Ella trifft Ola und Aische

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Der Held seufzte. „Na gut, versuch es mit ihr, wenn ich weg bin! Du bist ihre Mutter!“

7

Ich hatte nicht erwartet, dass die Heldin sich für mich einsetzte. Wo sie praktisch nie dem Helden widersprach! Ich hatte auch nicht erwartet, dass die Kleinholz gut über mich sprach. Im Unterricht ließ sie nicht erkennen, dass sie etwas von mir hielt. Aber sie musste die Unruhe in der Klasse gemerkt haben. Ich war neu und mischte alles auf, das warf man mir vor. Aber sie merkte, dass ich Ola und Aische half, dem Afrikaner und der Türkin mit dem Kopftuch. Das gefiel ihr.

Fast die ganze Klasse war gegen mich. Meine schlimmsten Feinde waren Kevin Köhler, der immer blöd daherredete, weshalb ich ihn den Kläffer nannte, dann Nils Reisser, der an allem etwas auszusetzen hatte, das war der Nörgler, und schließlich Gordon Baumann, der Gorilla, der mit seiner breiten Brust alles beiseite schieben wollte.

Sie erwarteten mich in der Hofpause. „Wir müssen ein ernstes Wort mit dir reden“, sagte der Gorilla.

Ich sah ihn an und wartete.

„Wir wollen nicht, dass du dich an den Neger ranschmeißt!“

Ich drehte mich um. „Ich kenne keinen Neger.“

„Zick nicht rum! Du weißt, wen wir meinen!“, bellte der Kläffer.

„Meint ihr Ola? Ich schmeiß mich nicht an ihn heran! Ich schmeiß mich an keinen Jungen heran!“

Der Nörgler machte eine Grimasse. „Glaubst du, ich sehe nicht, wie du ihn anglotzt, angrapscht, anfummelst?!“

„Ich glaub, du willst es sehen!“

Der Gorilla machte eine Handbewegung. „Wir brauchen nicht darüber zu reden, was jeder sieht. Wir sagen dir nur: Du störst mit deinem Verhalten die Klassengemeinschaft!“

„Inwiefern?“

Sie sahen mich an, als ob sie das Wort nicht kannten.

„Wieso störe ich die Klassengemeinschaft?“

„Weil du glaubst, du kannst dir alles erlauben“, grunzte der Gorilla. „Weil du glaubst, du bist was Besseres! Wenn dein Papa mehr Kohle hat, heißt das nicht, du kannst dir alles erlauben!“

Jetzt holten sie sich noch den Helden für ihr Gelaber! Das brachte mich so durcheinander, dass ich nichts sagen konnte.

„Was sollte das mit der lächerlichen Papierschwalbe?!“, blaffte der Kläffer. „Glaubst du, du bist noch im Kindergarten?“

Was für Rotzer!, dachte ich. Aber mein Herz klopfte. Mit so viel Hass hatte ich nicht gerechnet.

„Ich wusste nicht, dass es euch stört! Mach ich nicht mehr!“, versprach ich. „Aber was hat das mit Ola zu tun?“

„Du sollst ihn in Ruhe lassen!“, knurrte der Gorilla.

Ich zuckte die Achseln. Was sollte ich sagen?

„Wir wollen nicht, dass ihr euch so in die Mitte schiebt! Die Mulattin und der Neger! Das Traumpaar des Jahres! Schaut alle her!“

„Ich finde es diskriminierend, dass ihr mich Mulattin und Ola Neger nennt!“

„Wir finden es Scheiße, dass ihr auf andere keine Rücksicht nehmt. Nur ihr zählt und seid wichtig!“, bellte der Kläffer.

„Wir wollen nicht im Mittelpunkt stehen!“, sagte ich.

„Dann haltet euch zurück!“, stieß der Gorilla aus. „Sonst müssen wir durchgreifen!“

8

Aische fiel mit ihrem Kopftuch zwar auf, aber sie tat alles, um sich unsichtbar zu machen. Sie gehörte zu den Mimosen, die zeigten: Komm mir nicht zu nahe! Rühr mich nicht an! Sie schien ihr Tuch zu tragen, um mit keinem zu reden.

Als ich aber einmal neben ihr stand, drehte sie sich zu mir, das Tuch gab ihr Gesicht frei und ich sah, dass ihre großen Augen leuchteten. Sie machte einen sehr offenen Eindruck, was mich überraschte.

In dem Augenblick kam der Kläffer vorbei, der den Nörgler fragte: „Glaubst du, dass Schleiereulen Schokolade mögen?“

Ich sagte sofort: „Sie mögen keine Kotzbrocken!“

Sie hielten an und wollten auf mich losgehen, aber Schäfer, der Aufsicht hatte, war in der Nähe, da drehten sie ab.

