Fahnen,Flammen, Fanatismus

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Dann wurde sie Mitglied im Ruderverein, der nur fünf Minuten vom Haus entfernt sein Vereinsheim hatte. Die Periode des Radfahrens war vorbei, jetzt stieg man jeden Sonntag ins Boot. Meist bildete sich eine Gruppe von Zweisitzern, die elbauf bis in die Sächsische Schweiz ruderte. Dort gab es in einem kleinen Lokal Apfelstrudel und dann Tanztee im Freien. Am Abend ließ man sich hinter einem Raddampfer von der Strömung heimwärts treiben.

Im Winter war Schneeschuhlaufen angesagt. Bis Tharandt fuhr man mit dem Zug, dann wurden die Bretter mit vielen Lederschnüren vor dem Bahnhof befestigt. Die immer zu kurzen Abfahrten mussten mit mühsamen Aufstiegen errungen werden. Das machte nur in der Gruppe Spaß. Zu Mittag gab es Brote aus dem Rucksack.

Die Reise zum Treffen des VDA nach Gmunden mit drei Mädeln aus ihrer Klasse und sieben weiteren aus der Schule war der Abschluss und Höhepunkt des unbeschwerten Lebens gewesen. Sie wurden sorgfältig vorbereitet, eine Karte mit Darstellung des Deutschtums im Ausland wurde ausgiebig besprochen. Nach der Reise widmete sich Marie den Vorbereitungen für die Reifeprüfung.

I-3

Im März 1929 hielt Marie ihr Schulentlassungszeugnis in den Händen. Jetzt begann der Ernst des Lebens. Nach einer fünfmonatigen kaufmännischen Kurzausbildung bewarb sie sich für die Stelle als Chemielehrling an der Hochschule. Die Zeugnisse waren gut, die Vorstellung beim Professor schien erfolgreich zu sein, dann kam der Bescheid: „Ich habe noch ein Eisen im Feuer, es ist ein junger Mann. Sie sind ein hübsches Mädel. Da werden Sie sicher bald weggeheiratet, und dann fange ich von vorne an.“

So war das überall. Schließlich erhielt sie eine Anstellung als Telefonistin in der Funk- und Fernmeldezentrale des Polizeipräsidiums Dresden, die ihr der Vater, der jetzt Polizeiwachtmeister war, vermittelt hatte. „Da bist du später pensionsberechtigt.“

In diesen unruhigen Zeiten war das ein großes Glück. Gerade war der vierte Reichsparteitag der NSDAP beendet worden, Straßenschlachten mit den kommunistischen und sozialdemokratischen Parteigängern waren an der Tagesordnung und erste jüdische Geschäfte wurden zerstört. In Deutschland führte der „Schwarze Freitag“ an der New Yorker Börse haufenweise zu Konkursen und überall wurde jetzt Kurzarbeit eingerichtet. Die Arbeitslosenzahl näherte sich der fünf-Millionen-Grenze. Da war es Gold wert, dass der Vater Beamter war und die Tochter eine feste Anstellung hatte, wenn auch mit geringem Verdienst.

Mit Wien wurde eifrig korrespondiert, aber eine Einladung hatte der Vater nicht gut geheißen. Es sollte eine Reise durch Tirol nach Rom sein. Ein 18-jähriges Mädchen allein in der Bahn und bei einem Mann, das ging nun wirklich nicht. „Wie kann ich mein Mädel zu einem Mann reisen lassen, den ich nicht kenne?“ Marie war traurig und heulte stundenlang, aber sie war sich nicht ganz im Klaren, ob wegen Ernstl oder wegen des Verlustes der schönen Reise. „Wenn er Interesse an dir hat, soll er gefälligst nach Deutschland kommen!“ Pauls Schnurrbart zitterte dabei. Nun ja, so war das eben. Erst mit 21 war man volljährig. Und die Etikette war wichtig. Also blieb es vorerst beim Briefe schreiben.

Marie stöpselte weiter die fernmündlichen Gespräche der Dresdner Polizei und Ernst bereitete sich auf das Diplom für sein Studium vor. So ging auch das nächste Jahr dahin. Die politischen Verhältnisse in beiden Ländern waren nach wie vor chaotisch. Bei der Reichstagswahl am 14.9.1930 gewann eine sich radikal gebärdende NSDAP schon 107 statt bisher 12 Sitze, aber noch war die SPD mit 143 Sitzen stärkste Partei. Die neue „FOX Tönende Wochenschau“ berichtete in dramatischen Bildern davon. Selbst im sächsischen Landtag wurde die NSDAP zweitstärkste Fraktion.

