Der andere könnte auch recht haben

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Der andere könnte auch recht haben
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Inhaltsverzeichnis

Impressum 2

Vorwort 3

1. Allgemeine Darstellung 7

2. Die historische Dimension 18

3. Die religiöse Dimension in ihrer gesellschaftlichen Funktion 20

4. Individuum und Gesellschaft 28

5. Die Aufklärung 31

6. Wissenschaft und Technik 40

7. Die Fähigkeit zur Abstraktion 43

8. Gedanken über Perspektiven 61

9. Das demokratische Paradigma 65

10. Expansionismus als zentrales Problem 98

11. Ein Problem der Philosophie 109

12. Hierarchie und Demokratie 133

13. Demokratie in Gefahr 139

14. Die aktuelle Herausforderung 148

15. Ein Gedanke zum Schluss 166

Danksagung 174

Literatur 177

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2022 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-99131-039-6

ISBN e-book: 978-3-99131-040-2

Lektorat: Leon Haußmann

Umschlagfoto: Onle1984, Robyn Mackenzie | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

Vorwort

Die Schweiz gibt in einer Generalklausel ihrer Armee den Auftrag, zur Verhinderung von Kriegen und zur Erhaltung des Friedens beizutragen. Da die Demokratie die Idee eines Friedenskonzepts in sich trägt, gilt dieser Auftrag sinngemäß wohl für alle Streitkräfte demokratischer Staaten. Dieses Ziel scheint weder in der Schweiz noch sonst wo zufriedenstellend gelöst zu sein – die Weltgesellschaft steckt tief in einer selbstverschuldeten Sackgasse; so lasse ich mich mit diesem Text auf das Thema ein, warum nicht nur Diktaturen, sondern auch Demokratien dem Ideal einer friedlichen Entwicklung nicht recht gewachsen sind.

Von den 41 Jahren, die ich mit dem österreichischen Bundesheer beruflich verbunden gewesen bin, war ich die kleinere Hälfte beim Heerespsychologischen Dienst mit Meinungserhebungen und den größeren Teil der Zeit an der Landesverteidigungsakademie im Bereich der Sozialwissenschaftlichen Forschung aktiv.

Im weiten Spektrum von Sicherheitspolitik bis zur Pädagogik ist mir die Ungerechtigkeit vieler Menschen dem Bundesheer gegenüber aufgefallen; wegen seines natürlich militärischen Erscheinungsbildes steht es häufig in der gleichen Kritik, die in den demokratischen Staaten dem Krieg gilt. Zwei Weltkriege, in denen die Österreicher auf der Verliererseite standen, hatten in der Einstellung einen Paradigmenwechsel eingeleitet, aber ihn nicht auch emotional und rational vollzogen.

Das Bundesheer ist dem Frieden verpflichtet – und darauf passen viele auf; der Kampf an der Wirtschaftsfront wird so wie weltweit auch in Österreich mit wenig Rücksicht auf die Bedingungen, die für Frieden notwendig sind, geführt und zu wenige haben das bemerkt. Der ökologische Grundsatz „global denken – regional handeln“ ist nicht zur Anwendung gekommen.

Einer der Gründe, warum es so schwer ist, der Gerechtigkeit zum Durchbruch zu verhelfen, liegt in der verbreiteten Dominanz des Sehens vor dem Denken – das Bild eines Marktes ist optisch friedvoller als das Bild eines Panzers. Da ich meiner Blindheit eine Sonderperspektive verdanke, kann ich einer Täuschung, die das Sehen bei vielen Menschen erzeugt, leichter entgehen und kann dem aktuellen Weltmarkt eher die kriegsträchtige Wirkung ansehen, deren Darstellung einen Teil dieses Textes ausmacht. Die Wahrnehmung mit der Dominanz des Sehens und eine mit der Dominanz des Hörens schafft andere „Bilder“ – es lohnt sich, sie abzugleichen.

So beschäftige ich mich mit dem Problem der Wahrnehmung; hier beziehe ich mich auf die Ergebnisse der modernen Gehirnforschung und auf meine Erfahrungen mit dem Yoga; diese beiden sind zwei verschiedene, aber miteinander kompatible Erkenntnistechniken. Auf Grund meiner Beschäftigung mit Yoga in Theorie und Praxis versuche ich diese Erfahrung einzubringen. Indem der Aspirant seine Aufmerksamkeit auf die wahrnehmbaren Funktionen des Gehirns richtet, sucht er seine Sensibilität und damit seine Resilienz zu stärken.

