzog man einer letzten Prüfung, danach durfte ich das Krankenhaus verlassen. Meine Mutter holte mich ab, aber ich wollte noch nicht weg. Ich wollte wissen, wie die Operation für Karl verlaufen war.

Meine Mutter sprach mit der Krankenschwester und sie sagte, die Operation war gut verlaufen, und man wollte ihn auf die Reha überweisen, damit er sich völlig erholte.

Ich bat um die Adresse der Reha, die mir die Krankenschwester gab.

Auf dem Nachhauseweg dachte ich schon an den Brief, in dem ich Karl schrieb, dass Karin jetzt zu unserem Bund gehörte. Er sollte mir ihre Adresse geben und Karin auf meinen Besuch vorbereiten.

Meine Mutter merkte, wie mich Karl beschäftigte und schüttelte den Kopf. Ich dürfte nicht alles ernst nehmen, was Karl in seinen krankhaften Vorstellungen gesagt hatte. Fühlte er sich nicht sogar von seinem Vater bedroht?

Ich erschrak, weil ich es für ein Geheimnis hielt. Woher wusste sie das denn?

Sie wusste es von der Krankenschwester und sie hatte auch gedacht, mich vor Karl zu warnen, aber als sie sah, wie gut ich mich mit ihm verstand und wie auch Karl sich über mich freute, hielt sie ihre Warnungen zurück. Ich blieb ja sowieso nicht lange im Krankenhaus.

Ich wollte nicht auf meine Mutter hören. Ich wollte, dass Karl mein Freund blieb. Wir hatten uns doch ewige Freundschaft geschworen!

Ich drehte mich von ihr weg und schaute aus dem Fenster. Da sagte sie nichts mehr.

Aber auch Karl und Karin sagten nichts mehr. Ich hatte meinen Brief an die Rehaklinik geschickt, bekam aber keine Antwort. Meine Mutter erklärte mir, dass die Ärzte Karl von seinen verrückten Ideen befreien wollten, und dazu gehörte, dass er auch mit mir brach, damit er sich nicht weiter in seinen Wunschvorstellungen verrannte.

Zuerst glaubte ich ihr nicht, dann wurde ich traurig. Ich fand unsere Blutsbrüderschaft überhaupt nicht verrückt. Es machte uns doch beide einzigartig! Wir waren nur mit Winnetou und Old Shatterhand zu vergleichen, die keinem Kampf auswichen und sich immer beistanden, weil jeder wusste, was der andere dachte. Freilich bemühte ich mich vergeblich, Karls Gedanken zu lesen. Er war davongeritten und hatte sich nicht einmal nach mir umgeschaut.

Hans öffnete die Augen und seufzte. „Später kam mir Karl tatsächlich wie eine verrückte Idee aus meiner Kindheit vor, aber ich konnte weder ihn noch Karin vergessen. Der Moment blieb tief in meinem Gedächtnis, als ich Karins Herzschlag und das Rauschen ihres Blutes hörte und ein Gefühl von Freude und Triumph empfand. Ein magischer Moment, als die Tür zur Jugend sich öffnete.“

Marianne richtete sich auf. „Die Sterbegebete des Pfarrers hatten auch etwas Magisches, und damit wurde gleichsam deine Kindheit zu Grabe getragen. Und für dich haben die Schmerzen aufgehört. Das muss doch auch eine Erleichterung gewesen sein.“

Er schüttelte den Kopf. „Dort, wo ich operiert wurde, wird es in der Pubertät stürmisch und, wenn du katholisch erzogen wirst, sündig. Du fühlst dich schwach und willst stark sein, du verlierst den Kampf und fällst in ungeahnte Tiefen, bis in die Hölle. Wie verlief denn deine Jugend?“

Sie schaute auf das Meer und überlegte. „Ich kann mich eher an einen Wirrwarr von Gefühlen erinnern. Unsicherheit ja, aber nicht so sehr Sünde und Hölle. Es ging eher um einen festen Platz in dem Netz von Beziehungen, das ich überall um mich geknüpft sah.“

„Erzähl doch!“

2. Geschichte

Bei mir wurde wie gesagt der Übergang von der Kindheit in die Jugend durch viel Unsicherheit bestimmt. Man will ja so viel und kann so wenig, man schwärmt für ein Idol und kann nicht auf Gegenliebe hoffen. Das Gewohnte löst sich auf, das Neue ist noch fremd. So erging es mir, als ich zum ersten Mal unsere Wohnung für mich allein hatte.