Für Paul war das unverständlich, er gehörte keiner Partei an, aber man machte sich doch so seine Gedanken. Wer war das denn, der da so großsprecherisch auftrat und das Heil verkündete. Adolf Hitler, ein staatenloser Gefreiter. Gesessen hatte er, Festungshaft. Und der wollte Deutschland wieder zu neuer Größe führen, Versailles revidieren und die 116 Milliarden Reparationen annullieren, den fünf Millionen Arbeitslosen Lohn und Brot geben und womöglich die Kolonien zurückholen? Ein Phantast, ein Scharlatan, Großmaul. Paul hatte wie immer die DVP[i] gewählt, der auch der sächsische Ministerpräsident Bünger angehörte. Nun hoffte er, dass die Regierung unter Brüning den verfahrenen Karren wieder aus dem Schlamassel ziehen würde.

Ernst schrieb aus Wien, dass ihm ein Adolf Hitler unbekannt sei. Dabei soll er doch Österreicher gewesen sein. Und bei den Nationalratswahlen wurden die Sozialdemokraten stärkste Partei, die Nationalsozialisten erhielten keinen einzigen Sitz. „Das wird sich auch bei uns geben“, meinte Maries Vater, der inzwischen Polizeihauptwachtmeister geworden war.

Seine Tochter träumte zwar weiter von ihrem Prinzen aus Wien, aber das hinderte sie nicht, das Leben zu genießen und sich von den zahlreichen Verehrern den Hof machen zu lassen. Im Ruderklub gab es zahlreiche Gelegenheiten dazu. Es schaffte aber keiner, ihr Herz zu erobern. In den Lichtspielhäusern lief der Film „Die Drei von der Tankstelle“ mit der Harvey und den Lieblingen Willy Fritsch und Heinz Rühmann. Das war der Schwarm aller Mädchen. So einer müsste es sein.

Fritz, ein Gartenbaustudent, hatte gute Chancen. Er wurde Fuchsmajor seiner Verbindung und Marie stickte ihre heißen Gedanken in seine Coleurbänder hinein. Sie machten gemeinsame Radtouren, kletterten im Elbsandsteingebirge herum und gingen auf Bälle. Der Vater war immer dabei. Marie fand das nicht als Bevormundung oder Gängelei. Das war eben so. Dafür organisierte Paul herrliche Gartenfeste und eine verschwiegene Bank im großen Park, mit Blick auf die Elbe, sah so manchen Kuss.

Dann hatte Fritz sein Studium als Bester des Jahrganges abgeschlossen und suchte eine Anstellung. Das war aber so gut wie aussichtslos. Die Regierung kürzte mit Notverordnungen die Löhne und Gehälter im öffentlichen Dienst, und das Ausland hielt sich mit Investitionen zurück, weil die Politik der erstarkten NSDAP beunruhigte. Als Arbeitslosenunterstützung bekam Fritz gerade mal 53 RM, aber für Grundnahrungsmittel waren 66 RM erforderlich. So gab er entnervt dem Werben der einzigen Tochter des größten Gartenbaubetriebes nach, der durch den Tod des Vaters einen Nachfolger brauchte. Fritz heiratete Lilo und nicht Marie. Aus der Traum.

Umso mehr verklärte sich ihr Bild vom Ernstl in Wien. Im August 1931 sollte es endlich zu einem Treffen kommen. In Begleitung der Eltern fuhr Marie mit der Bahn nach Plauen, wo man im „Kurfürst“ übernachtete. Um drei in der Früh hieß es schon wieder aufstehen und vor lauter Angst, die Ankunft von Ernst zu verpassen, saß Marie frierend eine Stunde im Wartesaal.

Der Zug aus Wien kam mit 20 Minuten Verspätung. Endlich. Zischen, quietschen, Türen aufschlagen, aber kein Ernst. Was nun? Plötzlich fasste sie jemand am Arm. „Marie, Grüß Gott!“ Vor Aufregung hatte sie ihn übersehen. Zurück im Hotel wurden die Eltern begrüßt und Kaffee geordert. Paul schlurfte behaglich, aber Ernst schüttelte sich. „Das soll Kaffee sein?“ In Wien ist eben alles anders.

