Jugend

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Klaus Steinvorth

Jugend

Eine Rückschau in sechs Geschichten

Ein altes Ehepaar, das gerade seine Goldene Hochzeit gefeiert hat, schaut in entspannter Ferienlaune auf seine Jugend in den späten 1950er Jahren zurück, als sich in Westdeutschland ein neues Freiheitsbewusstsein in der konservativen Nachkriegszeit durchzusetzen begann. In fünf Geschichten berichten Hans und Marianne jeweils aus ihrer Perspektive von den Wirren ihrer Jugend, in der sie nach Anerkennung, Liebe und Freiheit suchen.

In der ersten Geschichte erfährt Hans durch einen Krankenhausaufenthalt den Abschied von der Kindheit und den schmerzhaften Eintritt in die Jugend. Marianne berichtet in ihrer Geschichte von der Anziehungskraft des Rock 'n' Roll, durch den sie für drei Minuten die erste Liebe erlebt. In ihrer nächsten Geschichte schildert sie die Erlebnisse ihrer ersten Tanzstunde, wo die Damen um ihre Tanzstundenherren kämpfen. Dann beschreibt Hans die Schwierigkeiten des pubertierenden Jungen im Spannungsfeld von katholischer Kirche, Schule und Nazivergangenheit der Väter, während Marianne von der betörenden Isabel erzählt, die auf ihre Weise der repressiven Gesellschaft ein Schnippchen schlägt. Zuletzt gibt ihnen die Enkeltochter ihr eigenes Jugenderlebnis zum Besten. In diesen sechs Geschichten wird das Glück und das Leiden der Jugend während der Schulzeit erzählt, ihnen gemeinsam ist die Intensität des Erlebten und die Ichbezogenheit der Erzähler. Und die Sehnsucht nach einer fernen Vergangenheit, die nachsichtig lächeln lässt.

Bildnachweis Cover: Westdeutscher Rundfunk Köln

1.Geschichte

Hans und Marianne Joraschky hatten von ihren Kindern anlässlich ihrer Goldenen Hochzeit einen Sommerurlaub auf Sylt geschenkt bekommen. Nach ihrer große Feier saßen sie jetzt in ihrem Strandkorb am Meer und betrachteten wohlgefällig das bunte Treiben vor ihren Augen.

Marianne konnte nicht umhin, auf den jungen Mann zu schauen, der mit seiner Freundin Ball spielte. Wie lässig er seinen Körper drehte und eine Reihe von Muskeln hervorspringen ließ! Alles Kraft und Bewegung! Wenn sie noch jung wäre, würde sie sicherlich auch gern mit ihm Ball spielen wollen.

Oder doch nicht? Heute, wo sie den schleichenden Verfall ihres Körpers miterleben musste, stellte sie es sich wundervoll vor, ihn ganz und gesund zu genießen. Aber damals hatte sie seine Funktionstüchtigkeit als selbstverständlich hingenommen. Damals hätte sie den jungen Mann mit ganz anderen Augen gesehen, ihn vielleicht sogar lächerlich gefunden. So vernarrt in den Körperkult war sie nie gewesen.

Sie warf einen Blick auf Hans, der seine Augen im fast törichter Andacht auf die Freundin des jungen Mannes ruhen ließ. Es war so einfach, seine Gedanken zu durchschauen. Er schwelgte in seiner Jugend, wo noch so vieles möglich war.

Sie hörte ihn seufzen und lächelte: „Das ist vorbei, mein lieber Hans, mach dir keine Illusionen!“

Er grunzte und schien nicht beglückt über ihren Einwand.

„Unsere Körper sind alt geworden, aber die Sehnsucht ist geblieben!“, sagte sie, um ihm zu zeigen, dass sie ihn verstand, und schaute auf das glitzernde Meer. Ohne Sonnenbrille hätte sie die Lichtflut über dem Meer gar nicht ertragen. Man müsste eine Spezialbrille haben, um sich gegen die gleißende Schönheit der Jugend zu schützen, dachte sie.

Es würde nicht helfen. Die Jugend hat immer Schönheit, wenn man sie vom Alter betrachtet. „Ja, ja, die Jugend!“, seufzte sie.

„Die Jugend summt, das Alter brummt“, brummte er und schaute sie Stirn runzelnd an.

Sie schaute erstaunt. Schwelgte er doch nicht in Jugendwonnen?