Ich war um die 15 Jahre alt und meine Eltern waren zu einer Taufe nach Hannover eingeladen, wir wohnten noch in Hamburg St. Georg. Harald, mein jüngerer Bruder, und ich sollten auch mit, wir konnten doch nicht allein zurückbleiben, aber ich wollte nicht. Einmal die Wohnung für mich haben und alles machen, was mir in den Sinn kam, das hatte ich mir schon lange gewünscht, selbst wenn es nur für ein Wochenende war, denn Sonntag Abend wollten meine Eltern zurück sein. Zum Glück hatte ich ein Argument, gegen das sich nichts sagen ließ. Ich musste für die Schulaufführung Cello üben.

Meine Mutter war ja, wie du weißt, damals die Musiklehrerin an meiner Schule und für sie war das Weihnachtskonzert der Höhepunkt des Schuljahres. Deshalb wollte sie anfangs auch nicht zur Taufe, weil das Konzert schon am folgenden Dienstag stattfand. Nur weil ihre Freundin noch einmal telefonierte und auch mein Vater darauf drängte, ließ sie sich überreden, nach Hannover zu fahren.

 

Meine Mutter war schon Wochen vorher ganz nervös geworden, weil irgend etwas nicht klappen könnte. Denn sie war von gnadenloser Genauigkeit, wenn es um die Qualität ihrer Musik ging. Wehe, wenn einer fehlte oder nicht genug übte. Der musste sich auf eine Schimpfkanonade gefasst machen. Und dann das Cello! In unserer Schule gab es keinen Cellospieler, also musste ich einspringen. Nicht dass meine Mutter mich darum bat. Sie bat mich nie um etwas, sie setzte es einfach voraus. „Die Situation erfordert es“, ihr Lieblingsspruch. Und dann ein mahnender Blick. Oder sie zuckte mit den Achseln. „Wer soll es denn sonst machen?“

So kam ich zu meinem Cello. Ganz schön beeindruckend so ein Instrument. Das hielt ich nicht einfach in der Hand wie eine Trompete oder klemmte es mir unter das Kinn wie die Geige, sondern das stand vor mir und verlangte, dass ich mich zu ihm setzte. Und wollte gut angefasst und ganz lieb gestreichelt werden. Und ich bemühte mich um seine regelmäßigen Streicheleinheiten und so wurden wir Freunde.

Auch im Orchester war es nicht so einfach. Das war wie eine große Maschine, weil es diesen Drill gab, alles gleichzeitig und gleichmäßig zu machen. Ich fühlte mich wie ein kleines Rädchen, und wehe, wenn ich mich nicht rechtzeitig drehte! Schrecklich, wenn ich meinen Einsatz um Sekundenbruchteile verpasste und andere aus dem Takt brachte. Die Blicke von meiner Mutter und den Mitspielern! Dann wäre ich am liebsten aus der Probe gelaufen.

Meine Mutter sah also ein, dass ich am Wochenende üben musste und nicht mitkommen konnte und so verabschiedete ich meine Familie an einem Samstagmorgen auf dem Hamburger Hauptbahnhof, wo ich von meiner Mutter noch viele Ermahnungen hören musste. Schließlich fuhr der Zug ein und meine Familie verschwand im Wageninneren. Ich wollte mich gerade davon machen, als ich die Stimme meiner Mutter hörte. Sie hatte diese laute Lehrerstimme, die durch Wände ging. Sie wollte mich am Abend anrufen und ich sollte mich bereit halten. Ob ich sie verstanden hätte?

Ich schrie ein Ja zurück und der Zug setzte sich in Bewegung. Ich wünschte ihr viel Spaß bei der Taufe. Sie sagte etwas, was ich nicht verstand. Aber ihr Gesicht sah nicht so aus, als hätte sie viel Spaß bei der Taufe ihres Patenkindes.