Ein schnaubendes Dampfross brachte sie nach Jena. Hier tauchte die kleine Gesellschaft in das bunte Leben der Studenten ein, die auf dem Marktplatz ihren Konvent abhielten. Tisch an Tisch, unter Bäumen oder Sonnenschirmen, tranken und sangen die „Burschen“ mit den „Füchsen“, wohlwollend überwacht und gesponsert von den „alten Herren“

„O alte Burschenherrlichkeit wohin bist du entschwunden Nie kehrst du wieder gold´ne Zeit so froh und ungebunden!“

Weiter ging es nach Weimar. Ernst stand lange am Zaun zu Goethes Gartenhaus. „Wenn ich hier ein paar Jahre wohnen könnte, würde mich sicher wie Goethe die Muse küssen und ich würde dichten“, sagte er in einer Anwandlung von Größenwahn. Marie nahm ihm alle Illusionen. „Die arme Menschheit!“ rief sie und rannte weg.

Der Zug fuhr schon wieder in aller Herrgottsfrühe. Unterwegs servierte Selma das Frühstück. In einer Hand die Schnitte, in der anderen eine Birne. Ernst amüsierte sich, dass eine Scheibe Brot hier „Bemme“ hieß. So erreichten sie Eisenach und stürmten sofort auf die Wartburg. Zu Anfang wurden noch Lieder gesungen, dann nur noch gekeucht. Paul ließ sich mitten im Grünen fallen. „Bis hierher und nicht weiter!“

Zur Mittagsrast gab es Äpfel, Birnen, Brot, Wurst und Butter aus dem Rucksack. Der war danach viel leichter. Auf der Burg andächtiges Staunen. Sängersaal, Lutherstube, Rüstsaal mit allen Rüstungen und Uniformen der Zeit um 1500. Ernst schoss mit seiner neuen Leitz-Leica – "Kleine Aufnahmen - Große Bilder" – viele Fotos und achtete darauf, dass Marie möglichst oft mit aufs Bild kam. Dann wurde es schon wieder höchste Zeit, den Bahnhof zu erreichen. Zum Glück fuhr ein Bus, der dank Ernstls Charme fünf Minuten eher abfuhr.

Der Reiseplan war von Paul auf die Minute genau ausgearbeitet worden. Kaum saßen sie im Abteil rief schon der Bahnhofsvorsteher: „Abfahrt!“ So eine Hetze. Alle waren total erschöpft und sammelten ihre letzten Lebensgeister zusammen. Alle außer Ernst. Der kam mit einem echten „Weaner“ ins Gespräch, der vor 30 Jahren hierher gezogen war.

In Kelbra ging es singend zu Fuß weiter. In einem Gasthof gab es Butterbrote und frische Kuhmilch, die in Wirklichkeit von Ziegen stammte. Paul und Selma kannten sich da aus. Ein zehn Kilometer langer Marsch zur Höhle „Heimkehle“ schloss sich an, auf dem alle bekannten Fahrtenlieder erklangen.

„Wir sind die Herren der Welt, die Könige auf dem Meer.“

Inzwischen war es sechs Uhr abends und man wollte noch nach Nordhausen, noch einmal so weit. „Am besten durch den Wald“, riet ein freundlicher Bergmann. Langsam wurde es dunkel und kein Wegweiser weit und breit. Mit lautem Gesang kämpfte man gegen die Dunkelheit an.

 

„Im Wald im grünen Walde, da steht ein Försterhaus. Da schauet jeden Morgen, so frisch und frei von Sorgen, des Försters Töchterlein heraus…“

Endlich ein Dorf. „Nach Nordhausen? Da laufen Sie hier in die verkehrte Richtung.“

Große Enttäuschung und im ganzen Dorf kein Gasthaus. Das nächste Dorf eine Stunde entfernt. „Na, ich habe die Ehre“, maulte Ernst, „also weiterhatschen.“

Die Sommernacht war lau und angenehm, so reifte der Wunsch, sich einfach im Wald niederzulegen. Ernst hatte ja seine Zeltplane im Rucksack dabei. Aber noch hielten die Lieder wach. „Lore, Lore, Lore, Lore, schön sind die Mädchen von siebzehn, achtzehn Jahr...“

Gegen zehn Uhr in der Nacht erreichte man Görsbach, weit ab von Nordhausen. Nur ein Gasthof hatte noch Licht und Paul klopfte an die Fensterscheibe. Sie hatten Glück, der Wirt war ein Dresdner, der froh war, etwas von seiner Heimat zu erfahren. Er tischte reichlich zu essen auf, Marie entdeckte ein Klavier und so kehrte bald die Fröhlichkeit zurück. „Dös is a Hetz!“ sagte Ernst und alle lachten. Um Mitternacht sank die Gesellschaft endlich ins Bett.

Morgens um halb fünf war schon wieder Wecken, es galt einen Zug nach Nordhausen zu erwischen. Das klappte wieder mal gerade so. Dort stand die Brockenbahn bereit, ein Bähnle mit fauchender Lokomotive und vier Wagen. Ernst bewährte sich als Zugbegleiter. „Alles fertig – los!“ rief er und das fauchende Ungeheuer gehorchte ihm.

