Fahnen,Flammen, Fanatismus

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Fahnen,Flammen, Fanatismus
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Der Autor, Jahrgang 1935, wurde in Kiel geboren, aber die Kriegsereignisse verschlugen ihn nach Ostsachsen, wo er die ersten Schuljahre bis zum Abitur verbrachte. Er studierte in Dresden Bauingenieurwesen und übersiedelte nach einem Berufsjahr in der DDR nach Wien, dann nach Hamburg und schließlich nach Bremen. Hier arbeitete er bis zu seiner Verrentung in einem Ingenieurbüro und war seit 1970 hauptsächlich im asiatischen und afrikanischen Ausland tätig.

Er ist in zweiter Ehe mit einer Wienerin verheiratet und hat insgesamt fünf Kinder.

FAHNEN, FLAMMEN, FANATISMUS

20 Jahre deutscher Geschichte

aus dem Blickwinkel einer kleinbürgerlichen Familie

1928 bis 1949


Impressum

©2015 Klaus Schröder

Druck und Verlag: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

Auszüge aus „Mein Kampf“ mit Genehmigung des Bayerischen Staatsministerium der Finanzen vom 03.04.2014

Abdruckgenehmigung für Erich Kästners Gedicht durch Atrium-Verlag Zürich 1930 und Thomas Kästner vom 11.04.2014

ISBN


Nichts bleibt von uns

als die Erinnerungen

und die Seele im Himmel.

Für die Seele sorgt Gott –

wenn man daran glaubt –

aber wer sorgt für die Erinnerung?

(unbekannter Autor)

INHALTSVERZEICHNIS

VORWORT

I.KAPITEL – Wenn die bunten Fahnen wehen

II.KAPITEL – Uns’re Fahne flattert uns voran

III.KAPITEL – Wochenend und Sonnenschein

IV.KAPITEL – Deutschland erwache

V.KAPITEL – Es zittern die morschen Knochen

VI.KAPITEL – Kamerad nun heißt’s marschieren

VII.KAPITEL – Heil unserm Führer

VIII.KAPITEL – Mit unseren Fahnen ist der Sieg

IX.KAPITEL - Ich weiß, es wird einmal ein Wunder gescheh’n

X.KAPITEL – Heimat deine Sterne

XI.KAPITEL – Vor der Kaserne vor dem großen Tor

XII.KAPITEL – Es geht alles vorüber

XIII.KAPITEL - Davon geht die Welt nicht unter

XIV.KAPITEL – Führer befiel! Wir folgen dir

XV.KAPITEL – Brüder zur Sonne zur Freiheit

XVI.KAPITEL – Dem Morgenrot entgegen

LITERATURNACHWEIS

ABKÜRZUNGEN

ERKLÄRUNGEN


VORWORT

Es begann alles so hoffnungsvoll. Die Euphorie hatte den Großteil der Bevölkerung erfasst, die in den zwanziger Jahren von unvorstellbarer Inflation und nie dagewesener Arbeitslosigkeit gebeutelt wurde. Jetzt endlich war ein Hoffnungsträger aufgetaucht, der versprach, das alles ändern zu wollen; und der stark genug schien, das auch durchzusetzen.

Die Masse der jubelnden Menschen sah nicht die Schrift an der Wand; und die, die sie sahen, wurden brutal mundtot gemacht. Endlich sollte die „Schmach von Versailles“ getilgt werden, Deutschland wieder seinen ihm zustehenden Platz unter den Großen der Welt zurück erhalten.

Das vorliegende Buch springt mitten hinein in die Hochstimmung und schildert den äußerst schmerzvollen Weg in die Selbstzerstörung einer Nation anhand einer typischen Familie, angelehnt an meine eigene. Die geschichtlichen Ereignisse sind korrekt, die persönlichen wurden teilweise anders dargestellt, ergänzt und Namen verändert.

Zwar erkannten immer mehr Menschen das Verbrecherische des Systems, aber sie verharrten angesichts der totalen Überwachung und gnadenlosen Justiz in einer fatalistischen Starre. Bis zum bitteren Ende gab es fanatische Anhänger des größenwahnsinnigen, selbsternannten „Führers“, den die „Vorsehung“ bei all den zum Teil dilettantischen Versuchen, ihn zu beseitigen, scheinbar immer wieder beschützte. Und so steuerte die Entwicklung auf eine Katastrophe zu, die nicht nur 60 Millionen Menschen in ganz Europa den Tod brachte, sondern auch eine Vielzahl von nicht ersetzbaren historischen Bauwerken und Kulturgütern zerstörte und ganze Landstriche verwüstete.

