Giordano Bruno - Märtyrer der Gedankenfreiheit

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1.7. Oxford: Bruno als Kopernikus-Überbieter und Nestbeschmutzer

Bruno kam im April des Jahres 1583 in London an – einer prosperierenden, überfüllten Stadt mit katastrophalen hygienischen Zuständen. Chronisten berichten von allsommerlichen Heimsuchungen durch die Beulenpest. Möglicherweise war auch schon der damals neunzehnjährige Wilhelm Shakespeare, dessen Aufstieg zum bedeutendsten Dramatiker des Landes allerdings erst noch bevorstand, unter den ca. 70000 Einwohnern, die sich innerhalb der Stadtmauer drängten. Das elisabethanische Zeitalter stand in voller Blüte, die Königin residierte im Whitehall Palast, an Wochenenden auf Windsor Castle und wenige Jahre später, 1588, dem Geburtsjahr von Thomas Hobbes, wird ihre Flotte, unter maßgeblicher Mithilfe des Vizeadmirals und ehemaligen Freibeuters Sir Francis Drake die spanische Armada vernichtend schlagen. Zu diesem Zeitpunkt allerdings ist Bruno schon wieder weg, unterwegs in deutschen Landen. Er blieb nur bis ins Jahr 1685 in England und er bemühte sich während seines Aufenthalts um Anerkennung seines Denkens, sowohl bei Hof als auch an der ca. 90 Kilometer themseaufwärts gelegen Universität von Oxford. Letzteres zumindest scheint ihm nicht gelungen zu sein. Wenn zutrifft, was die Quellen nahelegen, so nahm er teil an Disputationen, die die Oxforder aus Anlass des Besuches des polnischen Grafen Albert Laski veranstalteten. Brunos Reden mit mehrheitlich wohl astronomisch-kosmologischen Inhalten gerieten zum Fiasko. Sein Auftreten muss äußerst unbescheiden gewirkt und sein überbordender Gedankenfluss verworren geklungen haben, außerdem wurde ruchbar, er habe Teile seines Vortrages von Marsilio Ficino übernommen, jedenfalls hat er sich dadurch die Chance, in Oxford lehren zu dürfen, verspielt. Bruno schildert die Episode im „Aschermittwochsmahl“, seiner ersten Londoner Schrift, sieht sein Scheitern aber der Borniertheit und Sturheit der englischen Gelehrten geschuldet: „Dieses glückliche Land steht im Augenblick unter dem Stern des Dünkels und verstocktester pedantischer Unwissenheit, gepaart mit bäurischer Unhöflichkeit, bei der selbst Jupiter die Geduld verlieren würde. Wenn Ihr es nicht glaubt, begebt euch nach Oxford und laßt Euch erzählen, was dem Nolaner dort widerfahren ist, als er in Anwesenheit des polnischen Fürsten Laski und englischer Adliger mit jenen Doktoren der Theologie öffentlich disputierte. Laßt Euch erzählen, wie man auf seine Argumente zu antworten verstand und wie jener arme Doktor, der als Leuchte der Akademie bei diesem bedeutenden Anlass dem Nolaner entgegengetreten war, durch 15 Schlußfolgerungen 15 mal in die Enge getrieben wurde und nicht mehr ein noch aus wußte. Laßt Euch berichten, mit welcher Unhöflichkeit und Frechheit dieses Schwein vorging und welche Geduld und Menschlichkeit der Nolaner dagegen aufbrachte...“38

Das „Aschermittwochsmahl“ ist, wie es für den Oxforder Vortrag selbst wohl auch gedacht war, eine Würdigung der Lehren des Kopernikus, dessen Einsichten Bruno jedoch nicht weit genug gingen: „Doch wer vermöchte trotz alledem die Großmut dieses Deutschen in vollem Maße zu würdigen, welcher ohne Rücksicht auf die törichte Menge sich so fest gegen den Strom der gegenteiligen Überzeugung gestellt hat? … Wenn dieser Deutsche auch nicht genügend Mittel besaß, dem Irrtum nicht nur Widerstand zu leisten, sondern ihn auch vollends besiegen … zu können, so hat er sich doch entschieden und offen dazu bekannt, dass man schließlich notwendig zu dem Schluss gelangen müsse, es bewege sich eher unser Erdball gegenüber dem Universum, als dass die Gesamtheit der unzähligen Körper, von denen viele erhabener und größer sind als die Erde, diese als Mittelpunkt und Grundlage ihrer Umdrehungen … anzuerkennen habe.“39