In Drei-Annen-Hohne musste man umsteigen mit einer Stunde Aufenthalt. Alle hatten Hunger, aber im Ort gab es außer dem Bahnhof nur einen Gasthof und drei Häuser. Das Gasthaus konnte nichts erübrigen, „Das Brot ist für die Gäste!“ Blieb nur das Bahnhofsrestaurant. Auch hier zögerte der Wirt, aber als er hörte, dass da ein Wiener und eine Dresdnerin vor ihm standen war er so erstaunt, dass er Brötchen und Wurst herbeizauberte. „Dass sich so etwas zusammengefunden hat!“ Er konnte es gar nicht fassen.

Schließlich kam der Zug zum Brocken aus Wernigerode. Er ächzte aus allen Nähten aber schaffte es schließlich zur Spitze. „Nein, diese Aussicht! Wie herrlich.“ Der Sturm zerrte an den Sachen, aber dieser Blick. „Hier hatte auch Goethe gestanden.“

Gern hätten Marie und Ernst noch eine Weile in die Weite geschaut und sich Hexengeschichten erzählt, aber der Vater mahnte bereits wieder zum Aufbruch. Bergab ging es über quer liegende Äste und Felsblöcke, steil, ohne Wegweiser. Die Blaubeeren am Weg mussten daran glauben und landeten in begierigen Mündern. Tief im Wald fanden sich eine Quelle und einen prima Rastplatz. Das Schild: „Abkochen im Walde streng verboten!“ hatte man bewusst übersehen und ließ sich am Feuer auf der Zeltbahn nieder. Selma deckte den provisorischen Tisch, Paul war Koch, Ernst Wasserträger und Marie spähte in die Runde, damit sie keiner überraschte. Bald saßen sie im Kreis und löffelten die Erbsensuppe. Danach gab es Kaffee, extra stark, um bei Ernst bestehen zu können. Aber der schüttelte sich wieder und verschmähte das „Gesöff“. Ein „Einspänner“ sei ihm lieber.

Die Sonne meinte es gut und die letzten Tage war der Schlaf zu kurz gekommen. Bald lagen Paul und Ernst ausgestreckt im Gras, Selma und Marie auf der Zeltplane. Nach zwei Stunden gab es noch einen Kaffee, alle erfrischten sich an der Quelle, dann ging es bergab Richtung Bad Harzburg. Der Weg war steinfrei, also leicht zu begehen, und schon klangen wieder Lieder durch des Waldes Stille. „Das Wandern ist des Müllers Lust…“, und „Im Frühtau zu Berge wir zieh’n Valera…“Alles was man so drauf hatte. Zwischendurch erzählte Ernst von seinem Beruf, seiner Mami, den Mitmenschen und dem Garten. Es war eigentlich das erste Mal, dass sie ernsthaft miteinander redeten. Dabei verloren sie die Eltern aus den Augen. Erst ein Jodler von Ernst führte sie wieder zusammen.

Im „Molkenhaus“ gab es erfrischende Buttermilch. Dann ertönte zartes Glöckchengebimmel. Braune Kühe, alles braune, strebten von den saftigen Wiesen dem Abhang zu. Der Viehhirt in seiner Kutte stapfte gemächlich hinterher, sein Schäferhund an der Seite. Jede Kuh fand ganz allein den Weg zu ihrem Stall.

In Bad Harzburg war schon wieder Eile geboten, der Zug nach Goslar fuhr um Sieben. Dort kam man im Dunkeln an und musste sich doch noch ein Nachtlager suchen. Durch das Rosentor betraten sie die Stadt und gingen suchend die Bahnhofstraße entlang. Da sprach sie ein Mann an; „Suchen die Herrschaften Quartiere?“ Ein freudiges „Jaaa“ scholl ihm entgegen. Er führte sie zu einem neuen Einfamilienhäuschen. „Bitte sehr, das ist mein Heim. Ich kann Ihnen zwei Zimmer anbieten, 2 RM pro Bett.“ Da gab es kein Überlegen. Der Mann war ohne Arbeit und versuchte durch Zimmervermietung über die Runden zu kommen. In der Veranda servierte die Hausfrau Kaffee, und Selma packte die Brote aus. Endlich konnten sie mal wieder duschen. Es wurde halb zwölf, ehe Ernst im ersten Stock verstaut wurde. Die Familie war in Erdgeschoss untergebracht. Es gab keine Diskussion darüber, dass Marie bei den Eltern schlafen musste. Trotz ihrer 20 Jahre.