Die deutsche Nation hatte sich aufgelöst und musste nach mehr als 30 Jahren ganz neu entstehen.

Das Buch spannt den Bogen von Dresden, Wien, Rostock, Kiel und Nordschleswig zur Oberlausitz in Sachsen und umfasst den Zeitraum von 1928 bis 1949. Die Ereignisse werden aus der persönlichen Sicht einer kleinbürgerlichen Familie erzählt. Sie erlebt den Rausch der Fahnen, die Flammen, die zuerst nur Bücher, dann Synagogen und schließlich ganze Städte verzehrten, und den blinden Fanatismus, der sogar nach dem Zusammenbruch, wenn auch in anderer Form, das Leben knebelte.

Am Schluss des Buches ist Erich Kästners Gedicht „Die andere Möglichkeit“ wiedergegeben. Es datiert von 1930 und bezieht sich auf den Krieg 1914/18, könnte aber ebenso die Auswirkung eines von Hitler gewonnenen Krieges charakterisieren, wenn man „Kaiser“ durch „Führer“ ersetzt. Die Folgen wären allerdings noch schlimmer gewesen.

„Fahnen, Flammen, Fanatismus“ stellt den ersten Teil einer an meine Familiengeschichte angelehnten Trilogie dar.

Der zweite Teil: „Wie ein bunter Schmetterling“ handelt von der Oberschulzeit in der Oberlausitz (Ostsachsen) 1949 bis 1953

Der dritte Teil: „Rübergemacht – eine schwere Entscheidung“ handelt von der Studentenzeit 1953 bis 1959 in Dresden mit dem ersten Berufsjahr in Magdeburg und dem Verlassen der DDR im Jahr 1960

I.KAPITEL – Wenn die bunten Fahnen wehen

Jugendzeit in Dresden - 1928-34

I-1

„Wenn die bunten Fahnen wehen, geht die Fahrt wohl übers Meer, woll´n wir ferne Lande sehen, fällt der Abschied uns nicht schwer.“

Singend saßen die elf Mädel der 63. Volksschule Dresden-Blasewitz, Höhere Mädchenabteilung, mit ihrem Lehrer Dr. Weißflog in einem Abteil des Sonderzuges nach Gmunden im Salzkammergut. Ziel war die Tagung des „Vereins für das Deutschtum im Ausland (V.D.A.)“. Mit ihren prall gepackten Rucksäcken fuhren Delegationen aus allen Schulen Dresdens am 25. Mai 1928 voller Erwartung zu diesem Ereignis. Nicht viele konnten sich in dieser Zeit eine Urlaubsreise leisten, und schon gar nicht ins Ausland. Die Fahrt ging durch Thüringen nach Plauen, wo ein kurzer Aufenthalt genutzt wurde, um den Würstelmann mit seinen herrlichen „Hofer Würsteln“ zu umlagern. Endlich, nach 13 Stunden Fahrt war Passau erreicht und alle sanken todmüde auf ihr Lager in der Jugendherberge.

Marie tuschelte noch ein wenig mit ihrer Freundin, bevor auch sie in das Land der Träume hinüberglitt. Sie war ein lebenslustiges Mädchen von gerade 16 ½ Jahren und wuchs unbeschwert aber behütet in einem harmonischen Elternhaus auf. Ihr Vater, ein gelernter Böttcher, war inzwischen Polizeianwärter und die Familie wohnte im Gärtnerhaus eines reichen Weinhändlers, der selten in seiner großen Villa wohnte. Marie war Pauls Liebling und er tat alles in seiner Macht, um sie glücklich zu machen. Jetzt schlief sie fest und träumte von den kommenden Abenteuern.

Schon sechs Uhr am Morgen musste man aufstehen und eine müde Truppe trabte zum Kaffee beim Stockbauer. Das Frühstück war einfach, aber der Blick auf die Donau und das heiße Getränk hoben die Stimmung. Die konnte auch durch den Dauerregen nicht getrübt werden und alle redeten durcheinander. Wie junge Mädchen eben so sind.

In Gmunden schien die halbe Stadt auf den Beinen zu sein. Der Bahnhof glich einem Heerlager. Wie eine Schlange bewegte sich ein Wimpel und Standarten schwenkender Zug deutscher Jugendlicher und Erwachsener auf die Stadt zu. Von 14 Jahren aufwärts waren sie aus allen deutschen Sprachgebieten, aus Südtirol, aus dem Baltikum, aus Siebenbürgen, dem Banat, aus dem besetzten Saarland und allen deutschen Landen angereist. Sie wurden in Privathäusern und Scheunen untergebracht. Marie und ihre Schulfreunde kamen in die Büroräume eines Fabrikanten. Dort war es warm und sie hatten einen herrlichen Ausblick auf den See und Schloss Orth. Erschöpft sanken sie in die Betten.