Bruno war überzeugt: Zum vollständigen Sieg über die Irrtümern des immer noch herrschenden ptolemäischen Weltbildes braucht es mehr als die Mathematik, die Kopernikus so glanzvoll angewandt hat, um zu belegen, dass die Erde sich um die Sonne dreht, denn auch wer geneigt war, Kopernikus zu glauben, konnte nach wie vor der Überzeugung sein, dass das All eine geschlossene, in eine sub- und translunare Sphäre unterteilte Kugel sei. „Doch was ist dann außerhalb dieses begrenzten und endlichen Kosmos? Ist die Welt ein ‚Ding, das nirgends ist‘, wie Bruno fragt? Ist außerhalb des Alls nur Gott, der die Welt geschaffen hat, so dass Gott ‚der Ort aller Dinge‘ ist? Wie aber kann der reine Geist der Ort körperlicher Dinge sein? Ist die Lehre von der Begrenztheit der Welt nicht sogar unvereinbar mit der unendlichen Schöpferkraft Gottes?“40

Bruno glaubt, dass sich Fragen wie diese nicht durch Sternenbeobachtung und Mathematik, sondern nur durch vorurteilsfreie Naturphilosophie beantworten lassen. So hat Kopernikus zwar die kosmologische Wende eingeleitet, aber nur die Naturphilosophie kann sie zu Ende führen.

„Wer“, sagt Bruno, „möchte so … undankbar sein, um nicht anzuerkennen, dass dieser Mann (Kopernikus, Anm. d. V.) von den Göttern gewissermaßen als die Morgenröte eines besseren Tages vorausgesandt ist, um dem Sonnenaufgang der wahren alten Philosophie voraufzugehen, die lange Jahrhunderte in den dunklen Schachten (…) anmaßender und neidischer Unwissenheit begraben gewesen ist.“41 Die Unwissenden, das sind Gelehrte, wie Bruno sie in Oxford getroffen hat, Begriffsjongleure ohne echten philosophischen Impuls. Und Bruno selbst? Seine Schilderung der Oxforder Verhältnisse zeigt auffällige Parallelen zu Platons Höhlengleichnis. Für den Sonnenaufgang der wahren Philosophie braucht es einen wie ihn, einen der der Philosophie ihre antike Größe und Weite zurückgewinnt und Verhöhnung und Gelächter nicht fürchtet. Bruno denkt sich in der Rolle des Befreiers hinein, der keinen Dank erwarten darf für seine Befreiungstat.

Das „Aschermittwochsmahl“ wurde allenthalben als Beleidigung und unverschämte Provokation empfunden und auch eine Apologie dieser Schrift, die Bruno mit dem ersten der fünf Dialoge der UPE-Schrift nachreicht, spart nicht mit beißender Kritik am Oxforder Wissenschaftsbetrieb.

Dialogpartner in diesem ersten Dialog sind Brunos Alter Ego Filoteo, der in den vier nachfolgenden Dialogen Teofilo genannt wird, sowie Armesso – offensichtlich ein Engländer, der um eine Ehrenrettung englischer Wissenschaft bemüht ist – und Elitropio, ein Sympathisant der Positionen Filoteos. Armesso und Elitropio tauchen außer in diesem ersten Dialog im Rest der UPE-Schrift nicht mehr auf.