Am nächsten Morgen wurde Marie vom Plätschern des Vaters am Waschtisch munter. Die Sonne schien ins Zimmer, aber sie war noch sehr müde. Erst die strengen Worte des Herrn Papa: „Hau’n bisschen hin. Es ist schon sieben!“ brachten sie auf die Beine. Auch Ernst war schon munter. „Deine Guckerln schaun noch ganz trüb aus“, begrüßte er sie.

Nach dem Frühstück führte sie der Gastgeber durch die alten Gässchen Goslars, zur Kaiserpfalz und zum Rathaus. Im Huldigungszimmer wurde die silberne Bergkanne aus dem Jahr 1477 bewundert. Auf einem Teich beim Festungsturm am Zwingerwall glitten majestätisch zwei Schwäne über das Wasser. Beim Anblick der Menschen änderten sie ihren Kurs und schwammen lautlos auf sie zu. Leider umsonst, sie bekamen keine Mahlzeit und schwammen beleidigt davon. Es gab noch sehr viel zu sehen, aber wieder musste ein Zug erreicht werden.

Während die Eltern schon die Plätze belegt hatten, standen Ernst und Marie noch Händchen haltend und lachend auf dem Bahnsteig. Ein älterer Herr beobachtete sie eine Weile und sagte dann bärbeißig: „Nun nehmt doch endlich Abschied. So schwer wird das wohl nicht sein:“ Er erntete nur ein weiteres Lachen und die zwei stiegen erst ein, als der Bahnhofsvorsteher die Kelle hob.

In Hannover nutzte man die vier Stunden Aufenthalt zu einem kurzen Stadtbummel durch die Knochenhauerstraße mit den schönen mittelalterlichen Fachwerkbauten, bestaunte Markt und altes Rathaus. Die Zeit war wieder mal zu kurz. Außerdem hatten alle Hunger. In einem vornehmen Restaurant fielen sie in ihrer Wanderkluft auf, Ernst in kurzen Lederhosen, Marie im Dirndl, Selma mit Strickjacke und Paul in Knickerbockern. Aber immerhin mit Schlips. Den band er selbst bei größter Hitze um. „Für einen Polizisten in Zivil gehört sich das.“

Weiter ging es mit dem Zug nach Soltau, wo eingekauft wurde. Die Leute waren verschlossen und redeten nur das Nötigste. Die Fremden wurden von den Heidemenschen argwöhnisch beobachtet. Hier gab es nicht viele Touristen, schon gar nicht solche mit solch komischer Kleidung und der eigenartigen Sprache. Zuhause würden sie was zu erzählen haben.

Nächstes Ziel war Wintermoor. Im Zug schliefen alle. Die Strecke war auch zu eintönig. Im „Heidehof“ konnte man sich endlich mal wieder waschen. Das tat gut, auch wenn das Wasser durch das Moor ganz braun war. Im Garten gab es Abendbrot mit Käse und Westfälischem Schinken. Paul genehmigte sich eine Zigarre, einen „Friedhofsspargel“, wie Ernst despektierlich bemerkte.

Ein Abendbummel schloss sich an. Die Weite und das Rauschen der Birken und Heidebüsche legten sich auf die Gemüter. Hier konnte man Löns erst so richtig verstehen. Ganz leise klang ihr Gesang, voller Schwermut, aber in inniger Umarmung. „Es dunkelt schon in der Heide, nachhause lasst uns geh’n …“ Und schon an der Haustür sangen sie gedämpft: „Steh‘n zwei Stern am hohen Himmel, leuchten heller als der Mond…“ Das konnte nur mit einem Kuss enden. Einem? Ernstl wollte noch ein Busserl und noch eins. Dann verschwand jeder in seinem Zimmer, aber am offenen Fenster dachte Marie noch lange an ihn und versuchte sich über ihre Gefühle klar zu werden.

Am nächsten Morgen war die Schwermut verflogen. Ein lustiges „Grüß Gott“ von Ernst brachte die Heiterkeit zurück. Am Horizont zogen Wolken auf und verhießen Regen. Paul schaute besorgt aus dem Fenster, hatte er doch auch für heute ein großes Wanderprogramm. Ernst, der Schelm, fragte mit ernster Miene: „Herr Wirt, wie schaut’s mit dem Wetter aus?“, wo doch alle selbst das Unheil sehen konnten.