Die Jugend war ihm eine Zeit der Irrungen und Wirrungen, so unübersichtlich, so komplex! Die Höhen und Tiefen der von Testosteron gesteuerten Pubertät, die Glaubenszweifel und -kämpfe mit der Katholischen Kirche, die Auseinandersetzung mit der Nazi-Vergangenheit des im Krieg gefallenen Vaters, nein die Jugend war keine Zeit, die er noch einmal durchleben wollte! Die Kindheit, das war etwas anderes, das war noch das Paradies. Das musste er unter Schmerzen verlassen, wie man immer das Schöne unter Schmerzen aufgibt.

„Aber Hans!“, rief sie. „Jugend mit dem Wissen des Alters wäre keine Jugend! Zur Jugend gehört das Unsichere und Unfertige, das Recht auf Fehler und Irrtümer!“

Sie lachte leise. Der träumerische Glanz ihrer Augen wurde feucht, was Hans nicht sehen konnte, weil ihre Sonnenbrille ihn verbarg.

Schon!, gab Hans zu. Man musste ja auch durch diese Phase durch, um sich selbst zu finden, aber wie man aus der Kindheit in die Jugend gestoßen wurde, das war schon schmerzhaft, bei ihm jedenfalls.

„Erzähl doch darüber!“, bat sie mit plötzlicher Begeisterung, die ihm eine Spur zu dringlich erschien.

„Ach, du kennst doch das alles über meine Phimose!“, wehrte er ab.

Sie neigte sich zu ihm. „Oder willst du lieber lesen?“ Dabei nahm sie die Sonnenbrille ab, um sie zu putzen. Jetzt hätte er eine kleine Träne in ihrem Augenwinkel sehen können, aber so genau sah er sie nicht an. Er hatte es im Alter vergessen. Er kannte sie ja.

Er hätte am liebsten gelesen, aber dann konnte ihre gute Laune schnell umschlagen, was er auf jeden Fall vermeiden musste. Schließlich waren sie in den Ferien, wo sie sich von der Goldenen Hochzeit erholen wollten.

Er lehnte sich bequem zurück, sodass er im Schatten des Strandkorbs lag und schloss die Augen. Jetzt also der Sprung in die Kindheit, die 70 Jahre zurücklag. Gott, was war er damals brav und naiv gewesen, ein Kind, mit dem er zwar sein Ich teilte, das sich aber sonst fast gänzlich von ihm unterschied! Das ihn rührte, wie ihn heute seine kleinen Enkelkinder rührten.

Und da fühlte er wieder wie ein 12-Jähriger und spürte einen schneidenden Stich im Unterleib. Wie bei einer Geburt begann das Neue mit Schmerzen.

Wir hatten das Fußballspiel gegen die Nachbarklasse knapp gewonnen und tranken auf unseren Sieg und einer von uns, Volker Wiese, spendete einen Kasten Sinalco, weil sein Vater ein reicher Mann war. Und danach stellten wir uns in die Büsche und erleichterten uns. Doch bei mir war es keine Erleichterung. Ich bekam nur ein paar Tropfen raus und die auch nur mit höllischen Schmerzen. Wenn ich drücken wollte, stach es spitz und scharf, und dabei musste ich so dringend. „Oh Gott, ich kann nicht!“, rutschte es aus mir heraus.

Volker Wiese, der neben mir stand, wollte wissen, was ich nicht konnte.

Ich zeigte auf das, was er gerade machte, aber er verstand mich nicht und ich hatte keine Lust, es ihm zu erklären, weil ich Wichtigeres zu tun hatte.

Ich knöpfte schnell meinen Hosenstall zu und wollte mich auf mein Fahrrad schwingen, als ich merkte, dass es nicht ging. Auf einem Sattel sitzen hätte meine Blase zum Platzen gebracht. Die kam mir so schwer vor wie das pralle Euter einer Kuh. Ich schob mein Rad und konzentrierte mich auf den Schmerz. Ihn bloß nicht größer werden lassen, war mein einziger Gedanke. Zu Hause auf das Bett legen, nichts tun, dachte ich weiter. Dann schlafen und am nächsten Morgen wäre sicher alles vorbei.

Zu Hause sah meine Oma mit einem Blick, dass mit mir etwas nicht stimmte. Wieder hatte ich Mühe, es zu erklären, aber sie verstand mich und ich musste mich ganz ruhig auf das Sofa legen und die Fliegen auf der Wand zählen. Ich hörte, wie in der Küche das Wasser kochte und Schranktüren klappten. Dann kam meine Oma mit einer heißen Tuchrolle, die noch feucht war. Die sollte ich an die Stelle legen, wo es mir weh tat.