Ein kurzer Auszug aus diesem ersten Dialog sei hier angeführt, Filoteo bezichtigt darin die Oxforder Philosophen der bloßen Wortakrobatik, die mit ernster und deshalb auch freier Wahrheitssuche, wie sie zu früheren und ruhmreicheren Zeiten in Oxford betrieben wurde, nichts mehr gemein hat: „Ich dagegen lobe mir die Metaphysik, in der jene (Philosophen, für die Oxford einst zu Recht gerühmt wurde, Anm. d. V.) ihren Lehrmeister Aristoteles übertroffen haben – gilt sie mir doch mehr als all das, was diese Größen des gegenwärtigen Zeitalters an ciceronianischer Beredsamkeit und deklamatorischer Kunst aufbieten.“ Daraufhin Armesso: „Allerdings ist dergleichen (gemeint ist die Beredsamkeit, Anm. d. V.) nicht zu verachten.“ Filoteo entgegnet: „Gewiß nicht. Aber vor die Wahl gestellt, sich für das eine oder das andere zu entscheiden, würde ich die Bildung des Geistes, in so dürftigem Gewand sie auch auftreten mag, noch so großer Gewandtheit in Wort und Rede vorziehen.“ Auf Armessos Einwand hin, dass das Curriculum der Universität Oxford eine Beschäftigung mit Aristoteles zur Pflicht mache und es deshalb um die echte Geistesbildung ihrer Absolventen nicht so schlecht bestellt sein könne, bringt sich auch Elitropio in das Gespräch ein und trägt eine spöttische Kritik gegen den durch keinerlei echte philosophische Qualifikation gerechtfertigten Hochmut der Oxforder Akademiker vor: „Ich will … sagen, daß diejenigen, die in den Redensarten und den Namen der Dinge beschlagen sind, ohne den Dingen auf den Grund zu gehen, dieselben Maul-Esel reiten wie jener ehrwürdige Vater der Maultiere.“ Armesso erwidert: „Doch glaube ich, daß sie – neben dem Studium der Beredsamkeit, in der sie alle ihre Vorgänger übertreffen und den übrigen Modernen nicht nachstehen – auch in der Philosophie und den anderen spekulativen Wissenschaften keineswegs Bettler sind. Denn ohne darin bewandert zu sein, kann keiner von ihnen einen akademischen Titel erwerben; bestimmen doch die Statuten der Universität, an die sie durch Eid gebunden sind: ‚Niemand soll zur Magister- oder Doktorwürde promoviert werden, der nicht aus der Quelle des Aristoteles getrunken hat.‘“ Elitropios Replik lautet: „Oh, ich will Euch sagen, wie sie es angefangen haben, nicht meineidig zu werden. Von den drei Brunnen, die sich im Bereich der Universität befinden, haben sie den einen auf den Namen ‚Quelle des Aristoteles‘ getauft, den anderen nennen sie ‚Quelle des Pythagoras‘ und den dritten ‚Quelle des Platon‘. Da sie nun aus diesen drei Brunnen – die freilich auch die Tränke für Rindvieh und Pferde speisen – das Wasser gewinnen, um Bier und Met zu brauen, gibt es folglich niemanden, der nach drei oder vier Tagen Aufenthalt in den Studien- und Internatsgebäuden nicht reichlich aus der Quelle des Aristoteles getrunken hätte, wie auch aus der des Pythagoras und der des Platon.“42

1.8. Aristotelisch geprägte Wissenschaftlichkeit: Bruno betreibt Metaphysik als Ontologie

Neben aller Polemik zeigen diese Textstellen, dass eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit metaphysischen Fragen in der Spätrenaissance aufs Engste mit der Philosophie des Aristoteles verbunden war. Wer nicht aus der Quelle des Aristoteles getrunken hatte, konnte nicht eintreten in den Kreis der Wissenschaftler der letzten Dinge.

 

Aristoteles hatte im vierten vorchristlichen Jahrhundert ein Werk vorgelegt, das nicht nur die schon erwähnten Schriften zur Metaphysik, sondern viele andere Wissensgebieten, darunter Ethik, Poetik, Politik, Physik, Biologie und Seelenlehre umfasste und mit dem er eine von Mythos und Religion unabhängige, eigenständige Wissenschaft erschaffen hatte, „die auf alle Fragen selbst Antwort zu geben und eine Weltdeutung zu bieten imstande war“43. Die Art wie Aristoteles die Erfahrungswirklichkeit denkend erforschte, beherrschte, seit sie wiederentdeckt und durch Albert den Großen und Thomas von Aquin für die christliche Theologie vereinnahmt wurde, das abendländische Wissenschaftstreiben. Weil Aristoteles erstmals vorführte, was es bedeuten kann, Wissen systematisch zu generieren und zu erfassen, ist er im Spätmittelalter und auch noch in der frühen Neuzeit zum „Philosophus“ schlechthin und der Aristotelismus, die Weise also, wie Aristoteles Wissenschaft betrieben hat, zum Vorbild und Inbegriff von Wissenschaftlichkeit überhaupt geworden.