Ich sah Aische an. „Du hast es nicht leicht in der Klasse.“

Sie zuckte die Schultern. „Mir ist egal, was die anderen denken. Hauptsache, ich habe mir nichts vorzuwerfen.“

Sie schlug sich auf die Brust, an ihrem Handgelenk glitzerte ein Armband mit etwas Geschnörkeltem.

„Ist das arabisch?“

Ich hatte so eine ähnliches Armband bei Sabrina gesehen, die in Ägypten gewesen war.

Aische nahm das Armband ab und zeigte mir ihren arabisch geschriebenen Namen. An ihrem Handgelenk zeigten sich Druckstellen. Die kannte ich an mir von Sabrina, als sie mich in ihrer Wut hin und her gezogen hatte.

„Was hast du am Handgelenk?“, fragte ich.

Sie sah mich erstaunt an. „Was meinst du?“ Sie rieb sich am Handgelenk. „Ach, das kommt von der Hausarbeit!“

Ich nickte, aber glaubte ihr nicht. Man hatte sie eindeutig mit Gewalt angefasst. Doch ich wollte nicht nachfragen. Das hätte sie verletzt. In solchen Dingen musste man vorsichtig sein. Vielleicht gab es später die Gelegenheit, nachzufragen, wenn wir uns besser verstanden. Und ich wollte sie auf jeden Fall besser verstehen.

Ich sagte, sie hatte doch gemerkt, dass ich auch eine Außenseiterin war. Konnten wir zusammenhalten?

Sie nickte und wir gaben uns die Hand.

9

Mit den Jungs konnte ich nicht reden, solange die drei Rotzer den Ton angaben. Mit den Mädels hatte ich das Problem, dass einige mir übel nahmen, dass ich mit Ola ging. Sie waren eifersüchtig auf mich.

Ich redete mit Sophie, blond, blassblau, Blümchenbluse.

„Ich möchte dich fragen, weil du die Klassensprecherin bist.“

„Bitte!“ Sie klang reserviert.

„Du weißt, die Jungs machen Jagd auf Ola und Aische.“

Sie musterte mich. „Jagd? Ist das nicht übertrieben?“

„Sie machen blöde Bemerkungen über sie, lachen und schubsen und drohen mit Gewalt.“

„Ola weiß sich zu wehren, der braucht deine Hilfe nicht, der wird mit jedem fertig!“

Das sagte sie, weil sie zu seinem Fanclub gehörte!

„Wenn die halbe Klasse auf ihn losgeht, sehe ich nicht, wie er damit fertig wird.“

„Hast du denn schon gesehen, wie sie ihn fertigmachen?“, fragte sie und ihr blasses Gesicht wurde noch blasser.

„Wenn ich mit ihm zusammen bin, habe ich das Gefühl, dass sie gleich über uns herfallen.“

„Weil du mit ihm zusammen bist!“, rief sie triumphierend. „Wenn ich dir einen Rat geben kann: Halt dich mehr zurück! Dann haben wir mehr Ruhe in der Klasse.“

Sie war auf einer Linie mit den Rotzern. Es hatte keinen Zweck, mit Sophie über Ola zu sprechen.

„Ich habe gesehen, wie Nils Reisser Aische das Kopftuch wegziehen wollte. Ist dir das egal?“

„Sie ist die einzige in unsrer Klasse, die ein Kopftuch trägt. Sie vermummt sich, sie will was Besseres sein. Sie spricht nicht einmal mit uns!“

„Das ist ihr Glaube. Kann man das nicht respektieren?“

„Dann soll sie in eine muslimische Schule gehen!“ Sie musterte mich wieder kritisch. „Ich meine, wenn du in ein fremdes Land kommst, passt du dich den Landessitten an, oder? Du provozierst nicht mit einer Religion, die keiner will. Wenn du zu den Stieren gehst, trägst du kein Rot!“

Sie starrte auf mein rotes Sweatshirt. Dumme Kuh! Aber die Klasse glaubte auch von mir, ich wollte was Besseres sein!

10

Die drei Rotzer kamen in die Schulkantine und stellten ihre Tabletts auf den Tisch, an dem ich und Ola saßen. Sie machten sich breit und nuckelten an ihren Energydrinks.

„Ey, Blacky!“, rief der Gorilla. „Eine neue Herde von Flüchtlingen ist gekommen? Oder heißt es Horde?“

„Bei den Gorillas heißt es Familie“, sagte ich.