Es wurde aber nicht besser. Zuerst dachte ich, ich müsste nur länger warten, wie eine Medizin am Anfang ja auch bitter schmeckt, aber es nützte nichts. Es wurde unten noch heißer und praller, es war wie ein Ballon, der sich aufblähte und bald platzen würde. Jetzt tat jede Bewegung weh.

Meine Oma merkte, dass ihr Heilmittel nicht richtig war, und rannte aus unserer Haustür in die nächste, die auf unserem Stock lag. Dort wohnte die alte Frau Cholewa, die Krankenschwester gewesen war. Die kam nach einigen Minuten angeschlurft, warf einen kurzen, eher mürrischen Blick auf mich und wollte meinen Pimmel sehen, wie sie sagte. Ich erschrak über das Wort, weil ich so was nicht sagen durfte, holte aber heraus, was sie wollte, und sah geschockt, was noch nie so groß gewesen war.

Frau Cholewa war entsetzt. Omas heiße Wickel waren das völlig Falsche! Sie bewirkten eine Gefäßerweiterung und verstärkten die Durchblutung, erklärte sie.

Omas Gesicht lief rot an. Bei ihr half es immer.

Bei einer Blasenentzündung, ja. Aber das hier war eine Phimose!, schrie Frau Cholewa.

Meine Oma wich erschreckt zurück, als hörte sie ein gefährliches Wort.

Frau Cholewa erklärte weiter, dass es sich um eine Verengung der Vorhaut handelte, die bei Frauen freilich nicht vorkam.

Meine Oma warf sich in die Brust. Sie hatte fünf Kinder großgezogen, darunter zwei Jungen. Sie brauchte keine Belehrung!

Frau Cholewa hörte nicht weiter hin, sondern verlangte nach einem Arzt. Den sollten wir sofort anrufen.

Wir hatten zu Hause kein Telefon, es war zu teuer und außerdem wollte meine Oma so was nicht. Sie konnte nicht mehr gut hören und schrie in die Sprechmuschel, als sollte man sie auch ohne Telefon verstehen. Wenn man sie darauf ansprach, war sie beleidigt. Man durfte nicht einmal das Wort „Telefon“ in ihrer Gegenwart aussprechen.

Das wusste Frau Cholewa, die aber auch kein Telefon hatte. Deshalb wollte sie zu Frau Kreut laufen. Die hatte einen Tabakladen um die Ecke und ein Telefon.

Nach kurzer Zeit kam Dr. Lautermann. Er sagte nicht Pimmel, sondern Organ, auf das er einen Blick werfen wollte.

 

Sein Gesicht wurde ernst, während er mich ansah, und meinte, zuerst musste der Druck weg.

Das wollte ich auch.

Ich musste die Augen zumachen und die Luft anhalten, aber weil er meiner Oma ein Zeichen machte, mich von hinten festzuhalten, konnte ich das natürlich nicht. Und jetzt passierte das, was für mich der größte Schmerzensmoment war. Dr. Lautermann hatte eine Spritze in der Hand, hob mein wehrloses Organ und stach mitten hinein. Ich war vor Entsetzen gelähmt. Jetzt musste die Welt untergehen und alles aufhören! Als ich schreien und aufspringen wollte, war es schon vorbei. Dr. Lautermann tätschelte mir die Wange. Ich hätte mich brav gehalten, aber ich musste ins Krankenhaus.

Der Krankenwagen kam erst spät in der Nacht. Meine Mutter war inzwischen von der Arbeit zurückgekehrt und hielt mir die Hand, aber ihre zitterte. Meine Oma lief wie eine aufgescheuchte Henne durch die Wohnung. Sie waren so um mich bemüht, dass es lästig wurde. Denn ich hatte jetzt kaum Schmerzen, weil ich wieder aufs Klo konnte.

Ich war froh, als der Krankenwagen kam. Er brachte mich mit meiner Mutter in das St. Georg-Krankenhaus, wo sie mich zum Schlafsaal der Kinder begleitete. Es war schon Nacht, nur das Notlicht flimmerte rot, aus allen Ecken stieg Wimmern und Stöhnen hoch. Ich legte mich in das einzige freie Bett und meine Mutter schien sich neben mich legen zu wollen. Sie hatte Angst, mich allein zu lassen. Die hatte ich nun wirklich nicht. Ich hatte höchstens Angst, dass man von den benachbarten Betten sehen würde, wie ich bemuttert wurde. Weil ich keinen Vater hatte und einziges Kind war, glaubte alle Welt, dass ich ein Muttersöhnchen wäre.