Eine Demokratie wird in einer Verfassung beschrieben; die juridische Dimension schafft sie aber nicht. Sie entsteht und lebt aus dem Umgang der Menschen miteinander, hat also auch eine sozialwissenschaftliche Dimension. Neben meiner Arbeit im Heerespsychologischen Dienst studierte ich Rechtswissenschaften und konnte mich so in beide Denkweisen einleben. Demokratisches Bewusstsein ist gegeben, wenn die Menschen neben dem Anspruch auf Freiheit auch die Bereitschaft zur Verantwortung für andere haben. Ein hierarchisches System weist das Recht auf Herrschaft und die Pflicht zum Gehorsam verschiedenen Gruppen zu.

Weil die Entwicklung der christlichen Kirche gut dokumentiert ist, lassen sich an ihrem Beispiel die zwei entsprechenden Formen des Umgangs der Menschen miteinander deutlich zeigen: zum einen ist es der brüderliche Umgang, der der Demokratie entspricht; zum anderen ist es der patriarchalische, der einem autoritären Herrschaftssystem zuzurechnen ist. Der innerkirchliche Konflikt zwischen Herrschafts- und Befreiungstheologie ist noch im Gang; und in jeder Gesellschaft gibt es diese beiden Mentalitäten auch, wenn auch in unterschiedlichen Quantitäten.

Ein aktuelles Problem der Gesellschaftswissenschaft ist die Tatsache, dass in der liberalen Wirtschaftstheorie der Wirtschaftsprozess weitgehend unabhängig von der gesellschaftlichen Wirklichkeit außerhalb dieses Spektrums betrachtet wird. Beim Kampf des Kapitalismus gegen den Kommunismus ist der Kommunismus zwar vom Kapitalismus besiegt worden; der Wettbewerb zwischen den beiden Wirtschaftsformen hat aber blind gemacht für die mangelnde Verträglichkeit der modernen Wirtschaft an sich. Diese wird nun wegen der Globalisierung gerade durch den Corona-Virus herausgefordert; die Natur bringt sich als ökologischer Faktor ins Spiel. Der Ausgang ist offen.

Vor der gegenwärtigen Krise ging es vor allem um Wettbewerb, heute geht es um Solidarität. Worum wird es nach der Krise gehen? Wenn man aus der Erfahrung lernen will, wird die Krise eine Neuorganisation des gesellschaftlichen Lebens hervorbringen, die nicht nur die wirtschaftliche, sondern auch die ökologische und die militärische Sicherheitspolitik betreffen wird.

Mit dem Hinweis auf den demokratischen Grundsatz, der andere könnte auch recht haben, stelle ich im folgenden Text meine Meinung zur Disposition und räume ein, dass die Leser die Wirklichkeit genauer sehen und besser interpretieren mögen.

1. Allgemeine Darstellung

Das, was heute unter Demokratie verstanden wird, beruht auf der Entwicklung des 18. Jahrhunderts in Frankreich. Die Revolution 1789 agierte unter den Gedanken von „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“; das ist heute der Wahlspruch Frankreichs. Davon erfreut sich der Grundwert Freiheit größter Beliebtheit; Gleichheit als Verzicht von Präpotenz und von Missbrauch der Macht durch die Träger öffentlicher oder privater Machtfunktionen wird vollinhaltlich akzeptiert, wenn auch nicht immer vollzogen. Ein Problem allerdings gibt es noch mit der Brüderlichkeit, die heute wegen der Stellung der Frauen besser Solidarität genannt werden sollte.

Dies zeigt sich beispielsweise daran, dass etwa die in Österreich bisher für die Sozialordnung zuständigen Parteien Probleme mit der Einführung notwendiger ökologischer Maßnahmen (etwa CO2-Steuern) haben, weil sie den unteren und untersten Einkommensbeziehern wegen der Arbeitswege nicht zumutbar seien. Die bisherige Solidarität zeigt sich also als nicht ausreichend, um zukünftigen Schaden zu verhindern; damit würde die Demokratie an ihrer Imperfektion scheitern. Für die Handlungsfähigkeit einer Demokratie ist ein breiter Mittelstand von gut gebildeten Bürgern günstig; Demokratie ist ein Kulturgut und nicht einfach zu haben. Im Unterschied zur Armut, die naturgemäß vor allem nur die Armen trifft, bedroht der Corona-Virus alle – so wird die verbreitete Hinwendung zur Solidarität verständlich. Ob sie über die Lebenszeit des Virus hinaus überlebensfähig bleibt, wird sich weisen.

 

Der soziale Ausgleich stand wohl auch im Fokus der Gründungsidee der modernen Demokratie, denn sie richtete sich gegen die strukturelle Ungleichheit in der Gesellschaft unter der Adelsherrschaft und der sie unterstützenden Kirche – beide Gruppen waren wohlhabend und steuerfrei. In einer Hungersnot – ein Vulkanausbruch in Island hatte auch in Frankreich eine kurze Eiszeit mit Missernten ausgelöst – verkaufte der König Getreide nach England und zeigte damit, dass er sich für sein Volk nicht verantwortlich fühlte.