Er merkte gar nicht, dass er gemeint war, sondern hatte seine Augen auf Ola gesetzt. „Dann bist du nicht der einzige Neger in der Schule. Freut dich das nicht?“

Ola schaute durch ihn hindurch.

„Ich habe keinen neuen Flüchtling in der Schule gesehen.“

Der Gorilla sah mich an. „Noch nicht, aber bald kommen sie und futtern sich auf unsere Kosten durch!“

Er haute mit seinem Löffel in die Suppe, dass es spritzte. Ola bekam einige Spritzer ab, runzelte die Stirn und sagte, dass er sich nicht auf ihre Kosten durchfutterte.

Der Nörgler meckerte wie eine Ziege. „Du bezahlst doch nicht unser Schulessen! Das bezahlt dir doch der Pastor!“

Ich griff ein, weil Ola nichts sagte. „Ihr bezahlt doch auch nicht euer Schulessen. Sondern eure Eltern. Oder der Staat.“

„Halt dich da raus!“, grunzte der Gorilla. „Der Staat tut alles für euch Reiche und für die Flüchtlinge. Aber nicht für uns!“

Ola sagte, er wollte nicht, dass man für ihn bezahlte. Er arbeitete, wo er konnte.

„Das ist ja die Scheiße!“, bellte der Kläffer. „Du nimmst uns nicht nur Geld weg, du nimmst uns auch die Arbeit weg. Was bekommst du als Zeitungsjunge für die Stunde?“

Ola schwieg.

„Ich will's dir sagen! Die Hälfte von dem, was wir fordern!“ Er grinste mich an, es war ein unverschämtes Grinsen. „Ich will dir auch was sagen, Baby! Wenn erst mal die Flüchtlinge auf der Schule sind und wir sehen, was sie anrichten, wird es hier ganz anders zugehen!“

„Warum sind sie denn noch nicht hier?“, fragte ich.

„Weil sie die Krätze haben“, sagte der Nörgler. „Man hat sie untersucht, kostenlos. Hat man dich auch schon auf Krätze untersucht, Ola?“

„Man sollte lieber dich untersuchen“, sagte ich. „So wie du an deinen Pickeln kratzt!“

Der Nörgler wurde rot. Er hasste es, wenn man ihn auf seine Pickeln ansprach.

„Mach mal Platz!“, sagte der Gorilla zu Ola. „Hast du keine Krätze, rück ran an deine Braut! Oder genierst du dich?“

Sie konnten so sprechen, weil Schäfer, der die Aufsicht hatte, nur einschritt, wenn es eine Schlägerei gab. Aber Gespräche, und waren sie noch so gemein, interessierten ihn nicht.

 

„Weißt du, was genieren ist?“, fragte der Kläffer Ola.

Der Nörgler lachte. „Neger genieren sich nie!“

„Dafür genierst du dich für deine Pickeln!“, grinste ich.

Der Nörgler wurde wieder rot und zischte mich an: „Pass auf, wie du dich genierst, wenn du weißt, was Blacky über dich gesagt hat!“

Ich sagte: „Komm schon mit deiner Lüge raus!“

Der Kläffer sagte: „Wenn es um Sex geht, lügen Neger nie!“

„So ist es!“, nickte der Nörgler. „Ola hat gesagt, er hat dich rumgekriegt, weil du ganz scharf auf ihn bist!“

Ich nahm seine Energyflasche vom Tisch und schüttete sie dem Nörgler ins Gesicht. Er erstarrte zur Salzsäule und riss den Mund auf. Der Gorilla und der Kläffer rollten ihre Köpfe auf den Schultern, bis sie aufstanden und auf mich losgehen wollten. Schäfer kam und fragte, ob etwas war.

Wir alle schüttelten den Kopf. Als Schäfer weg war, sagte der Gorilla: „Wir sind noch nicht fertig mit euch!“

„Wir auch nicht“, antwortete ich. Ola zeigte mit breitem Lächeln seine Zähne.

11

Auf dem Schulhof fing Ola zu tanzen an. Er machte eine Reihe von Trommeln nach, die eine war hell und laut, die andere voll und erdig, die dritte satt und tief. Er tat so, als ob er ein Mikrofon vor dem Mund hätte und dann sang er:

This is the day that my girl has come/ she butter my bread and she sugar my tea/ she put the dancing shoes on my feet!

Gott, war das schön! Wenn er so sang und tanzte, strich ich ihm gern die Butter auf das Brot und süßte ihm den Tee! Ich wünschte, er tanzte ewig für mich!