Schließlich wünschte sie mir eine gute Nacht und sagte, ich sollte immer an sie denken, wenn ich Angst hätte. Sie würde mir die Daumen drücken.

Es wäre ihr nicht recht gewesen, hätte sie gewusst, dass ich keinen Gedanken an sie verschwendete. Denn ich schlief sofort ein. Allerdings hatte man mir bei der Aufnahme ins Krankenhaus gleich eine Spritze gegeben.

Früh am Morgen wurde ich operiert. Man wollte mir die Schmerzen ersparen, also versetzte man mich in Narkose. Allerdings war es bei mir auch komplizierter, jedenfalls musste ich noch einmal operiert werden, weshalb ich länger als vorgesehen im Krankenhaus blieb.

Als ich nach meiner ersten Operation aufwachte, keuchte und hustete es neben mir. Ich sah wirre Haare und eine geballte Faust, die gegen das Bettgerüst schlug, sodass es schepperte. Ein Junge lag mit dem Rücken zu mir und knirschte manchmal mit den Zähnen. Dann sprach er wütend in das Kissen, was ich aber nicht verstand. Über dem Kopfende konnte man am Schild lesen, dass er Karl Zimmermann hieß und am 6.2.1940 geboren war. Dann war er über einen Monat älter als ich.

Als uns das Essen auf dem Tablett gebracht wurde, sah Karl mich an. Die großen Augen leuchteten unruhig aus dem blassen Gesicht. Er wollte wissen, warum ich hier war.

Ich wollte es nicht sagen, ich konnte es nicht sagen. Bei uns zu Hause sprach man über so was nicht. Bei dem Arzt war es unvermeidlich gewesen, er hatte gefragt, ich musste antworten. Aber freiwillig darüber reden? Nie! Und hier war ein fremder Junge. Was sollte er von mir denken? So sagte ich, weil er auf meine Antwort wartete, dass ich einen Leistenbruch hatte. Der kam vom Gewichtheben. Oh ja, versicherte ich, das tat ich regelmäßig und hatte schon ein paar Meisterschaften gewonnen. Keiner würde es mir zutrauen, ich wusste ja selbst, dass ich nicht danach aussah, aber dann wunderten sich alle, dass ich die schweren Hanteln schaffte.

Ich hatte noch nie Hanteln gestemmt, wenn ich auch gerne stark und muskulös gewesen wäre, aber ich sah, wie Karl mir gespannt zuhörte. Leicht kam man in eine Geschichte hinein, aber schwer wieder heraus, das hatte ich schon oft gemerkt. Jetzt forderte er mich auf, meine Muskeln zu zeigen. Ich winkte ab. Es kam nicht auf die Muskeln an, sondern auf das Knochengerüst. Das musste das schwere Gewicht tragen. Jetzt wäre ich natürlich im Trainingsrückstand, aber das holte ich nach. Und ich redete weiter von meinem Trainer und den Übungseinheiten, bis ich es selbst halb glaubte. Karl glaubte es ganz, das war deutlich. Seine Augen leuchteten mild, beinahe zufrieden. Dann schloss er sie und schlief ein. Wobei er wieder ächzte und stöhnte und sich von einer Seite auf die andere warf.

Er hatte etwas mit dem Herzen und war schon mehrmals operiert worden, sagte die Schwester. Es wäre nicht leicht mit ihm, weil er immer das Schlimmste befürchtete. Ich sollte ihm gut zureden.

Nach dem Essen begann Karl mit seiner Geschichte. Zuerst dachte ich, er wollte noch stärker auftrumpfen, um mich in den Schatten zu stellen, aber dann wurde es richtig gruselig. Ich konnte gar nicht hinhören. Es ging um seinen Stiefvater, den er für einen Mörder hielt. Oh ja, der hatte als Apotheker alle Mittel der Welt, um einen Menschen kaltzumachen, ohne dass die Polizei es merkte. Der perfekte Mord! Wenn er es einem Menschen zutraute, dann ihm. So freundlich war der, konnte lächeln und loben und streicheln. Aber wenn ihm etwas nicht passte, brüllte er los, mit Schlitzaugen und Wutflecken im Gesicht. Ein Herz aus Stein, das hatte er.

Karl fasste sich an die Brust und stöhnte. Der hatte ihn vergiftet und darum war sein Herz so kalt. Genau so wie bei seinem Vater. Der war auch am Herzen gestorben. Weil der Apotheker ihn beseitigt hatte. Nur um seine Mama zu kriegen. Die es nicht einmal mitbekam. Aber eines Tages würde sie es herausfinden.