Aufgrund dieses beispielhaft gezeigten Solidaritätsmangels des Feudalismus ist es sukzessive zur Bildung von Demokratien gekommen. Zu dieser Gesellschaftsentwicklung trug die Kapitalismusidee wesentlich bei; doch mittlerweile tritt der Kapitalismus in die Fußstapfen des Feudalismus, was damals noch nicht absehbar war. Das Markenzeichen des Feudalismus ist die freie Vererbbarkeit des Kapitals; die Demokratie ist gefordert.

Die Fähigkeit, gesellschaftliche Probleme wie etwa das ökologische zu lösen, hängt wesentlich von den gesellschaftlichen Bedingungen ab. Für einen kleinen Staat wie Österreich, dessen Bevölkerung nur ein Promille der Weltbevölkerung ausmacht und dessen Regierung nur eine geringe Wirkkraft aufzubieten hat, ergibt sich die Frage nach der Sinnhaftigkeit eines Lösungsversuchs; nach innen traut sie sich offensichtlich nicht und nach außen kann sie politisch kaum wirken.

Wie kann man sowohl die Mittelschicht zum Energiesparen zwingen als auch die Reichen und hyperreichen JetSet-Konsumenten in ein solches Programm bringen. Die untersten Einkommen tragen wenig zum CO2-Ausstoß bei. Wie teuer müsste Energie sein, dass auch Warren Buffett mit seinem Vermögen von 83 Milliarden Dollar oder die beiden privaten Weltraumfahrer Richard Branson und Jeff Bezos energiesparend leben müssten?!

Wenn auch nur einer der drei Aspekte der Demokratie, in diesem Fall die Brüderlichkeit, fehlt, ist sowohl das System als auch die Gesellschaft gefährdet. Der amerikanische Traum, vom Tellerwäscher zu Millionär zu werden, hat ausgedient, ein gutes Beispiel für die Gesellschaft zu sein.

Kann sich eine Demokratie einen vernünftigen und vertretbaren Umgang mit Energie verordnen? Als die fortschrittlichen Staaten in die Technisierung (Mitte 19. Jh.) und später in die Übertechnisierung (Mitte 20. Jh.) eintraten, beachteten sie ihre Vorbildwirkung nicht; in ein paar wenigen Staaten könnten die Menschen „wie Gott in Frankreich“ leben; aber für alle werden die Ressourcen knapp. Die Vorbildwirkung, die man anfangs und bisher außer Acht gelassen hat, wird nun ein wichtiges Überlebensmittel. Irgendwer muss anfangen und vernünftig werden – und warum nicht gerade auch wir Österreicher, die wir früher mit anderen Völkern Vorreiter in die Technisierung waren?

In den ersten hundert Jahren nach dem Ursprungsereignis der modernen Demokratie gab es in Europa nur Teilerfolge; auch bisher zeigt sich die Entwicklung als mühsam. Immerhin sind im Rahmen der Aufklärung, die der Revolution Pate stand, die Leibeigenschaft als die christlich modifizierte Form von Sklaverei in West-, Süd- und Mitteleuropa und auch die harte Sklaverei in der Welt weitgehend abgeschafft worden. Die Menschenrechte kamen zum Tragen, das aktive und das passive Wahlrecht als das Kernstück der Demokratie ließen auf sich warten.

Nach europäischem Verständnis gilt das antike Griechenland als die Wiege der Demokratie. Zum einen entsprachen ihre Demokratien nicht dem heutigen Ansatz; nur ein kleiner Teil der Bevölkerung nahm an ihr Teil – nur die männlichen Bürger einer Stadt, nicht die Frauen und die Bewohner des Umlandes, die am Wirtschaftsprozess teilhatten und jedenfalls auch nicht die Sklaven. Aber das war nur ein organisatorisches Problem; diese „unvereinten“ Stadtdemokratien standen häufig miteinander im Konflikt und scheiterten an ihrer Unfähigkeit, der Macht der Römer, die ihr Reich als Flächenstaat organisiert hatten, Widerstand entgegenzusetzen.

In der Vor- und Frühzeit konnten kleine Gemeinschaften demokratisch oder autoritär geführt werden; große Gemeinschaften bedurften offensichtlich aus organisatorischen Gründen einer autoritären Führung. Das Römerreich hatte mit dem Senat zwar einen demokratischen Ansatz; dieser war aber räumlich und zeitlich minimal; für eine demokratische Führung reichten die gegebenen Möglichkeiten nicht aus. Großbritannien und die USA zeigten allerdings, dass Demokratien möglich sind, wenn auch der Nachrichtentransport im Pferdetrab abläuft. Weil der Kandidat für die politische Vertretung dem Volk nicht bekannt ist, kann sich die Demokratie mit Wahlmännern helfen und sich als repräsentative Demokratie einrichten.