Aber eine Pause dauerte nicht ewig, wir mussten zurück in den Unterricht und hatten Siemers, der uns Deutsch und Geschichte beizubringen suchte. Ich mochte ihn nicht. Er gehörte zu den Lehrern, die sich nicht Respekt verschaffen konnten, weshalb es in seiner Klasse nie ruhig war. Er erklärte alles tausendmal und sprach langsam und deutlich, damit jeder ihn verstand, und wollte nicht unterbrochen werden. Aber keiner wollte ihn unterbrechen, weil jeder etwas anderes machte. Am Ende der Stunde sagte er, wir hatten gut mitgemacht und brauchten keine Hausaufgaben. Das gefiel allen.

Auch Ola mochte ihn nicht. Er sagte, er war zu milde mit den Schülern, die ein großes Maul hatten. Er sagte, die Schüler sahen in dem Lehrer nicht den Löwen, der nur den Kopf hob und alle waren still vor Angst. So wie bei ihm zu Hause, wo der Lehrer am Pult saß und schlief, wenn sie von der Tafel abschrieben. Aber beim kleinsten Laut, der ihn weckte, hob er den Kopf und grollte, so dass alle ganz still waren. Und wehe, wenn einer lachte! Dann sprang er auf und schlug er zu, mal links und rechts, mal rauf und runter, ein Dämon, der zwanzig Hände hatte und keine Gnade kannte. Dann waren alle still und machten, was der Lehrer wollte.

Ola machte vor, wie sein Lehrer schlug. Es sah komisch aus. Ein deutscher Lehrer war kein zwanzighändiger Dämon!

Siemers las uns eine Geschichte über einen Touristen und einen Fischer vor. Die meisten hörten nicht zu, aber mich interessierte es. Ola auch, er saß kerzengerade und spitzte die Ohren. In der Geschichte fragte der Tourist den Fischer, warum er faul in der Sonne lag. Er könnte doch auf dem Meer fischen und reich werden. Der Fischer sagte: „Warum? Wenn ich mehr Fische fange, um reich zu werden, will ich nachher auch nichts anderes, als faul in der Sonne liegen.“

Siemers sah uns an und wartete auf eine Meinung. Weil fast alle anders beschäftigt waren, hatten sie keine Meinung. Siemers sagte, man sollte sich das Leben nicht durch zu viel Arbeit kaputt machen. Er machte wieder eine Pause, aber bekam keine Antwort. Er rief Ola auf und er sagte, er verstand nicht, wie man sich das Leben durch zu viel Arbeit kaputt machte. Bei ihm zu Hause machte man sich das Leben kaputt, weil es keine Arbeit gab.

„Aha!“, rief Siemers. „Zu viel Arbeit kann schlimm sein, aber keine Arbeit zu haben, ist schlimmer!“

Die Klasse sagte nichts dazu, weil es sie nicht interessierte. Aber Ola meldete sich wieder. Er sagte, er verstand nicht, dass es der größte Wunsch des Fischers war, faul in der Sonne zu liegen. Bei ihm zu Hause wollte kein Fischer faul in der Sonne liegen. Wenn er faul in der Sonne lag, hatte er keine Arbeit.

„Aha!“, sagte Siemers. „Warum haben die Fischer bei euch keine Arbeit?“

„Weil die großen Schiffe die Fische wegfangen“, sagte Ola.

„Hm“, sagte Siemers. „Können die Fischer nichts dagegen machen?“

„Doch!“, sagte Ola. „Sie fangen nicht mehr Fische, sie bringen Menschen über das Meer.“

„Aha!“ rief Siemers. „Jetzt wisst ihr, warum die Flüchtlinge über das Meer kommen!“

Ich sagte Ola, dass er doch auch über das Meer gekommen war, aber er wollte nicht darüber reden, weil es ihn traurig machte. Er wollte seine Trauer nicht der Klasse zeigen.

Siemers wartete immer noch auf Olas Antwort. Als die nicht kam, sprach er über die Arbeit und erklärte uns, wie wichtig sie für die Menschen war.

Nach der Stunde wollte ich mehr wissen. Ich wusste vom Fernsehen, dass viele Flüchtlinge auf ihrer Fahrt über das Mittelmeer ertrunken waren. „Wie war es bei dir?“

Ola sah zu Boden.

„Willst du nicht darüber sprechen?“

Er wusste nicht, wie er es sagen sollte.

„Schade! Wenn mir so was passiert wäre, hätte ich darüber gesprochen. Aber mir ist nichts passiert. Ich bin nur einmal seekrank geworden. Das ist alles!“

„Das ist gut!“

„Ja, das ist gut! Aber ich möchte dir helfen!“

Ich griff nach seiner Hand und drückte sie. Da sagte er: „Mein Vater ist ertrunken.“

„Oh!“, rief ich und drückte seine Hand noch stärker.