Seine Augen glühten und sein Gesicht brannte. Hinter ihm griff der Baum mit langen Fingern durch das Fenster. Gleich würde er sie ihm auf den Mund legen, damit er nicht weitersprach. Wer so log, durfte nicht weitersprechen! Und dann sprach er noch schlecht über seine Eltern, das war auch eine Sünde, selbst wenn es der Stiefvater war. Hoffentlich drehte sich Karl nicht um und sah, was der Baum mit ihm machen wollte! Hoffentlich schwieg er und schlief wieder ein. Aber es flackerte lichterloh in ihm. Er drohte mit der Rache, die auf den Mörder fiel, wohin er auch floh.

Ich hielt es nicht aus und legte den Schlauch unter der Decke zurecht. Sie hatten mir einen Katheter eingeführt, den sollte er nicht sehen.

Schließlich beruhigte er sich und fragte, ob ich auch so einen schrecklichen Stiefvater hätte?

Ich könnte einen bekommen, sagte ich. Mein Vater war im Krieg gefallen und meine Mutter nicht wiederverheiratet. Aber sie könnte jederzeit einen Mann nach Hause bringen, den ich dann zum Stiefvater hätte.

Das glaubte ich zwar nicht, hielt es sogar für unmöglich, weil meine Mutter auf die Männer schimpfte und immer wieder sagte, wie froh sie war, keinen zu haben. Aber Karl sollte nicht glauben, dass ich es besser hätte.

Karl ließ sich davon nicht beeindrucken. Gegen einen Stiefvater hatte er nichts, nur gegen einen, der ein Mörder war. Morgen könnte er schon tot sein, sagte er düster.

So was durfte man nicht sagen!

Er wollte so was nicht sagen, widersprach er. Es kam aus ihm heraus! Aber wenn es soweit war, würden alle in Trauer an sein Grab kommen. Und dann wussten sie erst, was sie an ihm hatten. Er fragte mich, ob ich auch zu seinem Grab kam.

Ich wusste gar nicht, was ich sagen sollte.

Er hoffte, dass ich ihn nie vergaß.

Das versprach ich ihm, aber wieder wollte ich nicht, dass er glaubte, ich hätte es besser als er, und darum erzählte ich ihm von meiner Schwester, die schon gestorben war. Um die trauerte ich immer noch.

Er sah mich genauer an. Er wollte von meiner Schwester hören.

Also tischte ich ihm eine schreckliche Abenteuergeschichte auf, wo die Russen uns mitten in der Nacht überfielen und Rosie von ihnen weglief und sich vor einem Fluss verteidigte.

Karl hing an meinen Lippen, ich konnte nicht aufhören und ich dachte, wenn ich mit keinem Stiefvater angeben konnte, dann wenigstens mit meiner Schwester! Mit einem Faustschlag hatte sie einen Angreifer zu Boden gestreckt, einen anderen mit einem Fußtritt in die Flucht gejagt, erzählte ich begeistert. Dann sprang sie auf die Eisschollen, die auf dem Fluss schwammen, und rettete sich an das andere Ufer. Das hatten ihr die Russen natürlich übel genommen und das nächste Mal kamen sie mit einem ganzen Trupp und führten sie gefangen ab.

So eine starke Schwester hätte er auch gern, seufzte Karl. Aber seine war noch zu klein.

Meine war auch zu klein gewesen, neun Jahre alt, als sie uns verloren ging. Sie hätte sich nie so wehren können! Aber es war ja alles gelogen, die Balken hätten sich biegen müssen. Wir waren von den Russen überfallen worden, das stimmte, aber Rosie verschwand erst später aus meinem Leben. Als die Russen kamen, waren wir weggelaufen. Sie hatte mich hinter einen Busch gezogen und meinen Mund zugehalten. Ich hatte mir vor Angst in die Hosen gemacht.

Karl hatte eine Zwillingsschwester, Karin. Die wusste über alles Bescheid. Aber allein würde sie es nicht schaffen. Er machte eine Pause und sah mich bedeutungsvoll an. Für sie allein war die Rache zu schwer.

Ich erschrak. Was meinte er mit Rache?