Obwohl ich es nicht wollte, winkte ich dem Zug nach, bis er hinter einer Kurve verschwand. Es war schrecklich kalt, ein eisiger Wind fegte über den Bahnsteig. Ich fror bis auf die Knochen. Es war aber nicht nur das, ich fühlte mich plötzlich so leer. Es war das erste Mal, dass meine Familie mich allein zurückließ. Aber ich hatte mich doch tagelang darauf gefreut, endlich einmal allein und frei zu sein, und schon vermisste ich die Familie in der ersten freien Minute! Ich verstand mich selbst nicht.

Ich dachte an die Wohnung, die ich leer vorfinden würde. Nicht dass der Kühlschrank leer wäre, den hatte meine Mutter vollgestopft. Das Essen war auch vorgekocht, ich brauchte es nur aufzuwärmen. Ich hätte also gar nicht viel dazukaufen müssen, um zu einer Party einzuladen. Das war nämlich seit jeher mein Wunsch gewesen und jetzt schien er sich zu erfüllen. Ich wollte auch sofort Sonja anrufen, um mit ihr alles zu besprechen, denn sie liebte Partys und kannte sich damit gut aus.

Aber jetzt zögerte ich, ich bekam sogar Angst davor. Ich hatte bei mir zu Hause noch nie eine Party gehabt. Meine Eltern hatte es nicht direkt verboten. Mein Vater hielt sich in solchen Sachen heraus und bei meiner Mutter wagte ich erst gar nicht zu fragen. Sie würde so lange darüber reden, bis ich keine Lust mehr hatte. Außerdem würde keiner kommen, wenn sie dabei war, denn jeder wusste, dass sie eine strenge Lehrerin war. Den Ruf konnte sie nicht loswerden, das ging ganz schön auf die Nerven. Und wenn sie wie jetzt nicht dabei war, stand sie wie ein Geist hinter mir und würde mich dauernd ermahnen, alles wieder in Ordnung zu bringen, sodass man nichts merkte. Aber das war unmöglich. Sie würde immer etwas merken.

Vor dem Bahnhof wartete ich auf den Bus und klapperte vor Kälte. Auch die Adventsstimmung mit den Lichtern und Liedern und den herumlaufenden roten Weihnachtsmännern konnte mich nicht erwärmen. Der Wind vereiste mein Gesicht und trieb die ersten dünnen Schneeflocken hin und her wie aufgescheuchte Fischschwärme. Gerade als ich mir weiße Weihnachten wünschte, tippte mich jemand von hinten auf den Rücken. Ich drehte mich um und Sonja stand vor mir. „Blödes Wetter!“, sagte sie und zitterte vor Kälte.

Ich war so froh, sie zu sehen, und wir umarmten uns und drückten unsere Wangen aneinander. Das hatte Sonja eingeführt, das kannte ich vorher nicht. Sie saß neben mir in der Schule, war fast zwei Jahre älter als ich, weil sie die neunte Klasse wiederholen musste. Sie zog mich an, weil sie so viel mehr wusste über Jungen und Liebe, machte mich aber auch unsicher, weil ich mich ihr gegenüber wie ein Trampel fühlte. Dann wieder nervte sie, weil sie immer die Hausaufgaben abschreiben wollte. Auch die Klassenarbeiten, wenn sie die Chance hatte. Allerdings passten die Lehrer jetzt besser auf, vielleicht hatte meine Mutter ihnen den Tipp gegeben. Sie mochte Sonja nicht, weil sie sich für die Schule schminkte. Ich fand das mutig. Den Mut hätte ich nie. Nicht vor meiner Mutter.

Sonja stand also vor mir und wollte wissen, was ich hier machte. Bei dem Wetter! Und ich erklärte ihr, dass ich meine Familie weggebracht hatte.

Das verschlug ihr fast die Sprache. Sie fuhren einfach weg und ließen mich allein zurück?!

Sie kamen ja Sonntag Abend wieder, beruhigte ich sie.

Dann wäre ich ja in dieser Nacht allein, freute sie sich und ließ ihre Augen wie Wunderkerzen leuchten. Sie würde an meiner Stelle eine große Party schmeißen. Jede Menge Leute würden kommen. Dafür garantierte sie.

Aber ich hatte Angst vor meiner Mutter. Die würde es merken.

Aber sie war jetzt nicht hier, darauf kam es an, rief Sonja. Nachher konnte man alles in Ordnung bringen. Dafür garantierte sie auch.