Nehmen wir einmal an, Sie wüssten besser als alle anderen, wie es beim Urknall zugegangen ist. Es würde ihnen niemand zuhören, man würde Sie für verrückt oder zum Esoteriker erklären, sollte es Ihnen nicht gelingen, ihre Ideen auf eine Weise zu begründen und vorzutragen, die als wissenschaftlich gelten kann, weil sie die Kriterien von Wissenschaftlichkeit erfüllt. Diese Kriterien können sich wandeln und haben sich im Verlaufe der Wissenschaftsgeschichte auch gewandelt. Weil Wissenschaft zu Brunos Zeiten begrifflich und methodisch am aristotelischen Vorbild ausgerichtet war, musste sich auch Bruno als Kenner des scholastischen Aristotelismus profilieren, um als Wissenschaftler gelten und mit seinen Theorien Gehör finden zu können. Man merkt der UPE-Schrift diese Absicht an, sie belegt und sollte wohl auch belegen, dass Bruno den von der damaligen Wissenschaft eröffneten Wissensraum überblickte und das begriffliche und methodische, von Aristoteles stammende Rüstzeug so gut zu handhaben wusste, dass er diesen Wissensraum nicht nur virtuos zu durchschreiten vermochte, sondern auch glaubte, es wagen zu dürfen, Ideen zu entwickeln, die ihn sprengten. Letzteres wurde ihm zum Verhängnis, da die Ergebnisse dieser Ideenentwicklung den unantastbaren, christlich-dogmatischen Rahmen, innerhalb dem sich aristotelisch geprägte Wissenschaftlichkeit bewegen durfte und den sie begründen, rechtfertigen und damit festigen sollte, zu zerstören drohte. Nicht gedankliche Nachvollziehbarkeit und Plausibilität, sondern theologische Verwertbarkeit entschied letztlich über die Wahrheit wissenschaftlicher Aussagen und da die Theorie, die Bruno mit der UPE-Schrift vorlegte, um Antwort zu geben auf die Frage nach dem Ursprung und den Prinzipien der Welt, diesen von der Kirche festgesetzten Wahrheiten widersprach, konnte man ihn zu einem schlechten Wissenschaftler, respektive zu einem heterodoxen Aristoteliker stempeln.

Auf aristotelische Art Metaphysik zu treiben, sei es in der Antike oder in der Zeit der Renaissance, sei es heterodox oder orthodox, bedeutet, Seinsphilosophie (Ontologie) zu treiben. Seinsphilosophie ist eine von drei Perspektiven, die das philosophische Fragen einnehmen kann, wenn es nach den Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrungswirklichkeit als ganzer, also auch z.B. nach ihrem Ursprung und Grund fahndet.