Aber er redete nicht weiter, sondern drehte sich um und der Baum warf seinen Schatten auf ihn, als hätte er ihn zum Schweigen gebracht. Auch ich wandte mich von ihm ab und hoffte nur, dass der Baum mit seinen langen Fingern nicht auch nach mir griff. Man durfte nicht lügen! Hätte er bloß nicht von seinem Stiefvater angefangen! Dann hätte ich auch nicht über Rosie gelogen. Jetzt aber hatte ich gesündigt, und Gott würde mich dafür bestrafen, wie, wusste man nie, aber es würde kommen, Gott vergaß nie. Außer man bereute und beichtete! Aber ich konnte noch nicht beichten. Ich war zwar schon in der Klasse von Pfarrer Hawighaus, wo wir auf die Erstbeichte und die Erstkommunion vorbereitet wurden, aber das würde noch etwas dauern, weil wir erst am Weißen Sonntag zum ersten Mal die Kommunion hätten.

Wahrscheinlich war Karl gar nicht katholisch. Wer so log und so von Rache sprach, konnte gar nicht katholisch sein!Doch er war es zu meinem großen Erstaunen! Er selbst fragte mich danach, weil er mich im St. Marien-Dom gesehen hatte. Es war eine große Kirche, deshalb hatte ich ihn nicht gesehen. Und wir waren spät aus Schlesien gekommen, deshalb kannten wir noch nicht viele Leute.

Plötzlich fing er an zu weinen. Ich war erschrocken, versuchte, ihn zu beruhigen. Er hörte aber gar nicht hin, tat so, als ob ich gar nicht da wäre. Sein Bett wurde vom Deckenlicht nur halb beleuchtet, er hatte sich in die dunkle Stelle verkrochen. Die Krankenschwester sagte, dass er noch einmal operiert wurde. Es war nicht schlimm, aber er hatte natürlich Angst.

Ich hatte auch Angst vor meiner zweiten Operation. Aber ich wollte es nicht zeigen, ich wollte nicht so sein wie Karl. Sie holten mich am nächsten Morgen ab und da drehte ich mich zu Karl um und machte ihm das Siegeszeichen, indem ich Zeige- und Mittelfinger zu einem V ausstreckte. Ich hatte es im Wochenschau-Kino gesehen. Dann rollten sie mich fort und legten mir ein Tuch über das Gesicht, ich musste zählen und tief atmen, und schon war ich weg.

Als ich aufwachte, lag ich wieder neben Karl. Der sah mich traurig an. Er wusste, dass ich ihm nicht glaubte, aber er sprach die Wahrheit, die reine Wahrheit. Er sagte mir das, weil er einen Freund brauchte, einen guten Freund, auf den er sich verlassen konnte. Hundertprozentig! Karin würde mir helfen, aber allein schaffte sie es nicht. Und dann fragte er, ob ich sein Freund sein wollte.

Ich nickte. Ich war noch ziemlich benommen von der Operation. Ich wunderte mich, dass er so hastig sprach.

Gut. Er würde mir noch mehr sagen. Erst mal sollte ich den Apotheker beobachten, wenn er ihn besuchen kam.

Der kam zusammen mit seiner Mutter und seiner Schwester. Der Apotheker war sehr freundlich und lächelte in einem fort. Er stand hinter der Mutter, die mit Karl redete. Als er mit Karl reden wollte, drehte der ihm sofort den Rücken zu und sagte kein Wort. Aber der Apotheker regte sich deshalb nicht auf. Er brüllte nicht los und bekam keine Schlitzaugen vor Wut. Er fuhr nur mit der Hand sachte über die Bettdecke. Dass Karl von ihm nichts wissen wollte, war deutlich. Aber ich konnte mir das mit dem Vergiften und dem kalten Herz nicht vorstellen. Das musste sich Karl im Fieber ausgedacht haben.

Seine Schwester Karin sah nach einer Weile zu mir her, und weil ich gerade in ihre Richtung blickte, kam sie zu mir. Sie wollte gleich von meiner Krankheit wissen. Darüber konnte ich natürlich nicht reden. Ich zog die Decke hoch, damit sie nicht Schlauch und Beutel sah. In der Operation hatten sie sie mir noch einmal und gründlicher einen Katheter angelegt. Ich musste nur aufpassen, dass sich der Schlauch nicht verhedderte und unten kniff, das tat weh. Weil also Karin davon nichts wissen durfte, wiederholte ich die Sache mit dem Leistenbruch und dem Gewichtheben.

 

Das gefiel ihr, sie starrte mich mit offenem Mund an. Sie war Karl sehr ähnlich, hatte dieselben dunklen Augen, die aber leicht schielten, wenn sie länger guckte. Dann sah sie so aus, dass man ihr nicht Nein sagen konnte.