12

In der nächsten Pause fragte ich Ola: „Ihr habt es über das Mittelmeer versucht, seid aber nicht durchgekommen. Wegen des Unglücks mit deinem Vater?“

Er nickte, wollte aber nicht darüber sprechen.

„Du hast aber Glück gehabt?“

Er nickte.

„Also haben sie dich gerettet?“

„Ja.“

„Wie alt warst du?“

„Acht.“

„Gott, Ola, nun erzähl doch endlich mehr! Merkst du nicht, dass ich es wissen will?!“

Also erzählte er. Er brauchte nicht viel zu erzählen, ich war sofort im Bilde. Es war mir, als ob ich dabei war. Sein Schiff war in der Nacht gekentert. Sie waren zu viele Menschen und der Wind hatte zugenommen. Da wurden sie ins Wasser gestoßen und eine hohe Welle trennte ihn von seinem Vater, der ihn gehalten hatte. Er konnte nicht schwimmen und sank im Wasser tiefer und tiefer. Er dachte, es war aus und er betete zu Gott, ihm gnädig zu sein. Plötzlich zogen ihn Arme in ein Schlauchboot und er glaubte seinen Vater zu sehen, wie er ihn von unten nach oben stieß. Aber er wusste es nicht genau, vielleicht wünschte er es sich, denn er sah seinen Vater nie wieder.

„Oh Gott!“, rief ich und sah ihn nicht durch meine Tränen.

Ich hielt seine Hand fest und wollte mehr wissen. „Wie hast du es nach Deutschland geschafft?“

Das war leichter, sagte er. Auf der Trauerfeier für seinen Vater ließ ein Onkel Geld für zwei Flugtickets Lagos – Berlin sammeln. Er wollte damit Vaters Wunsch erfüllen. Er bekam genug Geld und er und sein älterer Bruder Dayo flogen nach Berlin. Sie hatten Glück, weil die Kirche ihnen zu einer Aufenthaltsgenehmigung verhalf. Sie hatten nur ein Touristenvisum gehabt.

Aber sein Vater war weg! Meiner ja auch! Trotzdem! „Wäre es nicht besser gewesen, ihr wärt in euer Heimat geblieben? Dann hättet ihr noch euren Vater!“

Er schüttelte den Kopf und fing an zu erzählen. Ich war sofort im Bilde. Ich konnte gar nichts dagegen machen, so unwiderstehlich drängte es sich mir auf.

Seine Eltern hatten ein Restaurant, das gut lief, weil die Leute gern bei ihnen aßen und tranken. Bis zu der Nacht, als sie seinen Vater holten. Die Polizei kam in einem grünen Kastenwagen, die Autotüren knallen, die Befehle weckten die Nachbarn. Die Polizisten hatten Khaki-Uniformen an, schwarze Stiefeln, weiße Mützen, der Spitzel hatte Shorts an und ein Hemd. Er umarmte meinen Vater und wollte den Schuppen sehen. Ein Wink des Polizisten genügte und der Schuppen öffnete sich. Der Spitzel schaltete das Licht an und zeigte mit mit seiner Hand auf den Stapel Kartons: „Da!“

Der Polizist schob seine Mütze nach hinten und wollte den Kaufbeleg von Olas Vater sehen. Der wühlte in seinen Taschen und zog ein Zettelchen heraus und faltete es unter der Nase des Polizisten auseinander. Der war ein Kopf größer und doppelt so dick wie Olas Vater und stapfte unter die Glühbirne, um den Zettel zu entziffern. Da lachte der Spitzel laut und tuschelte mit dem zweiten Polizisten und beide steckten ihre Köpfe über ein großes, weißes Papier. Dann riefen sie den ersten Polizisten, der ein Blick auf das Papier warf und zu lachen anfing. Dann lachten sie zu dritt und schlugen sich auf die Schenkel. Dann lachte die Menge, die den Hof bis zum Schuppen gefüllt hatte, und lachte immer lauter, bis die Stadt lachte. Ola hielt es nicht aus und lief in das Haus zurück und verkroch sich in sein Bett.

Olas Vater wurde angeklagt, illegal Gin gebrannt zu haben, und sollte ins Gefängnis. Es war aber so, dass der Besitzer eines anderen Restaurants neidisch auf den Erfolg seines Vaters gewesen war und den Spitzel bestochen hatte, falsch gegen seinen Vater auszusagen. Aber die Polizei ließ sich auch von seinem Vater bestechen, ihm Zeit für seine Flucht zu geben. Und so machte sich sein Vater mit ihm und Dayo auf die Flucht.