Ich schüttelte den Kopf. Ich dachte an die vielen Leute, die mich überrennen würden wie eine Herde wilder Kühe.

Sonja nickte. Sie schien mich zu verstehen. Aber an ihrem Gesicht sah ich, dass sie darüber nachdachte. Als ob sie noch einen Plan hätte. Dann fragte sie mich, ob wir nicht lieber zu Fuß nach Hause gehen sollten.

Das war mir recht. Ich hatte es nicht eilig. Cello üben konnte ich später und die leere Wohnung reizte mich auch nicht. Wir wohnten beide in der Schmilinskystraße und das war vom Hauptbahnhof höchstens zwanzig Minuten zu Fuß. Nur wegen des schlechten Wetters hatte ich auf den Bus gewartet. Und weil meine Mutter schon meine Fahrkarte bezahlt hatte.

Sonja erzählte mir gleich von ihrem Freund Jens, mit dem sie Ärger hatte. Es war ein ständiges Auf und Ab in ihrer Beziehung. Jetzt war er sauer auf sie, weil er sie mit Uwe gesehen hatte. Jens war eifersüchtig, was ihr nicht gefiel. Aber sie wollte mit ihm auch nicht Schluss machen. Eigentlich gefiel es ihr, zwischen zwei Liebhabern zu stehen.

Ich bekam ganz rote Ohren, aber nicht von der Kälte, die merkte ich gar nicht mehr, sondern von dem, was ich hörte. Wie aufregend das alles war von Liebe und Eifersucht! Und Sonja hatte keine Angst, zwischen zwei Liebhabern zu stehen. Ich könnte nicht einmal vor einem ruhig stehenbleiben! Freilich würden sie mich auch gar nicht angucken.

Jens kannte ich noch von früher. Ein Junge mit schwarzen Knopfaugen, fröhlich und hilfsbereit, der immer lachte, bevor er seinen Witz zu Ende erzählte. Jetzt sah ich ihn nur selten. Er war ernst und verschlossen geworden, nickte und ging weiter, wenn wir uns auf der Straße begegneten.

Uwe war älter als wir, schon um die 20 rum, wie Sonja meinte. Er besuchte wie Jens die 12. Klasse des benachbarten Jungengymnasiums, hatte wer weiß wie oft wiederholt. Über ihn redeten alle, besonders die Mädchen. Er sah nicht nur gut aus, er konnte sich auch alles leisten, was er wollte. Er trug teure Klamotten, fuhr schon ein Auto, feierte viele Partys. Seine Eltern waren reich, oft unterwegs, überließen ihm das Haus.

Sonja erzählte weiter und es wurde deutlich, dass sie Uwe nicht nur gesehen hatte, sondern auch auf einer seiner Partys gewesen war. Ohne Jens! Kein Wunder, dass er sauer war, dachte ich, sagte es ihr aber nicht, aus Angst, sie würde dann nicht mehr so vertraulich reden.

Wir liefen die Langen Reihe runter, wo die Geschäfte festlich geschmückt waren, und vor einem blieb Sonja stehen und überredete mich mitzukommen, weil sie noch Geschenke brauchte. Das war gar nicht so einfach. Sonja konnte sich nicht entscheiden. Sie gehörte zu den Leuten, die ein Horror für jeden Laden sein mussten, weil sie alles herauszogen, aufmachten, anprobierten und fallen ließen. Selbst wenn es auf den Boden fiel, war es ihr egal. Am Anfang hatte ich die Sachen noch aufgehoben, weil ich dachte, es wäre ein Versehen. Nachher natürlich nicht mehr. Ich war ja nicht blöd!

Immerhin fand ich für meine Mutter einen schönen Schal aus feiner Wolle, für meinen Vater einen ledernen Tabaksbeutel, damals rauchten die Männer noch Pfeife!, und für meinen Bruder ein Universum-Jahrbuch für Jungen. Als wir mit den Einkäufen fertig waren, machte Sonja einen verrückten Vorschlag. Wir könnten doch Uwe besuchen. Er wohnte ganz in der Nähe.

Ich hatte keine Lust. Ich wollte die Geschenke nach Hause bringen und dann Cello üben.

Da sagte Sonja etwas, was mich echt erstaunte. Uwe wollte mich sehen. Er hatte sogar nach mir gefragt.