Die beiden anderen Blickwinkel bzw. Hauptrichtungen des philosophischen Fragens, wie Arno Anzenbacher sie auch nennt, sind Geist- und Ichphilosophie. Raffael, Schöpfer der „Sixtinischen Madonna“ und vieler anderer Meisterwerke der Hochrenaissance, brachte die ersten zwei der genannten Hauptrichtungen des Philosophierens, Geist- und Seinsphilosophie, in und mit den Handgesten der beiden Zentralpersonen seiner „Schule von Athen“ zur Darstellung. Platons Hand zeigt nach oben und steht für die geistphilosophische Perspektive auf die Wirklichkeit. Sie transzendiert, übersteigt das Ganze der Erfahrungswirklichkeit und sucht nach einem Ideenhimmel oder einem Schöpfergott, um erklären zu können, wie die Erfahrungswirklichkeit möglich werden konnte. Aristoteles steht für einen grundsätzlich anderen Frageansatz. Raffael zeigt den Lehrer Alexanders mit einer Handbewegung, als wolle er Platon, seinem Lehrmeister bedeuten, er möge doch bitte auf dem Boden der Tatsachen bleiben und nicht in die Ferne schweifen. Das Geheimnis der Welt lässt sich auch in der Nähe ergründen, indem das Nachdenken sich mit dem befasst, was uns in der Erfahrung gegeben ist, bei den Dingen also verweilt, ihnen nachdenkt und sie nicht übersteigt. Damit ist nicht schon naturwissenschaftliche Forschung im neuzeitlichen Sinne gemeint, aber Aristoteles hat ihr mit der Seinsphilosophie die Blickrichtung gewiesen und sie auf diese Weise vorbereitet. Das seinsphilosophische Denken „setzt damit an“, sagt Arno Anzenbacher, „dass es von den Erscheinungen aus nach dem Sein fragt, das den Erscheinungen zugrunde liegt. Es fragt also nach den Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung im Nicht-Ich. Das Philosophieren ist hier also primär ontologisch orientiert (Ontologie = Lehre vom Seienden). Es fragt nach dem wahren Sein des Seienden und sucht das Seiende aus seinen letzten Seinsgründen zu verstehen“.44

Die dritte Hauptrichtung des Philosophierens konnte Raffael noch nicht kennen. Die Ich-, bzw. Subjektphilosophie trat erst mit Descartes und dann vor allem mit Kant ihren Siegeszug an. Ich-Philosophie ist Philosophie, die sich mit ihren Fragen nach den Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrungswirklichkeit an das „Ich“ wendet. Mit Blick auf die Frage nach der Subjektabhängigkeit bzw. den im Subjekt liegenden Bedingungen unserer Welterkenntnis hat Kant die zentrale Einsicht subjektivistischer Erkenntnistheorie wie folgt formuliert: Unser „Verstand aber ist ein gänzlich aktives Vermögen des Menschen; alle seine Vorstellungen und Begriffe sind bloß seine Geschöpfe, der Mensch denkt mit seinem Verstande ursprünglich, und schafft sich also seine Welt“45 Anders gesagt: Die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrungswirklichkeit liegen in uns selbst. Wir selbst erschaffen, was wir erleben. Was sich hinter dieser etwas anmaßend klingenden (Erkenntnis-)Theorie verbirgt, was sie meint und wie sie sich begründen lässt, kann an dieser Stelle nicht besprochen werden, vielleicht nur so viel: Raffael ins Heute versetzt, würde Kant sicherlich mit abbilden, müsste er ein Gemälde malen, das die berühmtesten Philosophen zeigt und vermutlich würde er ihn in die Bildmitte rücken, zu Platon und Aristoteles. Auch Kant, so könnte man sich denken, würde eine charakteristische Handbewegung ausführen: Als Dritter im Bunde derer, die maßgeblich für die Hauptrichtungen des Philosophierens stehen, würde er sich selbst mit der Hand an die Stirn tippen.

Dass der Blick nach innen, aufs Ich, der Subjektivismus also, viel älter ist als seine berühmte, kantische Variante, das wird die HL-Schrift belegen, mit ihr allerdings befassen wir uns erst im dritten Kapitel, zunächst wenden wir uns der UPE-Schrift zu, sie ist, weil sie eine wissenschaftlich metaphysische Schrift des zu Ende gehenden 16. Jahrhunderts ist und als solche auch gelten will, in ontologischer Perspektive und mit vielen Bezügen auf Aristoteles verfasst.

2. Ursache und Geheimnis der Welt:*Brunos Schrift „Über die Ursache, das Prinzip und das Eine“

Die Welt, die Bruno mit dieser Schrift in den Blick nimmt, ist die Welt all der Phänomene, die sich unseren Sinnen auf eine räumliche, zeitliche und körperhafte Weise darbieten. Es geht ihm um das Ganze der stofflich (materiellen) Wirklichkeit, um das, wovon heute viele Menschen sagen würden, es ist Aufgabe der Physik, das erste Prinzip und die erste Ursache dieses Ganzen zu ergründen. Bruno aber fahndet danach nicht mit physikalischen sondern mit ontologischen Mitteln. Dabei stellt er die natürlichen und nicht die von Menschenhand geschaffenen Dinge in den Fokus seiner Untersuchung. Die UPE-Schrift ist also in erster Linie Naturphilosophie und Kosmologie. Die Frage, die sich Bruno stellt, könnte man so formulieren: Was ist das, was sich unserer alltäglichen Erfahrung als naturgegebene, stoffliche Wirklichkeit zeigt, wie setzt sich diese Wirklichkeit zusammen, wie ist sie entstanden, was sind die Bedingung der Möglichkeit dieser Wirklichkeit, sowohl ihrer Teile als auch insofern sie sich als ein Ganzes denken lässt.