Es war wohl so, dass in solchen Ländern die Gesetze nicht galten, dachte ich und verstand, dass sie nicht in ihrer Heimat bleiben konnten.

13

Wegen einer Sportveranstaltung verließen wir erst spät die Schule. Ich ging mit Ola und Aische, die von ihrem Geigenunterricht kam, durch den Park nach Hause, als die Sonne versank und den Himmel rot färbte.

Ola blieb stehen. „Seht ihr das rote Feuer im Himmel und die gelben Flammen in der Kirche?“, fragte er.

Ich blickte ihn verwundert an. Die Sonne bestrahlte die Kirche vor uns in goldenem Licht, aber er sagte es, als ob er eine Katastrophe sah.

Wir blieben auch stehen, alles war still, selbst die Autos auf der Straße vor der Kirche fuhren stumm vorbei. Ich starrte auf die Sonne, die noch als schmaler Streifen unter den Wolken sichtbar war, bis sie noch einmal schien und den Park zum Leuchten brachte. Nachher wurde der Park noch dunkler, unheimlich fast und trostlos.

„Schön, nicht wahr?“, sagte ich, aber Ola antwortete nicht. Ich sah an seinem Gesicht, dass er an etwas Schreckliches dachte, etwas, das mit Feuer und Brand aus seiner Heimat oder seiner Flucht zu tun hatte. Aber gerade ans Feuer wollte ich nicht erinnert werden, denn das war etwas, das mich abstieß und zugleich anzog. Meine Albträume hatten immer etwas mit Flammen zu tun und meine schlimmsten Wünsche auch, weil ich das, was ich hasste, am liebsten in einem Feuerball explodieren sah!

Ola blieb immer noch stehen und fragte Aische, ob sie die goldene Kirche gesehen hatte.

Sie verstand ihn nicht.

Da sagte er: „Wenn es eine Moschee wäre, hättest du sie gesehen!“

Aische schnalzte th, th, th, wie immer, wenn ihr was nicht gefiel. Aber mir gefiel es auch nicht. „Was soll das, Ola? Willst du Aische beleidigen?“

„Ich habe meinen Grund“, sagte er.

Er wollte, dass ich nachfragte, wozu ich eigentlich keine Lust hatte, denn ich sah einen Streit zwischen ihm und Aische voraus, aber weil er mich fast flehentlich ansah, fragte ich.

Er sprach von Ewaoluwa, seiner Zwillingsschwester. Ihr Name bedeutete „die Schönheit Gottes“, und sie war schön und viele Männer hatten schon nach ihr gefragt. Doch sie war zu jung für eine Heirat, ein Kind noch, wild und ungezähmt und bockig. Sie war die erste, die wollte, dass sie wegzogen und ihr Glück anderswo versuchten. Aber sie war auch die erste, die im Feuer verbrannte, als die Muslime ihre Kirche anzündeten.

Er wandte sich an Aische und schrie: „Ihr Moslems habt meine Schwester ermordet! Ihr hasst die Christen und tötet sie, wo ihr könnt! Ihr tötet Kinder und Mädchen und Ewaoluwa, die so schön war, dass ich es nicht sagen kann!“

Darauf wurde es so still wie beim Sonnenuntergang. Aische schnalzte mit der Zunge und sagte, dass es ihr leid tat.

„Ich will dein Mitleid nicht!“, schrie Ola. „Nützt es mir? Wird sie wieder lebendig?“

Da war der Streit, den ich befürchtet hatte! Und dabei sah der Park gerade jetzt so friedlich aus. Die Bäume rauschten sanft, ein paar Vögel flogen geräuschlos vorbei, und der Mond ging auf und hüllte alles in ein sanftes Licht.

 

Ich hielt Ola am Arm fest, den er erhoben hatte.

„Ich schlage nicht!“, schrie er. „Ich bin kein Moslem!“

„Ich weiß“, beruhigte ich ihn. „Aber es ist nicht Aisches Schuld, wenn in Afrika die Kirchen brennen und Moslems morden. Die Flüchtlinge, die jetzt zu uns kommen, sind Moslems. Sie flüchten auch vor Mord und Gewalt.“

„Allah will nicht Mord und Gewalt“, sagte Aische. „Allah will Frieden!“

„Wir wollen auch Frieden“, sagte ich. „Ich möchte keinen Hass. Ich möchte, dass ihr euch die Hände reicht.“

Ich kam mir sehr großmütig vor, was vielleicht an der friedlichen Stimmung im Park lag. Aber ich konnte jetzt keinen Streit ertragen, und wenn es um die Religion ging, war alles noch tausendmal schlimmer!