 

Am nächsten Tag wurde die Stadt erkundet. Fast jedes Haus war mit Reisiggirlanden und reichsdeutschen und österreichischen Fahnen geschmückt. Im Laufe des Vormittags fanden Gottesdienste und verschiedene Sitzungen statt. Am Mittagstisch saßen Marie und ihre Freundinnen dann mit bayerischen „Buam“ zusammen, aber von ihren Reden verstanden sie nicht viel. Trotzdem wurde jede Menge gelacht und geschäkert.

Als sie nach dem Essen so ganz ohne Plan auf dem Markt herumstanden, kam der Direktor, bei dem sie logierten, vorbei und lud sie zu einer Spazierfahrt in die Umgebung ein. Das Auto war ein Sechssitzer, aber alle 11 Mädels wurden eingeladen. Das war ein Gaudi. Sie erregten überall Aufsehen. Sie fuhren durch die schneebedeckte Alpenwelt, tief unten die Traun, zu der Stelle, wo sich der Fluss mit ungeheurem Getöse in die Tiefe stürzt.

Gerade rechtzeitig kamen sie zu der Sieben-Uhr-Abendfeier zurecht, die für die Sachsen auf dem Moosberg stattfand. Die Feierstunde wurde eingeleitet von dem Choral:

„Wir treten zum Beten vor Gott den Gerechten. Er waltet und haltet ein strenges Gericht. Er lässt von den Schlechten nicht die Guten knechten; Sein Name sei gelobt er vergisst unser nicht.“

Der Vorstand bedankte sich für die Einladung und danach sprach ein Wiener. Unter großem Applaus bat er darum, dass die Österreicher wieder zum deutschen Mutterland gehören dürften. Er erinnerte daran, dass in Südtirol, in dem seit dem Weltkrieg von Italien okkupierten Teil, seit einem halben Jahr die deutsche Sprache in Schulen und auf Schildern verboten sei. Es folgten Ansprachen von Herren aus Litauen, dem Elsass und Westpreußen, die Not und Elend der Deutschen in den Grenzstaaten hervorhoben. Dazwischen sang und tanzte eine Zipfer Gruppe zur Violine. Die Flammen eines großen Holzstapels loderten zum Himmel. Zum Abschluss wurde gemeinsam das Deutschlandlied gesungen.

Die Berge ringsum waren stimmungsvoll beleuchtet und allen war sehr feierlich zumute. Das Trauntor zeigte ein beleuchtetes Monogramm mit den Buchstaben VDA, Scheinwerfer ließen das Schloss erstrahlen und auf dem See fuhren bunt illuminierte Boote.

Der nächste Morgen weckte die Mädchen mit Sonnenstrahlen und als man sich noch im Bett räkelte, klopfte das Hausmädchen an die Tür. „Herr Doktor lässt fragen, ob Sie fertig seien.“

Jetzt musste alles ganz schnell gehen. Liesel und Käthe hatten mit ihrem Bubikopf wenig Probleme, aber Maries lange Haare zeigten sich widerspenstig. Doch dann waren alle Punkt 8 Uhr aufbruchbereit. Der Tag begann mit einer Morgenfeier der 15 000 Teilnehmer auf der Satoriwiese. Ein im Wald versteckter Chor sang einen Choral als Einleitung für die Rede eines greisen Priors aus Innsbruck. Der katholische Priester sprach von Pflichten, die die Jugend gegenüber Herrgott, Heimat und Volk habe, danach sprach ein evangelischer Bischof aus Siebenbürgen. Er beschwor die Teilnehmer, Träger des Einheitsgedankens zu sein. Zum Abschluss sangen alle

„Großer Gott wir loben dich, Herr, wir preisen deine Stärke. Vor dir neigt die Erde sich und bewundert deine Werke.“

Und natürlich das Deutschlandlied.

Am Nachmittag bewunderten alle einen Festumzug. Die Südtiroler trugen eine Tafel mit Trauerflor. Plötzlich ein Böllerschuss. Alles stand still und Musikkapellen spielten „Ich hatt' einen Kameraden…“ von Ludwig Uhland. Dann begannen sämtliche Glocken in Gmunden zu läuten und jeder nahm seine Kopfbedeckung ab. Nach einem erneuten Böllerschuss setzte sich der Zug wieder in Bewegung.