Unverdrossen marschierte das Quartett los, den Rucksack mit Broten und Äpfeln auf dem Rücken. Ringsum rosenrotes Heidekraut, so weit man sehen konnte, Blüte an Blüte. Es duftete schwer und süß. Die Füße versanken mit jedem Schritt im feinen gelben Sand. Ernst war der erste, dann folgten alle seinem Beispiel und zogen Schuhe und Strümpfe aus. Kein Mensch begegnete ihnen, es war ja auch mitten in der Woche. Natürlich erschollen wieder fröhliche Lieder „… leuchtet die Sonne, ziehen die Wolken, klingen die Lieder weit übers Meer.“

Als es dann anfing zu regnen, war man froh über einen kurzen Schauer, der die Schwüle nahm, aber als er stärker wurde rettete sich die kleine Wandergruppe unter einen großen Kugelbaum auf einer Anhöhe. Die Unterbrechung wurde genutzt um zu frühstücken.

Nachdem Frau Holle sich ausgeweint hatte ging es weiter mit Schnaderhüpferln. Jeder sang einen Text und alle den Refrain. Auch Ernst hatte einen Beitrag.

„Juchhe und Juchhu, weil ma’s Leb’n no ham, seids lusti, mir komma so jung nimma zam! Holladihia, holladiho, a echter Weaner is allweil so.

Und mit Blick auf Paul

„Zwölf Polizisten und fufzehn Schandarm, san siemzwanz’g Spitzbuam wann’s zamkettelt warn.

Oben auf dem Wilseder Berg stand an einer Orientierungstafel eine andere Wandergruppe. Griesgrämige alte Damen, ein Taschentuch über den Kopf gebunden. Sie konnten sich über den Weg nicht einigen. Ein „Grüß Gott. Kemma aushelfen“ von Ernst erhellte die Gesichter. Er kam halt mit seiner Art überall gut an.

Dann ging es bergab, bei glühender Sonne. Die schweren Rucksäcke auf dem Buckel. Vor einem Haus schälte eine Frau Kartoffeln. „Erdäpfel“ nannte sie Ernst und alle lachten. „Wasser? Ja da aus dem Ziehbrunnen!“ Es war köstlich frisches und kaltes Wasser. Das Mittagsmahl, Brote und Äpfel, wurde am Waldesrand eingenommen. Paul war „Speerwerfen“. Er musste es nicht erklären. Die Frauen und Ernst konnten länger aushalten.

Dann kam die letzte Tagesetappe, zur Bahnstation nach Hützel. Heide so weit das Auge blicken konnte. Nach einiger Zeit kamen Höfe in Sicht, aber nirgendwo Menschen. Nur die vielen Bienenstöcke zeugten von Leben. Marie deklamierte Storm:

„Es ist so still. Die Heide liegt im warmen Mittagssonnenstrahle … Kein Klang der aufgeregten Zeit, drang noch in diese Einsamkeit.“

Es hatte sich nichts verändert seit 1852. Auch in Hützel war alles ausgestorben, selbst im Gasthof öffnete niemand auf das Klopfen. Also zogen die vier Wanderer am Bach entlang zum Dorf hinaus und lagerten auf der Wiese. Vater kochte Kaffee mit trockenem Reisig zwischen vier Steinen, die Beine baumelten im kühlen Nass, das Gesicht wurde der Sonne entgegen gestreckt.

Plötzlich verschwand Ernst hinter Bäumen und kam in Badehose zurück. Kurz entschlossen sprang er ins Wasser, der Bach hatte dort eine tiefe Stelle. Die anderen wuschen sich so gut es ging, um den Schweiß der Wanderung wegzuspülen. Danach frisierten sich die Damen, um wieder in der Zivilisation aufgenommen zu werden. Die Herren nutzten den Rest des heißen Wassers, um sich zu rasieren.

Gerade wollten sie aufbrechen, da kamen zwei Handwerksburschen den Bach entlang gewatet, Bündel unterm Arm, Pfeife im Mund. Knietief standen sie im Wasser. „He, ist’s hier tief?“, rief einer. „Nö, überhaupt nicht“ kam es wie aus einem Mund. Beim nächsten Schritt hatten sie den Boden unter den Füßen verloren. Aber sie verstanden Spaß und schwammen mit all ihren Sachen weiter, die Pfeife über Wasser haltend. Wie begossene Pudel kamen sie heraus, schüttelten sich und stimmten in das allgemeine Lachen mit ein.