Und so sagte ich Ja, als sie fragte, ob sie mir beim Hanteltraining zuschauen durfte. Da blickte mich der Apotheker an und lächelte. Ich merkte, dass er mein Lügen durchschaut hatte, aber es mir nicht übel nahm. Dafür war ich ihm dankbar. Karin redete mit ihm, sie wollte seine Erlaubnis haben, mir beim Hanteltraining zuzugucken, aber er winkte ab. Das wäre jetzt nicht wichtig. Darüber könnte man später reden.

Kaum waren sie gegangen, wandte sich Karl an mich. Jetzt, wo ich den Apotheker gesehen hatte, würde ich verstehen, dass er mich brauchte.

Ich wollte sagen, dass ich ihn ganz freundlich fand, kam aber nicht dazu.

Jetzt war die Zeit zur Rache gekommen, sagte er und seine Augen durchbohrten mich.

Ich wollte mir keine Angst einjagen lassen und sagte, ich verstand ihn nicht.

„Die Rache!“, rief er. Ich müsste ihn rächen!

Ich verstand ihn immer noch nicht, aber ich dachte, ich rege ihn lieber nicht auf.

„Auge um Auge, Zahn um Zahn!“, rief er. Wenn er starb, war auch der Apotheker dran.

Wie sollte das passieren?, fragte ich vorsichtig.

„Abwarten!“, rief er. Karin würde mir alles sagen!

Er saß seitlich am Fenster und war ein Schatten mit buckligem Rücken und spitzem Kinn. Er erinnerte mich an den schwarzen Mann im Kinderbuch, der auf dem Schornstein saß und böse Gedanken in das Haus fallen ließ. Er wurde mir unheimlich, aber ich merkte, dass ich von ihm nicht wegkam. Ich konnte weder bei ihm noch bei seiner Schwester Nein sagen.

Dann aber dachte ich, dass es nicht so schlimm sein konnte. Es war ja gar nicht klar, wie das mit der Rache passieren sollte, und er wollte sie nur, wenn er starb, und er würde nicht sterben, schon gar nicht im Krankenhaus, wo die Ärzte jeden Augenblick hereinschauten und nachfragten. Also brauchte ich alles nicht ernst zu nehmen.

Da las ich lieber das Karl-May-Buch, das auf seinem Nachttisch lag. Ich hatte auf dem Umschlag einen bunt bemalten Indianer in das Blau des Himmels hinein galoppieren sehen, das machte mich neugierig. Karl fand es spannend, jetzt fehlte ihm aber die Lust zum Lesen. Kaum hatte ich angefangen, vergaß ich alles. Oh, so zu sein wie Old Shatterhand, so stark, so klug, so gut! Und wie edel Winnetou war und wie böse Santer!

Karl unterbrach mich beim Lesen. Ich sollte warten, bis die Rache kam. Dann wurde es richtig spannend!

Schon wieder die Rache!

Wenn Nscho-tschi, Winnetous Schwester, vom elenden Santer ermordet wurde, dann kam die Rache.

Ich las gleich weiter.

Beim nächsten Essen hörte ich von Karl, dass Karin mir alles sagen würde, was ich wissen sollte. Dann würde ich einsehen, dass ich ihn rächen musste.

Ich glaubte ihm ja, sagte ich.

Er verstand sich gut mit ihr. Aber allein würde sie es nicht schaffen. Deshalb musste ich ihr helfen, wenn er nicht mehr da war.

Es fuhr mir wie ein Stich ins Herz. Wenn er nicht mehr da war? Das meinte er doch nicht im Ernst!

Ich sollte mich für alle Fälle bereit halten. Das wollte ich doch, oder?

Seine dunklen Augen hielten mich fest. Ich nickte schnell.

Ich hatte ihm doch versprochen, sein Freund zu sein, dann mussten wir Blutsbrüder werden.

Ich war einverstanden.

Er richtete sich langsam auf. Ich musste ihm das Karl-May-Buch geben, und er blätterte. Wir würden es genauso machen wie Winnetou und Old Shatterhand. Er las vor, wie Intschu tschuna, der Häuptling der Apachen, zuerst seinem Sohn Winnetou und dann Old Shatterhand mit einem Messer die Haut aufritzte und die Blutstropfen in zwei Wasserschalen fallen ließ, sodass jeder das Blut des anderen trank. Dadurch waren die beiden so eng verbunden, dass jeder die Gedanken des anderen kannte.