Als weiterer Programmpunkt fand ein Singwettstreit auf dem Hochkogel statt. Dabei lernten Marie und ihre Freundinnen eine lustige Wiener Gruppe kennen und man verabredete sich für den Abend. Beim Seefeuerwerk traf man sich wieder, und während die anderen am Fackelzug teilnahmen zogen sich drei Mädel und fünf Wiener an den Waldrand zurück. Sie sangen „Weaner Liadln“, die zuerst lustige Stimmung verbreiteten aber dann immer schwermütiger wurden. Die Unterhaltung drehte sich um Volk und Heimat, Sitten und Gebräuche. Einer von ihnen war bereits mit 19 von den Ungarn verhaftet worden, weil er sich dort zu sehr für das Deutschtum eingesetzt hatte. Später konnte er fliehen. Er war recht melancholisch. Sein Bruder dagegen war lustig und immer zu Späßen aufgelegt.

„Ein Herr Pavlitschek trifft die Hausbesorgerin und sagt: ‚Stellen Sie sich vor, Frau Pollak, in New York wird alle fünf Minuten ein Mann überfahren’. ’Nein’, sagt die, ‚der arme Mann.’“ Alle Mädel waren begeistert von ihm, vom Ernstl, und Marie wurde direkt etwas eifersüchtig, denn ihr gefiel er besonders.

Man trennte sich nach zwei Stunden mit dem üblichen „Heil!“ und die Burschen fuhren noch in der Nacht nach Wien zurück, nicht ohne sich dort mit den Mädchen zu verabreden. In ihrem Bett konnte ein junger Backfisch lange nicht einschlafen, weil er dem Treffen entgegenfieberte.

Am frühen Morgen saßen alle wieder im Zug und nahmen mit einem weinenden und einem lachenden Auge Abschied von dem gastfreundlichen Gmunden. Weinend, weil es so wunderschön gewesen war, und lachend, weil es nach Wien ging. Dr. Weißflog war heilfroh, dass er den Bienenschwarm bis dahin ohne Zwischenfälle durchgebracht hatte.

Die Fahrt ging am Traunsee entlang durch das Salzkammergut und alle hingen an den Fenstern um die atemberaubende Landschaft zu bewundern. Am offenen Fenster flog so manches schwarze Rußkorn ins Auge, aber das tat der Begeisterung keinen Abbruch. In Bad Aussee war der Anschluss weg, daher musste man dort übernachten. Im „Herzog Johann“ fand Dr. Weißflog Quartier für seine Mannschaft. Später traf man sich mit den anderen Gruppen und verbrachte im „Kleinen Prater“ den Abend bei Musik und Tanz.

Am anderen Morgen kamen die Mädchen kaum auf die Beine, denn schon um fünf Uhr war Wecken. Es reichte gerade für einen Schluck Kaffee, denn wie immer war man zu spät dran. Im Fiaker ging es im Galopp zur Bahn und der Zug wurde gerade noch erreicht. Alle waren erschöpft und der Doktor vergaß sogar die bereits gefürchtete Strafpredigt. Weiter ging es mitten durch die Alpen, hohe Felsen zu beiden Seiten, zum Teil noch mit Schnee bedeckt, Gletscher und tief im Tal buntgefleckte Rinder. So etwas hatten die Mädchen noch nicht gesehen. Schließlich erklomm der Zug die berühmte Semmeringhöhe. Er wand sich mit vielen Kurven schnaufend, Funken und Rauch ausstoßend durch Tunnel, über Brücken und Viadukte, und wieder klebten alle an den Fensterscheiben.

Endlich lief der Zug in Wien ein und die Bekannten aus Gmunden standen schon da, winkten und jodelten. Alle wurden fest umarmt – Marie etwas fester? – und zum Quartier „Zum Goldenen Tor“ begleitet. Nachdem sich die Gruppe frisch gemacht hatte, brach man zu einem Stadtbummel auf. Alles schien hier beschwingter und sorgloser zu sein, fand Marie. Alles so „g’müatlich“, selbst der Straßenbahnschaffner. Dr. Weißflog gab ihm 28 Fahrscheine, die hier „Billets“ hießen, und der fragte nur ob’s stimmt. Dann knipste er ohne nachzuzählen, was ein preußischer Beamter mit Sicherheit getan hätte. Überall auf dem „Trottoir“ standen kleine Tische und man trank erst mal einen Mokka, Braunen, oder Einspänner nach jedem Einkauf. „Deutsche Eile wirkt störend", erläuterte Ernstl. „Wien ,Wien nur du allein, sollst stets die Stadt meiner Träume sein“, sang er unbeschwert auf der Straße und Passanten nickten dazu.