Mit dem Heidebähnle ging es weiter bis Lüneburg. Während draußen dunkle Wolken aufzogen kuschelte sich jeder in eine Ecke und döste. Es wurde immer dunkler, es grollte, es blitzte, und als der Zug in Lüneburg hielt, goss es in Strömen. Er hatte aber keine Einfahrt, hielt also außerhalb des Bahnsteiges. Trotzdem stiegen die Leute aus und rannten das Stück zum Bahnhof. „Wir warten“, sagte Paul. Doch plötzlich setzte sich der Zug wieder in Bewegung, aber rückwärts. Paul und Selma sprangen schnell ab, aber Marie zappelte noch drin und suchte ihren Ernstl. Der Zug wurde immer schneller. „Spring ab!“, schrie Papa. Marie warf den Rucksack von Ernst zum Fenster hinaus und sprang mit Todesverachtung aus dem fahrenden Zug. Inzwischen war Selma nach vorn gelaufen und schrie dem Lokführer zu: „Da ist noch einer drin!“ Quietschend kam der Zug wieder zum Stehen. Da stieg Ernst vergnügt und langsam die Trittbretter herunter.

 

Jetzt waren alle klitschnass und strebten der Wartehalle zu. Wenigstens gab es hier Kaffee. Überall standen Leute, die auf den Anschlusszug nach Hamburg warteten. Ernst und Marie wollten so gern dem Plattdeutschen lauschen, aber wo immer sie sich hinstellten, hörten die Leute auf zu reden. „Eigenartiger Menschenschlag“, flüsterte Ernst.

Gegen Neun fuhr der Zug ein. Paul reservierte zwei Abteile. In einem bereitete Selma das Abendbrot, im anderen tanzten Marie und Ernst Walzer. „Donau so blau, so schön und blau, durch Tal und Au wogst ruhig du hin …“ Dann wurde nur noch „lala, lala“ gesungen. Bis Paul sich energisch Ruhe ausbat, um ein Nickerchen zu halten. Die Jugend schaute zum Fenster hinaus.

In Hamburg wurden sie von Pauls Bruder Fritz abgeholt, der durch Telegramm verständigt worden war. Mit der Straßenbahn fuhren sie zum Stadtteil Bergedorf, zu Fritz' komfortabler Wohnung oberhalb seines Geschäftes. Es gab ein Radio, Ledergarnitur, einen großen Schreibtisch im Herrenzimmer, ein Bücherschrank mit unzähligen Büchern, eine moderne Küche. Es war die Wohnung eines erfolgreichen Geschäftsmannes. Tante Grete, eine gebürtige Polin, hatte Klöße mit Sauerbraten aufgetischt, und zum Nachtisch Eis mit Früchten. Bis ein Uhr wurde gequatscht, dann fielen allen die Augen zu. Sohn Fritzi, ein aufgeweckter „Hamborger Jung“ war schon lange im Bett. Ernst schlief im Herrenzimmer auf dem Ledersofa.

Am nächsten Morgen brachte sie die Bahn nach Aumühle, dann ging es weiter zu Fuß durch den Sachsenwald zur Waldsiedlung Dassendorf, wo Fritz ein Wochenendhaus besaß. Das Grundstück war sehr groß, bewaldet und hatte einen Karpfenteich, an dem Paul sofort die Rute auswarf und nach fünf Minuten das Mittagessen herausfischte. Danach sollten Pilze gesammelt werden, aber die Jugend rannte nur herum, durch Gestrüpp und Büsche, und spielte „Hasch“. Sie kamen ohne Pilze, aber mit etlichen Schürfwunden zurück. Zum Glück waren Paul und Selma ernsthafter gewesen und hatten fleißig gesammelt.

Zum Abendbrot gab es beim Schein einer Petroleumlampe köstlich geschmorte Pilze, „Schwammerln“, wie Ernst sie nannte. Dann mussten die Enten, der ganze Stolz von Onkel Fritz, in ihr Häuschen gescheucht werden. War das geschafft, kamen sie vergnügt quakend auf der anderen Seite wieder hinaus und schwammen noch eine Runde.

Am Abend wurde erzählt. Man sprach über die Situation in Deutschland. Die völkisch-bündische Jugend hatte sich der HJ und dem BDM angeschlossen., die Hälfte der fünf Millionen Erwerbslosen war auf die Wohlfahrt angewiesen, während in Kiel ein neuer Panzerkreuzer vom Stapel lief. „Dafür ist Geld da“, kommentierte Selma die Zeitungsmeldung.