Ich konnte es nicht glauben. Sie sollte mir doch den Grund nennen, warum er mich sehen wollte.

Das wusste sie auch nicht. Warum fragte ich ihn nicht selbst?

Er sollte mich fragen, nicht ich, rief ich. Und wenn er mich nicht fragte, war es ihm auch nicht wichtig!

Sie zuckte wieder nur die Achseln. Aber sie hatte einen Plan in ihrem Kopf. Das merkte ich. Nur hatte ich keine Lust, mitzuspielen. Und doch begann gegen meinen Willen mir das Herz zu klopfen. Uwe, der sich die Mädchen aussuchen konnte, wollte mich kennenlernen. Sehr seltsam! Bis jetzt hatte ich nicht gemerkt, dass er irgendein Interesse an mir zeigte.

In dem Augenblick hielt vor uns ein rotes Auto. Da die Parkplätze am Straßenrand besetzt waren, fuhr der Fahrer auf den Bürgersteig, sodass die Fußgänger an die Seite gedrängt wurden. Das störte den Fahrer nicht. Er kurbelte das Wagenfenster herunter und rief unsere Namen. Und Soja schrie zurück, erstaunt und vor Freude winkend: „Uwe!“

Richtig, das war er! Ich kannte ihn kaum, aber er war mit seinem Schlapphut und buntem Schal nicht zu übersehen. Und kaum hatten wir von ihm gesprochen, war er schon da. Als ob er uns verfolgte! Und er wusste meinen Namen! Wieder schlug mir das Herz, obwohl ich es nicht wollte.

Aber er rief so, dass es mich ärgerte: „Kommt, steigt ein, ich brauche euch!“

Ja, waren wir denn seine Dienstmädchen? Glaubte er, uns befehlen zu können?

Aber Sonja stand da und machte den Mund auf, starr vor Bewunderung. „Uwe!“, rief sie. „Wir kommen!“

Und sie nahm meine Hand und zog mich mit und Uwe, der schon die Hintertüren aufgerissen hatte, beugte sich vor und bat wie ein Chauffeur, doch bitte schön Platz zu nehmen. Ich war erstaunt, dass er zuerst an meiner Seite stand.

Das lief alles so schnell und verwirrend vor meinen Augen ab, dass ich machtlos war. Ich konnte auch gar nichts sagen, denn im nächsten Moment hielt der Wagen schon wieder.

Uwe sprang hinaus, öffnete den Kofferraum und holte ein großes Tablett hervor. „Nimm das mal!“, sagte er und reichte es Sonja, die ihm sofort gefolgt war. Ich bekam das zweite, das auch mit Alupapier bedeckt war, in die Hand gedrückt. Es war heiß und roch nach Käse und Tomaten. Es musste eine Pizza sein, die damals in Mode kam.

„Bringt das schon mal rein! Ich komme gleich nach. Ich muss nur den Wagen parken.“

Ich hatte keine Zeit für Fragen, denn Uwe drückte auf einen Knopf und sagte etwas in die Sprechanlage, worauf sich die Tür öffnete. „Einfach klingeln!“, wandte er sich an Sonja. „Du weißt ja, wo ich mein Zimmer habe.“

Es schien, als könnte er gar nicht anders als im Befehlston sprechen.

Sonja nickte brav und marschierte mit Tablett und ihrer Tasche den Weg hoch zur Villa. Ich folgte ihr, auch mit dem Tablett und meinen Weihnachtsgeschenken beladen, und verstand uns nicht. Warum machten wir alles, was er wollte?

 

Sonja wunderte sich über mich. Sie war froh, helfen zu können. Es war schrecklich, nur herumzustehen und nichts zu machen! Das sagte meine Mutter auch und doch konnte man sich keinen größeren Unterschied vorstellen als den zwischen ihr und Sonja!

Sonja klingelte und die Tür ging auf, als hätte sie „Sesam, öffne dich!“ gesagt. In der Eingangshalle befanden sich zwei gegenüber liegende Wandspiegel, die uns bis in die Unendlichkeit vervielfältigten. Gegenüber der schlanken, formvollendeten Sonja kam ich mir vor wie ein Pummel, ein Kind noch, das sich in eine fremde Welt wagte. Und Uwe wollte mich sehen? Lächerlich!