Nachdem Belvedere, Karlskirche, Oper, Hofburg und die Ringstraße abgehakt waren ging’s auf zum Prater. Das Herz von Wien, wie Marie fand, die sich einfach bei Ernst eingehakt hatte. Als das Riesenrad auf dem höchsten Punkt eine Weile ausruhte, sagte sie „Mir ist kalt“, was nur ungenau stimmte. Es hatte aber den gewünschten Effekt, dass Ernst sie an sich drückte. Die neidischen Blicke der Freundinnen ignorierte sie.

Nachdem alle Attraktionen des „Wurstelpraters“ ausprobiert waren, versammelte sich die Gesellschaft in einem Lokal und erfreute sich an „Stelzen“ und Bier. Dr. Weißflog drückte ob des Alkohols ein Auge zu. Schließlich fielen alle spät aber glücklich ins Hotelbett.

Am nächsten Morgen stand Ernst schon wieder bereit, um die Mädchen nach Schloss Schönbrunn zu begleiten. Er hatte bereits etliche Vorlesungen seines Architekturstudiums geschwänzt und auf ein paar mehr kam es jetzt auch nicht mehr an. Er gestand es sich noch nicht ein, aber er hatte angebissen. Das dunkelhaarige fesche Maderl war ein Leckerbissen. Er ließ sich aber nichts anmerken. Nur Marie fiel auf, dass sein Blick immer wieder zu ihr hin schweifte, während er die Schönheiten der Anlage erläuterte. Von der Gloriette aus konnte man weit nach Wien hineinblicken und wie zufällig ergab sich die Gelegenheit, der Marie einen flüchtigen Kuss auf den Nacken zu geben. Danach mischte er sich wieder unter die anderen und freute sich insgeheim, dass die so Ausgezeichnete kräftig errötete.

Zu Fuß gelangte man über die Wienzeile zur Kärntner Straße. Alles war hier noch größer und prächtiger als im wunderschönen Dresden und Marie konnte sich gar nicht satt sehen. Die vielen Ausländer, geschminkt und gepudert, störten zwar ihre Vorstellung vom gemütlichen Wien, aber es gab noch genügend Einheimische in ihren schönen Trachten.

Der Stephansdom überwältigte alle. Natürlich wollte jeder auf den Turm, aber bei 762 Stufen ging doch schnell die Puste aus. Das letzte Stück bis zur Spitze war nur für jeweils eine Person über eine einfache Leiter zugänglich, aber keine wollte Schwäche zeigen. Ernst gab vor, die Leiter halten zu müssen, aber der eigentliche Grund war der Blick nach oben, der ihm die Aussicht auf lange Mädchenbeine ermöglichte.

Von oben sahen die Menschen wie Puppen aus und Wien lag ihnen zu Füßen. Als Marie wieder herunterstieg streckte Ernst die Hände aus und sie ließ sich von der letzten Sprosse in seine Arme gleiten. Nur einen kurzen Moment waren ihre Körper aneinander gepresst, doch der genügte, dass sie sich minutenlang wie im Trance bewegte.

Jetzt wollten alle zum Quartier, um sich von den Strapazen etwas auszuruhen, aber Ernst bestand darauf, ihnen noch das Strauß-Denkmal im Stadtpark zu zeigen. Dort nahm er Marie in die Arme und drehte mit ihr ein paar Tanzschritte, den Donauwalzer summend. Sie hätte sich so gern in seinen Armen weiter gewiegt, aber die anderen hatten Hunger und waren müde. Spielverderber.

Am Nachmittag stand ein Ausflug nach Grinzing auf dem Programm. Die Schrammelmusik, die aus den Türen klang, lud zum Verweilen ein, aber dazu reichte weder die Zeit noch das Geld. Stattdessen stieg die bunte Schar zum Cobenzl empor, um den herrlichen Ausblick zu genießen. Der Doktor vorweg, die andern hinterher und ganz zum Schluss Ernst und Marie. Man hatte sich ja so viel zu erzählen, und wollte sich schreiben und ganz sicher auch treffen und … Vieles blieb ungesagt.