Ich konnte mir nicht vorstellen, mit dem Messer die Haut aufzuritzen. Mit dem schmutzigen Messer auf dem Tablett? Das musste man vorher abwaschen und man durfte nicht aufstehen. Und wenn die Schwester das merkte?!

Karl lächelte, ich sollte nur abwarten. Als die Tabletts abgeräumt waren, wodurch zum Glück die schmutzigen Messer verschwanden, nahm er die Flasche Mineralwasser und füllte sein Glas halbvoll. Er drückte den Finger so lange an seine Nase, bis etwas Blut herausquoll, das er in sein Glas tropfen ließ. Das trank ich mit einem Schluck aus. Nach Blut schmeckte es nicht, das hatte Old Shatterhand auch gesagt. Aber meine Nase begann heftig zu bluten, als ich an ihr herumdrückte. Ich reichte ihm schnell das Glas, bevor ich mich zurücklegte, um das tropfende Blut zurückzuhalten. Die Schwester schaute misstrauisch, als sie die Blutflecken auf Hemd und Bettdecke sah. Ich hatte oft Nasenbluten, erklärte ich.

Karl war zufrieden. Jetzt waren wir Blutsbrüder! Er überreichte mir den Winnetou-Band als Geschenk, damit ich immer an ihn dachte, und sagte, jetzt wusste jeder, was der andere dachte, also wusste ich auch, was er gerade dachte.

Ich nickte wieder, obwohl ich es nicht wusste. Ich hoffte nur, dass ich ihn nie zu rächen brauchte. Aber er hatte mir ja auch gar nicht gesagt, wie die Rache aussah. Also war das etwas, worüber ich mir keine Gedanken machen musste.

Er merkte, dass ich ihm nicht richtig glaubte. Seine Augen bohrten sich in meine. Feigheit war Schande und ein Versprechen band, rief er. Blut war dicker als Wasser!

Was konnte ich dagegen sagen?

Wenn der Tag der Rache kam, würde ich alles wissen. Seine Gedanken waren in meinen und meine in seinen. Auch nach dem Tod!

Also doch die Rache! Es lief mir kalt über den Rücken. Wollte er sich nach dem Tod bei mir melden? Aber nein, er würde ja gar nicht sterben! Er hatte nur Angst vor der Operation, das konnte ich verstehen, das war normal. Mir stand noch die Abschlussprüfung bevor. Wer weiß, was sie fanden?

Aber musste man gleich an den Tod denken? Doch Karl hatte dieses ernste und traurige Gesicht, als dachte er die ganze Zeit daran! Und dann hustete er auch noch so schrecklich und wollte gar nicht aufhören! Als ich ihn nach einem Anfall fragte, wie es ihm ging, wunderte er sich. Ich konnte doch seine Gedanken lesen. Wozu waren wir Blutsbrüder?

Ich konnte sie aber nicht lesen. Wenn ich ihm meine Gedanken schickte und hoffte, er würde sie verstehen, kam von ihm kein Zeichen. Er warf sich unruhig hin und her, hustete und murmelte Unverständliches. Ich dachte an Winnetou, wie er nach der Ermordung seines Vaters und seiner Schwester so traurig und wütend war, dass er sich an den Weißen rächen wollte. Das konnte ich verstehen. Und ich wäre auch traurig und wütend, wenn Karl sterben müsste, was zum Glück nicht passieren würde. Aber ich konnte ihn doch nicht rächen! Wie stellte er sich das vor: den Apotheker umbringen? Das ging nicht. Selbst wenn der ihn vergiftet hatte. Das musste die Polizei klären. Ich konnte ja nicht einmal ein Gewehr oder eine Pistole halten.

Am Abend kamen wieder der Apotheker, Karls Mutter und Karin, die mich kaum begrüßte. Sie hatte nur Augen für ihren Bruder, über den sich ihre Mutter gebeugt hatte, um mit ihm leise und eindringlich zu reden. Dann richtete sie sich auf und gab dem Apotheker ein Zeichen, worauf er den Tisch neben dem Bett frei räumte, mit einem weißen Tuch belegte und auf ihm ein Kreuz, zwei Kerzen, ein Glas Wasser und Schälchen mit Salz und Wattebäuschen stellte. Er sah mich an, weil ich ihm zuschaute, und lächelte. Inzwischen war Karin hinausgelaufen und kehrte mit dem Pfarrer zurück, den ich schon in der St. Marien-Kirche gesehen hatte. Er schritt betend an uns Kranken vorbei und besprengte uns mit Weihwasser. Ich wusste sofort, dass hier die letzte Ölung gespendet wurde. Musste Karl doch sterben?