Gegen die nächste Tür, die uns den Weg versperrte, klopfte Sonja und wir hörten ein helles „Ich komme schon!“, das mir bekannt vorkam. Wer öffnete, war keine andere als Edith Borinski, unsere sattsam bekannte Schulschönheit, die überall da war, wo man sie nicht erwartete. Das heißt, man konnte sie sich schon in Uwes Nähe vorstellen, denn nichts lag ihr näher, als einen reichen, jungen Mann zu krallen. Dass sie es aber geschafft hatte, so schnell sein Zimmer zu erobern, wunderte mich doch.

Ihr Gesicht nahm den üblichen hochmütigen Ausdruck an, als sie uns fragte, ob wir jetzt im Lieferdienst wären.

Sie trug dunkle Nietenhosen und ein weites, schwarzes Tuch, das sie auseinanderfaltete, wenn sie die Arme hob. Eine große Krähe, die ihr Revier verteidigte!

Sonja hätte sie beinahe mit dem Tablett gerammt. „Wohin mit dem Zeug?“, knurrte sie.

Die Krähe flatterte mit den Flügeln und die Ohrringe klirrten. Ob uns Uwe das nicht gesagt hätte?

Nein, hatte er nicht! Und wenn sie es nicht sofort sagte, würden wir die Tabletts fallen lassen, und dann könnte sie vom Fußboden essen, rief Sonja.

Ediths Gesicht war rot geworden. Sie lief zur Küche und ihre Stiefel klapperten. „Wenn ihr es da abstellen könnt? Danke. Dann bis später!“ Sie wollte uns hinauskomplimentieren.

Das gefiel Sonja nun gar nicht und sie machte es sich auf einem Sessel bequem. Sie würde auf Uwe warten. Mal sehen, wie er entschied.

Ich wollte eigentlich wieder los, aber es war klar, das konnte auch ich mir nicht gefallen lassen. So nahm ich auf dem nächsten Sessel Platz und betrachtete das Zimmer. Es war groß und hatte eine Küchenecke und an einer Seite einen Vorhang, hinter dem ich das Bett vermutete. Eine halb offene Tür ließ das Bad sehen. Das alles für eine Person! Das heißt, Edith gehörte auch dazu, aber eher als Teil seines Mobiliars. Und Uwe wollte mich sehen?! Sollte ich auch zu seinem Mobiliar gehören?

Er war so reich, dass er glaubte, sich alles leisten zu können. Aber so einfach war das nicht. Mich sollte er nicht kriegen!

Edith hatte eine Schiebetür geöffnet und war auf den Balkon getreten. Sie wollte rauchen, wie man schnell sah. Ich war neugierig geworden. Die Aussicht auf die Alster, die vor uns lag, musste grandios sein, deshalb folgte ich ihr. Allerdings blickte man in dieser Jahreszeit nur auf düsteres, unruhiges Wasser und ich konnte gerade noch den Schatten der Lombardsbrücke erkennen, über die sich die Leuchtpunkte der Autos bewegten.

Edith musste aber von der herrlichen Aussicht im Sommer schwärmen, um deutlich zu machen, wie lange sie schon Uwe samt Wohnung kannte! Ihr war kalt geworden, sie hatte ja nicht viel an, und begann zu zittern. Sonja, die auch nach draußen gekommen war, sagte ihr, dass sie sich vor dem Wind in Acht nehmen sollte. Der wehte jetzt aus einer anderen Richtung!

Sonja konnte sehr scharfzüngig sein, was Edith überhaupt nicht gefiel. Beide Mädchen starrten sich mit funkelnden Augen an, als ob sie sich gleich in die Haare gerieten. Was mir wiederum nicht gefiel. Wenn ich etwas hasste, dann waren es Auseinandersetzungen, die in Handgreiflichkeiten endeten.

Ich verließ schnell den Balkon und dachte, es wäre Zeit, nach Hause zu gehen, als die Tür sich öffnete und Uwe vor mir stand. Er nahm mir den Atem. So von der Nähe betrachtet, sah er ja noch viel besser aus, als ich dachte! Er war groß, sportlich, breitschultrig, blond, ein Traum von einem Mann! Ich hatte ihn mir noch nicht genauer ansehen können, es war im Auto ja alles so schnell gegangen, jetzt kam er mir so nahe, dass er mir einen Kuss auf die Wange drückte. Ich war wie gelähmt und kam mir wie eine dumme Gans vor. Tatsächlich überzog eine Gänsehaut meinen ganzen Körper. Wahrscheinlich war ich auch noch rot geworden, was mir oft passierte. Es war einfach nur peinlich!