Dann musste es schnell gehen. Auf dem Weg zum Kai waren alle traurig, auch wenn sich Ernst bemühte, fröhliche Stimmung zu erzeugen. Mit dem Schiff sollte es bis Linz gehen. Alle waren schon auf dem Dampfer, die Sirene mahnte zur Abfahrt, der Doktor gestikulierte, aber da standen noch zwei am Ufer und hielten sich das erste Mal fest umschlungen. In letzter Sekunde gab Marie dem Ernstl einen herzhaften Kuss auf den Mund, riss sich los und stürmte über den Steg aufs Schiff. Langsam bewegte es sich vom Ufer weg, winken, winken und ein paar Tränen, dann war die einsame Figur am Kai außer Sichtweite.

Die Freundinnen hatten Marie einen Platz im Damensalon frei gehalten, aber immer mehr Mädchen wollten hinein. So gab man es schließlich auf und verstaute nur die Rucksäcke im kleinen Zimmer. Schade um den schönen Raum, der sah sonst vornehmere Gesellschaft. Inzwischen war es schon elf Uhr geworden und keiner dachte ans Schlafen.

„Wir wollen die ganze Nacht aufbleiben. Wir sind überhaupt nicht müde“, versicherten sie dem Doktor. Aber der bestand auf Schlaf, wenigstens ein paar Stunden. So fügten sich Marie und ihre Freundinnen, hüllten sich in warme Decken und suchten sich eine geschützte Ecke oben auf Deck. Dort lagen überall vermummte Gestalten, die unten keinen Platz mehr gefunden hatten. Der Doktor selbst gönnte sich keinen Schlaf, er bewachte seine Schäfchen. Immer wieder kam er auf seinem Rundgang vorbei, nur am Glühen seiner ständigen Zigarette auszumachen. Diese Leidenschaft war scheinbar sein einziger Fehler und die Mädchen machten ihre harmlosen Scherze über ihn. „Aus gutem Grund ist Juno rund, es glüht der Stengel zu jeder Stund“ dichteten sie.

Es war lausig kalt. Dazu der Fahrtwind und die Schiffsgeräusche. Und es war neblig. Dafür gab es einen wunderschönen Sonnenaufgang. Nach dem Frühstück im Speiseraum spielte eine Musikkapelle und alle genossen die vorbeiziehende Landschaft. Die mächtige Ruine Aggstein, dann Dürnstein und Krems glitten vorüber. Während die anderen Gruppenführer zusammenhockten saß Dr. Weißflog immer bei seinen Schützlingen. Nur einmal wurde er ihnen untreu, als die anderen ihn mit einem Skatspiel lockten.

 

In Linz war Zeit für eine kurze Stadtbesichtigung, dann brachte sie der Zug wieder nach Passau, wo sie in der Jugendherberge Schlaf suchten. Aber leider war alles besetzt. Wie die Sperlinge hockten sie jetzt auf der Bordsteinkante und hatten trotz der misslichen Lage einen Mordsspaß, bis der treu sorgende Doktor endlich ein Hotel gefunden hatte.

Katzenjammer am nächsten Morgen, weil die schönen Tage in der Gemeinschaft vorbei waren. „Alles ist vergänglich, nur der Kuhschwanz, der bleibt länglich“. Der Humor blieb.

„Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei“. Dumme Sprüche gab es zuhauf, um sich gegenseitig die schlechte Laune zu vertreiben. Auch Dr. Weißflog versuchte sein Bestes. „Nun steckt eure mummligen Gesichter in den Rucksack, sonst fliegt ihr alle miteinander in die Donau."

Nach dem Kaffee beim „Stockbauer Gasthäusle“ wurden die Lebensgeister wieder wach und in freudiger Erwartung auf die Heimat bestieg man den Sonderzug. Im Abteil ging es wieder hoch her. Alle waren in patriotischer Stimmung. Was hatten sie in den 10 Tagen nicht alles erlebt. Deutsches Wesen und deutsche Art in deutschem Land.

Unterwegs gab es einen größeren Aufenthalt und alle strömten hinaus in die Sonne. „Raus mit der Maus in die Frühlingsluft!“

Der Doktor hatte sich mit seiner unvermeidlichen Zigarette an einen Zaun gelehnt und genoss mit geschlossenen Augen die warmen Strahlen. Heimlich wurde ein Bild geschossen. Als es ihm später gezeigt wurde, sagte er: „Kinder, das habt ihr wieder mal echt blasewitzerisch gemacht.“ Andere Klassen beneideten sie um ihren Lehrer, der so viel Verständnis für „seine Kinder“ hatte.