Auch in Wien gab es rechtsextreme Tendenzen, aber Ernst wäre nicht er selbst, wenn er nicht wieder einen Witz auf den Lippen gehabt hätte. „Die neureichen Pollaks gehen in die Oper, um ihr erworbenes Vermögen zur Schau zu stellen. An der Garderobe wird die Frau von der Garderobiere gefragt: ‚Wünschen Frau Baronin ein Opernglas?’ ‚Nein danke’, sagt die, ‚wir trinken aus der Flasche’“ Mit Blick auf Grete entschuldigte sich Ernst schnell, Pollak sei kein Schimpfwort, sondern ein Name. „Wollt ihr noch einen? Da trifft Graf Bobby auf dem Opernring einen Dienstmann, der auf seinem Rücken eine große Standuhr schleppt. Bobby geht auf ihn zu und sagt: ‚Lieber Herr, das ist doch zu unpraktisch.’ Er zeigt auf seine Armbanduhr. ‚Kaufen’s so ane, dös is praktischer.’“

Waschen musste man sich draußen an der Quelle. Am Morgen stand in jeder Ecke einer mit Handtuch und Seife. Dann sollten Marie und Ernst zum Krämer laufen. Es fehlte das Salz. Kaum waren sie zurück: „Ihr könntet auch noch ein paar Eier holen, das wäre doch toll zum Frühstück. Also rannten die zwei abermals los.“ Endlich saßen alle am Tisch. Später baute Paul mit Fritz eine Tür aus Birkenholz und die beiden Jungen waren überall, meist jedoch dort, wo sie nicht gebraucht wurden. Sie streiften durch die Siedlung und beobachteten das Sonntagsleben. Dort drei Mann beim Kartenspiel, eine Frau klopfte Decken aus, Kinder spielten im Sand. Fast überall stand ein Auto vor der Tür der gutsituierten Hamburger Geschäftsleute. Was für eine friedliche Zeit.

I-4

Am Montag hieß es Abschied nehmen vom kleinen Paradies. Ernst verscheuchte mit einem flotten Spruch die Abschiedsgrillen. „Auf, auf, sprach der Fuchs zum Hasen, hörst du nicht den Jäger blasen?“ Fritz führte sie an Hünengräbern und uralten Bäumen vorbei zum Bismarck-Mausoleum Friedrichsruh. Dort stiegen sie in den Zug nach Hamburg und im Rest des Tages wurde unter Fritzis Führung die Innenstadt mit der Straßenbahn erkundet. Rathaus, Jungfernsteg, Uhlenhorster Fährhaus, Landungsbrücken. Die „Deutsche Werft“ lag still, kein Kran bewegte sich. Deutschland am Abgrund.

Der Dienstag war der Höhepunkt der Reise. Alle waren zeitig auf den Beinen, erwartungsvoll und aufgeregt. Tante Grete aber war noch früher in der Küche und hatte Unmengen Brote, Fleisch, Schnitzel und Obst für jeden zurechtgemacht. Das Essen auf Helgoland war teuer. Jeder bekam noch warme Kleidung mit auf den Weg, dann betraten die vier Feriengäste das Seebäderschiff, den Turbinen-Schnelldampfer „Cobra“.

Für die Landratten war das, als würden sie eine Weltreise beginnen. Matrosen rannten zwischen den an Deck stehenden Passagieren hin und her, Kommandos erschollen, ein Pfiff, dann wurde der Landungssteg eingezogen. Das Schiff schwankte etwas und manche blickten schon jetzt ängstlich. Der Dampfer fuhr mit stampfenden Maschinen los, Punkt sieben Uhr. Zugleich spielte eine Bordkapelle „Muss i denn, muss i denn zum Städtele hinaus …“

Taschentücher winkten, am Kai und auf dem Schiff. Tante Grete wurde immer kleiner. Langsam glitt der Dampfer an den Vororten Hamburgs vorbei, die Kapelle spielte flotte Weisen und die Menschen strahlten. Alle waren sie Vergnügungsreisende. Paul und Selma ließen sich drinnen nieder und betrachteten die vorbeiziehende Landschaft durch das Fenster. Marie und Fritz dagegen liefen von vorn nach hinten und wieder zurück, alles bewundernd und sinnend auf die weite Wasserfläche blickend. Das war doch etwas anderes als die kleinen Raddampfer auf der Elbe. Sie stöberten in allen Ecken und drangen bis in den Maschinenraum vor.

Draußen wehte ein steifer Wind. Hüte auf und Kragen hoch. So viel gab es zu sehen. Fischdampfer, Segelboote, Bugwellen mit Schaumkronen. Möwen umschwärmten das Schiff und fingen die zugeworfenen Bissen im Fluge auf. Als ein Regenschauer aufkam, verzogen sich auch die Letzten unter Deck. Dort wurde sogar nach den Klängen der Kapelle getanzt. Auch Marie und Ernst versuchten zu tanzen, aber das Schiff tanzte auch und ließ das Paar aus dem Takt geraten. Was für ein Spaß. Jeder schien sich zu kennen, lächelte dem anderen freundlich zu und machte Scherze. Urlaubsstimmung eben.