2.1. Substanzen und substanzielle Formen

Würde man ein kleines Kind fragen, wie die Welt sich zusammensetzt, so würde es vielleicht sagen: aus meiner Mama, meinem Papa, unserem Haus und Kurt dem Hund. Wäre das Kind ein wenig älter, könnte die Antwort lauten: aus Menschen, Häusern, Tieren.

Die aristotelische Antwort auf dieselbe Frage ist gar nicht so viel anders: Die aristotelischen Bausteine der Welt sind von unserem Erkenntnisvermögen erfassbare Einheiten, in die die Erscheinungswelt scheinbar aus sich heraus schon unterteilt, bzw. gegliedert ist, noch bevor wir weiter über diese Gliederung (z.B. wo sie herkommt und ob sie sich weiter zergliedern lässt usw.) nachdenken. Diese Einheiten existieren als konkrete und individuelle Einheiten, z.B. ein bestimmter konkreter Baum oder ein bestimmtes konkretes Haus; Aristoteles nennt sie „erste“ Substanzen. Sie sind, so könnte man sie in Abgrenzung zu den Weltbausteinen nennen, die die Kernphysik mit Hilfe aufwendiger Experimente detektiert, die ontologischen, d.h. von der seinsphilosophischen Reflexion erfassten, Atome der Welt.

Um diese ersten Substanzen zu ordnen, wie es das schon etwas ältere Kind im eben genannten Beispiel bereits vermochte, fasst man sie unter Begriffe zusammen, mit denen sich ihre Art bildenden Wesensmerkmale aussagen lassen. Aristoteles nennt diese vom Denken geleistete Begriffs- bzw. Erfassungseinheiten auch „zweite“ Substanzen. Arno Anzenbacher verdeutlicht den Zusammenhang zwischen erster und zweiter Substanz an einem Beispiel: „Zweite Substanz ist das Wesen der ersten Substanz, also die Art (Spezies), der die individuelle Substanz angehört. In ‚Peter ist eine Mensch‘ sage ich die zweite (Prädikat) von der ersten (Subjekt) aus.“46 Da die auf diese Weise geleistete Wesens- bzw. Arterfassung eines konkreten Seienden abhängt von dessen Gestalt bzw. seinem äußerem Aussehen (d.h. ein konkretes Seiendes, das aussieht und sich verhält wie ein Löwe, ist ein Löwe), sprechen die Aristoteliker bei den zweiten Substanzen auch von substanziellen Formen des Seienden und unterscheiden sie von akzidentiellen Formen, mit denen sich die nicht wesentlichen, bzw. nicht Art bildenden, sondern die unwesentlichen bzw. zufälligen Eigenschaften eines Seienden bezeichnen lassen.

Darüber, dass es diese zweiten Substanzen bzw. substantiellen Formen (z.B. die Form, die das Wesen eines Hundes, d.h. sein Hund-Sein ausmacht, die sogenannte „Hundheit“ jedes konkreten Hundes) irgendwie „gibt“, dass es nicht nur Aussage- bzw. Bezeichnungsweise, sondern auch Wirklichkeitsmomente sind, die die Konstitution einer ersten Substanz mit bewirken, war sich die antike und mittelalterliche Philosophie mehrheitlich einig. Wie man sich den Beitrag substanzieller Formen zur Entstehung einer konkreten Substanz vorzustellen hat, wie viele Formen es gibt und „woher“ sie kommen, ob ein Gott sie bereithält usw. darüber – und nicht nur darüber – wird Bruno mit den Theologen und Philosophen seiner Zeit in Streit geraten.

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