I-2


Marie hatte eine glückliche Jugend erlebt. Das Gartenhaus, im Park des Weinfabrikanten in Dresden-Blasewitz, glich eher einem kleinen Schlösschen und das Gelände lud zu allerhand Aktivitäten ein. Paul, ihr Vater, durfte hier frei wohnen und das ganze Grundstück nutzen. Er fungierte als eine Art Hausmeister ohne besondere Pflichten, da der Besitzer nur wenige Wochen des Sommers im Hauptschloss wohnte. Allerdings vermisste Marie hier anfangs Spielgefährten. Nur wenn die sechs Buben des Weinhändlers da waren, wurden im Park wilde Räuber- und Gendarm- oder Indianerspiele veranstaltet.

Mit Puppen hatte sie nichts im Sinn. Sie besaß eine wunderschöne, in Babygröße, mit Porzellankopf, rollenden Augen, klappenden Augenlider und langen braunen Echthaaren, dazu viele prächtige Kleider. Die zog sie aber lieber ihrer Katze an, die sich alles gefallen ließ. Angezogen und mit Häubchen versehen lag sie unbeweglich auf dem Rücken, mit den Pfoten auf der Decke und wurde spazieren gefahren. Das war interessanter als eine leblose Puppe. Seit tausenden Jahren waren Katzen Begleiter der Menschen. Ohne Katze, das war doch gar nicht vorstellbar und der Mensch konnte froh sein, bei ihr wohnen zu dürfen. Der Korbwagen wurde ihr so vertraut, dass sie später sogar ihre Kinder darin gebar.

Auch ein weißer Spitz gehörte neben Kaninchen, Ziegen, Hühnern und einem Schwein zur Menagerie. Als Marie aber versuchte, den Hund mit Vaters Rasiermesser zu rasieren, gab es die erste Dresche. So was tut man ja auch nicht. Bauz, so hieß der Spitz, war ein richtiger Schlawiner. Als er sich mal an der Pfote verletzt hatte, wurde er viel herumgetragen. Er hinkte auch noch, als die Wunde längst verheilt war. Allerdings nur, wenn jemand hinsah.

Als später die Schule begann, hatte Marie endlich viele Freundinnen. Deren Eltern waren zwar durchweg vermögender, aber das herrliche Grundstück zog alle an und Paul verstand es immer wieder, entzückende Gartenfeste zu veranstalten. Da konnte man so laut sein, wie man wollte, denn das Gelände grenzte auf der einen Seite an einen Friedhof und auf der anderen an eine Gärtnerei. Die Toten und die Blumen beschwerten sich nicht. Der kleine Park lag direkt an der Elbe und die Kinder machten sich einen Spaß daraus, versteckt im Gebüsch, die auf der Elbpromenade spazierenden Liebespaare zu belauschen. Danach wurden dann die tollsten Geschichten um das Erlauschte gesponnen.

Nach vier Grundschuljahren ging Marie in die Höhere Mädchenschule. Ihre Mitschülerinnen kamen aus der „besseren“ Gesellschaft, Marie wurde aber sofort integriert. Nicht nur wegen des Parks und der vom Vater organisierten Feste. Zwei adlige Mädchen waren Flüchtlinge aus Russland. Die Väter erschossen, die Güter beschlagnahmt, brachten die Mütter sie mit Nachhilfestunden durch. Nina sprach zuhause jeden Tag eine andere Sprache und in der Schule war sie ein Ass. Eine andere Klassenkameradin, Traute, war das einzige Kind eines Fabrikanten. Sie hatte alles, nur keine schlanke Figur, denn sie aß und naschte für ihr Leben gern. Deshalb fuhr sie jedes Jahr mit ihrer Mutter nach Karlsbad in die Tschechoslowakei, um dort für viel Geld ihre Pfunde abzuhungern. Sie kam schlank zurück und hatte nach drei Monaten wieder alles aufgeholt. Sie musste deshalb mit dem Fahrrad zur Schule fahren, aber ein Chauffeur begleitete sie im Auto, einem Maybach.