Ich sah, dass Aische nicht die Hand rührte. Ich wusste, dass sie keinem Jungen in der Klasse die Hand gab. Das verbot ihr die Religion, was mich jetzt wütend machte.

„Dann will ich nichts mit euch zu tun haben!“, sagte ich und wandte mich ab und ging von ihnen weg.

Ola lief mir nach. „Halt, Ella, nun warte doch!“

Ich blieb stehen und sah, dass Ola Aische die Hand hinhielt. Aber sie nahm seine nicht an, sondern lief weg.

14

„Es ist nicht meine Schuld!“, beteuerte Ola.

Mir gefiel es, dass er verzeihen konnte, und ich stellte mich auf die Zehenspitzen und küsste ihn. Es war unser erster richtiger Kuss, weil wir die Lippen öffneten. Er konnte davon nicht genug kriegen, aber schließlich musste ich aufhören, ich bekam keine Luft mehr.

Er tanzte und sang: This is the day that my girl has come/ she butter my bread and she sugar my tea/ she put the dancing shoes on my feet!

Das fand ich so schön, dass wir uns noch einmal und noch länger küssten. Dann beschloss ich, ihn zu seinem Haus zu begleiten. Ich wollte wissen, wo er wohnte.

Er hatte mir gesagt, dass er bei einer Frau Meyer wohnte. Er sollte mir mehr von ihr erzählen.

Da gab es nicht viel zu erzählen, sagte er. Als sie aus Berlin kamen, hatte Pastor Sanne sie an Frau Meyer vermittelt. Sie saß im Rollstuhl und brauchte einen Pfleger. Sie mochte Dayo und stellte ihn ein und so bekamen sie eine Wohnung. Dayo bekam den geduldeten Aufenthalt und Ola das Recht, zur Schule zu gehen.

„Magst du Frau Meyer?“

Er sah mich verwundert an.

„Ich meine, weil sie im Rollstuhl sitzt. Wird sie da nicht leicht ungeduldig?“

„Nein, nein!“

„Aber dein Bruder hat es nicht leicht, wenn er ihr Pfleger ist.“

Er zuckte die Achseln. „Er muss sie ins Bett bringen.“ Er zögerte: „Er muss sie auch aufs Klo bringen!“

Ich wunderte mich. „Warum seid ihr hierher gekommen? War es nicht besser für euch in Berlin?“

„Du bist hier, nicht in Berlin!“

„Das ist ein Grund!“

Ich küsste ihn so schnell, dass er nicht reagieren konnte. Ich fragte wieder, warum sie nicht in Berlin geblieben waren.

Er seufzte. Er redete nicht gern von seiner Vergangenheit. Es war so, dass Dayo in Berlin mit der Schule fertig war und Arbeit suchte, aber keine fand. Da half ihnen wieder Pastor Hartlaub, der für ihre Aufenthaltsgenehmigung gesorgt hatte, weil sie als verfolgte Christen anerkannt worden waren. Er sagte, es war einfacher, außerhalb Berlins Arbeit zu finden, und schrieb an Pastor Sanne, der sie einlud. Und über ihn kamen sie zu Frau Meyer und er in die achte Klasse. „Und als ich in der Neunten war, kamst du!“

Er erwartete einen Kuss und ich gab ihm einen schnellen. Er wollte mehr, weil wir vor Frau Meyers Haus standen und er dachte, wir würden uns noch länger zum Abschied küssen. Aber er war erstaunt und zugleich verlegen, als ich ihm sagte, ich würde gern Frau Meyer sehen.

„Jetzt?“

Er fuchtelte mit den Armen, als wollte er mir den Weg versperren.

„Nur kurz!“

Er ließ die Arme fallen und wir betraten ein Haus mit breiten Türen, damit der Rollstuhl durchkam, und engen Fenstern, die selten geöffnet wurden, weil es muffig roch. Auf dem Flur hingen viele Fotos von Läufern und durch die angelehnte Tür hörte man die heulenden Motoren von Rennautos und die aufgeregte Stimme einer Frau vor dem Fernseher. „Nu mach se fertich, jib Jas, Luis Hemilten, du biss doch 'n Swatter, ihr Swatten seid doch die Schnellsten!“

Das musste Frau Meyer sein, die in ihrem Rollstuhl mit einem Glas Wein in der Hand Lewis Hamilton anfeuerte.