Er aber lächelte, der Strahlemann, und freute sich, mich zu sehen. Das hätte er sich schon die ganze Zeit gewünscht.

Ich konnte ihm nicht glauben, ich konnte aber auch nichts sagen.

Es störte ihn nicht. Er lächelte weiter und fand es unglaublich, dass ich meinen Weg zu ihm gefunden hätte, wo doch meine Mutter überhaupt nichts von ihm hielt. Sie wäre sicherlich nicht erfreut, wenn sie wüsste, dass ich hier war!

Ich hatte immer noch meinen Kloß in der Kehle, wunderte mich aber, dass er so viel Interesse an mir zeigte.

Sonja, die mit Edith ins Zimmer gestürmt war, als sie Uwes Stimme hörte, erklärte, dass meine Mutter mir gar nichts sagen konnte, weil sie verreist war.

„Hat sie dich allein zurückgelassen?“, rief Uwe und breitete die Arme aus. Edith trat sofort zu ihm, als wollte sie umarmt werden.

Das wurde mir zu viel. Ich musste nach Haus.

Davon wollte Uwe nichts wissen. Er schob Edith fort, nahm aber ihre Hand und zog sie mit sich zur Küchenecke, von wo sie mit vier Gläsern und einer Sektflasche zurückkamen. Er entkorkte sie mit lautem Knall und füllte die Gläser mit gekonntem Schwung, sodass der sprudelnde Schaum aufstieg, aber nicht überfloss, sondern im letzten Augenblick innehielt.

Ich wusste nicht, wie mir geschah, es kam mir wie ein Traum vor. Ich machte mit, weil ich nicht anders konnte. Ich nahm das Glas in die Hand und trank es leer und fühlte mich viel besser. Ich bekam auch Hunger und langte zu, als die Pizzen ausgepackt wurden und herrlich dufteten. Was mich aber am meisten beeindruckte und zugleich verwirrte, war, dass Uwe die Augen nicht von mir lassen konnte. Warum ich?, dachte ich. Ich war doch viel jünger und hässlicher als Sonja und Edith, die freilich lange Gesichter machten und miteinander tuschelten, als wollten sie sich gegen mich verbünden. Obwohl sie sich doch vorher noch an die Gurgel springen wollten! Oder machte er mir nur schöne Augen, um meiner Mutter eins auszuwischen?

Meine Mutter unterrichtete nämlich auch in seinem Gymnasium, weil sie dort zu wenige Musiklehrer hatten. Und er war in ihrem Kurs, was ihm überhaupt nicht gefiel. Es war ja klar, dass sie ihm mit ihrer pingeligen Ordentlichkeit und Rechthaberei auf die Nerven ging.

Plötzlich klingelte es. Wir starrten erschrocken auf das Telefon, das auf einem Tischchen in der Ecke stand. Uwe erhob sich langsam und langte nach dem Hörer, den er lässig an sein Ohr hielt. Er nannte gelangweilt seinen Namen. Dann aber änderten sich Haltung und Gesicht. Er stand stramm und sah zuerst verlegen, dann erschrocken und schließlich ganz brav aus, während er „Ja, ja, natürlich!“ murmelte.

Er legte den Hörer auf die Gabel und wischte sich über das Gesicht. Seine Eltern kämen in der Nacht zurück. Es wäre also nichts mit seiner Party! Jetzt müsste er seinen Leuten absagen und die Wohnung einigermaßen in Ordnung bringen, damit seine Eltern nicht in Ohnmacht fielen.

Er ließ sich betrübt in einen Sessel fallen. Edith sprang auf, um ihn zu trösten, aber er stieß sie zurück. Sie sollte ihm lieber beim Aufräumen helfen, knurrte er. Aber er machte keine Miene, selbst dabei Hand anzulegen, sondern holte sein Telefonbüchlein hervor, um seinen Leuten abzusagen.

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