Die Schule hatte gute Ausbilder. Die Fremdsprachenlehrer mussten zuvor zwei Jahre im Ausland unterrichtet haben und der Chemielehrer war ein Experte, aber zu gut für diese Welt. Er wurde der Backfische nicht Herr. Marie war seine Hilfskraft, und wenn er im Nebenraum Unterrichtsmaterial holte, durchstöberte sie sein Zensurenbüchlein. Wenn man es gar zu arg trieb, wurde man gelegentlich zum Schulleiter beordert. Der sah die Sünderin nur lange eindringlich an, das genügte, um in Reue zu zerfließen. Da stand sie nun, zerknirscht am modisch kurzen Röckchen zupfend. „Ziehen hilft nicht, länger machen!“

Pauls Aktivitäten waren sehr vielseitig. Die Arbeit im Haus, im Garten und mit den Tieren blieb allerdings an der geduldigen Mutter Selma hängen. Das karge Beamtengehalt musste aufgebessert werden und zu Feiertagen kam auch noch die weite Verwandtschaft zum Essen und Feiern. Immerhin hatte er eine sichere Stellung, Polizei brauchte man immer, im Gartenhaus konnten sie umsonst wohnen und zu essen gab es genug. So mussten sie dank der eigenen Haustiere keine Eier zum Stückpreis von 320 Milliarden RM kaufen. Das kostete ein Ei zu Zeiten der Hyperinflation Ende 1923. Auch Fleisch, Gemüse, Obst und Ziegenmilch gab es aus eigener Produktion. Paul musste damals für eine Straßenbahnfahrt 600 RM hinblättern und es gab viele andere Kosten. Deshalb arbeitete Selma von der Früh bis zum Abend in Haushalt und Garten und beklagte sich nicht. Wenn sie mal einen hübschen Stoff für ein neues Kleid bekam, bettelte Marie es ihr oft ab. Die Mutter hätte auch ihr letztes Hemdchen gegeben, wie im Märchen vom Sterntaler. Dabei sang sie von früh bis abends.

Die schweren Zeiten waren dann nach der Währungsreform im November 1923 Gott sei Dank vorbei und man konnte sich wieder einige Vergnügungen gönnen. Jedenfalls der gehobene Mittelstand und die Beamtenschaft.

Zu der Zeit wurde Radfahren modern und Paul war sofort dabei. Er brachte sich als Vergnügungsvorstand ein und organisierte fast jeden Sommersonntag Ausflüge in die schöne Umgebung. Picknick im Freien – die Jugend saß meist etwas abseits. Das Trio Marie, Gretel und Ilse war unzertrennlich. Die Freundinnen scherzten: Marie die Kluge, Gretel die Reiche und Ilse die Hübsche. Auch Tanzvergnügen organisierte Paul und Marie lernte solche Gesellschaftstänze wie Menuett und Konter. Wenn ihr Vater im Beisein des älteren Reigenpartners dann in der Straßenbahn Fahrscheine für drei Erwachsene und ein Kind verlangte, wäre Marie fast im Boden versunken.

Als Weltkriegsteilnehmer war Paul selbstverständlich auch im Militärverein. Alljährlich fanden in allen Räumen des Dresdner Ausstellungspalastes Bälle statt. Das hatte den Vorteil, dass man tanzend den Eltern entschwinden konnte. Bei den schicken Fähnrichen brauchte Marie nie Mauerblümchen zu sein. Hier tanzte man modern, Charleston zum Beispiel.

„Das ist keine Kunst“, erklärte sie dem Vater, „Man muss sich nur vorstellen, dass man einen Floh im Rücken hat und die Schlüpfer verliert.“ „Na danke“, sagte Paul.

Spätestens um Mitternacht stand er mit dem Mantel an der Tür, ein stummer Mahner, manchmal geduldig und schwitzend eine ganze Stunde lang. Dann wurde es aber ernst. Gewöhnlich gingen sie per pedes nachhause und Marie hinkte in ihren hohen Absätzen lahm hinterher. Vaters Worte „Beim Tanzen warst du aber nicht so schlecht zu Fuß“ marterten ihre Seele.

Beim „Verein christlicher junger Männer“ war Paul Ehrenmitglied. Die bliesen Posaune. Zu Festtagen oder zu Pauls Geburtstag stellten sie sich am Tor auf und brachten ein Ständchen. Am Straßenrand standen die Zaungäste. Natürlich hatte er damit gerechnet, auch wenn er sehr erstaunt tat. Drinnen gab es Kartoffelsalat von Selma und dann wurde eine Holztanzdiele im Garten aufgebaut. Die Zaungäste staunten immer noch. Erich, ein posauneblasender Bankbeamter, verdiente schon eigenes Geld und war im heiratsfähigen Alter. Zur Silberhochzeit seiner Eltern saß Marie neben dem Jubelpaar an seiner Seite und wurde von der ganzen Verwandtschaft begutachtet. Sie aber hatte noch keinen Sinn fürs Heiraten. In ihrem Kopf war zurzeit nur Platz für schöne Kleider, ein Zustand, den ihre Eltern mit Geduld ertrugen.