Sie sah uns. „Wat issn dat? Wen bringst du uns mit, Olla?“

Er lief zu ihr und zeigte auf mich und sagte, dass wir beide in eine Klasse gingen und Ella so nett und freundlich war und Frau Meyer gern guten Tag sagen wollte.

Frau Meyer rollte zu mir und sah mich an. „Dat iss ooch nett, kleenes Frollein, abba nu biste erschüttert, dass Olla so ne olle Schribbe uffm Roflstuhl als ne Art Ziehmutter hat, wa?“

Ich sagte, im Gegenteil! Ich fand es toll, dass sie so großzügig war, zwei Flüchtlinge aus Afrika aufzunehmen. Die Menschen ohne Rollstuhl, die ich kannte, waren nicht so großzügig.

Ihr Gesicht strahlte wie ein rosa Lampion. „Na, dat sajst du nur, weil du aus jutem Hause kommst. Wat macht dein Vatta denn jeschäftlich?“

Ich sagte, dass er in New York sein Geschäft hatte.

Das beeindruckte Frau Meyer. „Amerika! Dann is er reich, wa?“

Ich zuckte die Achseln. Mir wäre lieber, mein Stiefvater kümmerte sich weniger um das Geld. Ich sah ihn fast nie.

Frau Meyer nickte. „Versteh ick. Aba paar Moneten extra helfen imma, jloob mir's, kleenes Frollein!“

Ich musste lachen. „Ick jloob Ihnen ooch, jute Frau!“

Dayo kam in das Zimmer, er war breiter und massiger als Ola, auch viel älter, er musste in den Zwanzigern ein. Ich konnte auch keine große Ähnlichkeit zwischen den Brüdern entdecken, was vielleicht damit zusammenhing, dass Dayo sehr erwachsen wirkte, Ola aber nicht.

Dayo machte gerade das Abendessen und er entschuldigte sich, dass er mir nicht die Tür geöffnet hatte, weil er aus der Küche nicht weg konnte. Er nahm meine Hand und lächelte freundlich. Seine Augen waren sehr sympathisch, offen und warm, und ich dachte, es war gut, dass Ola so einen Bruder hatte.

Frau Meyer rief, ich müsste unbedingt bleiben, Dayos Essen war dufte. Dayo sagte, es wäre ihm eine Ehre, und auch Ola bat mich, nicht zu gehen. Wo ich doch schon hier war.

Ich war neugierig. Ich wollte immer schon wissen, wie das Zuhause der Leute war, die ich kannte. Vielleicht weil es im Internat kein Zuhause gab. Ich sagte, ich musste meine Mutter anrufen, damit sie wusste, wo ich war.

Ich ging für den Anruf auf den Flur, denn ich wollte der Heldin sagen, dass ich bei Aische war, nicht bei Ola, das hätte sie beunruhigt. Sie war sehr dafür, dass ich eine Freundin hätte und freute sich, wenn ich über Aische sprach.

Inzwischen hatte Ola den Tisch gedeckt und Dayo kam aus der Küche, auf dem Tablett eine große Schüssel und viele Schalen mit Soßen und Gewürzen. Es war Frau Meyers Lieblingsessen, es hieß „Käse-Spätzle-Auflauf“, schwer auszusprechen, sagte Dayo, aber leicht zu machen. Frau Meyer klatschte in die Hände und freute sich, weil es so gut roch und frisch aussah. Dayo sagte, ich sollte zulangen, es wäre ihm eine Ehre, und nahm Frau Meyers Teller und schob ihr eine Portion zu, bis sie rief: „Halt!“, aber er schob weiter, und als sie den Teller bekam, sagte sie, er verwöhnte sie schon wieder.

Ola bekam sein Essen auch zugeteilt und ich merkte, dass er gern mehr hätte. Aber er konnte nichts sagen, denn jetzt fassten wir uns an den Händen und Frau Meyer sprach das Tischgebet: „Segne, Vater, diese Speise, uns zur Kraft und dir zum Preise.“

Ich konnte nicht zulangen, weil Frau Meyer schnaufte und schmatzte und von ihrem Wein schlürfte, wollte es aber auch nicht, weil ich auf Diät war und paar Pfunde loswerden wollte. Ola war als erster fertig und Frau Meyer sah es und stieß Dayo an, er sollte ihm mehr geben, er musste wachsen.

Aber Dayo gab ihm nicht so viel, wie Ola wollte, und Frau Meyer rief: „Mehr, mehr!“ Er sollte so stark werden wie sein großer Bruder. Es gefiel Dayo nicht und er sah Ola streng an und redete in ihrer Sprache auf ihn ein.

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