Das Römerreich sowie die anderen Imperien wurden autoritär geführt – Imperien werden gleichsam als eine Art Eigentum des Herrschers gesehen – seien es Könige, Diktatoren oder Politbüros – und die Menschen werden nur als dessen Bewohner betrachtet. Aus dieser Idee heraus kann Das Land schrumpfen und Wachsen; der Herrscher kann aus diesem Selbstverständnis Länder oder Landesteile erobern, erben, kaufen oder verkaufen. über das alte Österreich sagt Grillparzer (in König Ottokar/Glück und Ende): „Es ist ein gutes Land, wohl wert, dass sich ein Fürst sein unterwinde“.

Und wenn der letzte Präsident der USA Donald Trump unlängst den Dänen Grönland abkaufen wollte, so bedeutet das fürs Erste nur eine individuelle Fehlhaltung und noch keinen Systemwechsel im Land. Natürlich aber können die USA sowohl aufgrund ihrer militärischen als auch ihrer wirtschaftlichen Stärke Einfluss weit über ihre Grenzen hinaus ausüben. Manche werfen den USA imperialistische Tendenzen vor: aber ob der Satz „Macht zeigt den Charakter“ oder der Satz „Macht verdirbt den Charakter“ eher stimmt, lässt sich nicht leicht sagen. Jedenfalls tun sich Staaten, die kaum eine oder keine Macht haben, leichter, dem Prinzip der Gewaltlosigkeit gerecht zu werden.

Die Reichsidee baut auf eine Führungsspitze – eine oder wenige Personen, die mit einer Stimme den Willen des Volkes vorgibt und durchsetzen kann; diese Idee meint eine Diktatur, die ein Kollektiv beherrscht. Die moderne Demokratie ist hingegen der Ausfluss des Volkswillens, der durch gewählte Repräsentanten vertreten wird. Hier handelt es sich um Individuen, die sich in einem Staat zu einem Volk verbinden. Dieser theoretische Ansatz vollzieht sich natürlich nicht immer störungsfrei.

In der Aufklärung zur Zeit der großen Revolution in Frankreich (1789) entstand neben der Idee der Menschenrechte auch die Idee des Staates; die Bürger eines bestimmten Landes bilden als Nation einen Staat, der sich quasi auf einen Sozialvertrag gründet. Die damaligen Bürger Frankreichs, die von Adel und Kirche schamlos ausgebeutet worden waren, wollten sich von der europäischen Adelsmafia befreien. Die Adelshäuser bildeten eine Art Obrigkeitsgemeinschaft im Interesse der gegenseitigen Stützung der Macht. Sie war eigentlich eine Friedensordnung, die allerdings die Führung kleinerer Kriege aus Konditions- und Disziplinierungsgründen nicht ausschloss. diese Strategie scheiterte allerdings mit dem Ersten Weltkrieg, indem die Herrscher ihre eigenen Interessen vernachlässigten und den Nationalismen der Völker hineinfielen.

Die Idee des Nationalstaates, die der Demokratie entspricht und sich nach dem Ersten Weltkrieg verwirklicht hat, sollte die fortdauernde Praxis der Eroberungs- und Unterdrückungskriege ablösen; Hitler-Deutschland ist auf die Reichsidee zurückgefallen und auch anderswo ist der Versuch der Demokratisierung bisher noch nicht ganz gelungen. Eine Demokratie muss auf der Gesinnung der Bürger beruhen, aus der die Fähigkeit der Menschen, mit Pluralismus sinnvoll und möglichst erfolgreich umzugehen, folgen sollte. Auf dem Pol des Pluralismus einerseits, den die Demokratie vorgibt, und dem des Monismus, der der Reichsidee entspricht, und konkret im Raum dazwischen spielt sich de facto die Politik ab.

In der Durchsetzung eines Willens ist die Demokratie schwächer, weil sie häufig über die Meinungsvielfalt stolpert; eine Diktatur ist durch eine Meinungsvielfalt jedenfalls weniger behindert. Die Neigung zu einer totalitären oder zu einer demokratischen Gesinnung wird schon in der frühen kindlichen Erziehung angelegt; der Wunsch nach und die Fähigkeit zur Demokratie stellt sich aber auch in formalen Demokratien nicht immer ein.

Zitat aus Wikipedia: Erich Fromm (1900 bis 1980):

„Der Mensch hat nicht nur physische, sondern auch psychische Grundbedürfnisse, die in seiner Existenz wurzeln.

Hieraus ergibt sich, dass für die psychische Gesundheit des Menschen universelle Kriterien gelten, die vom gesellschaftlichen System entweder gefördert oder unterdrückt werden können. Zwar kann der Mensch tatsächlich unter vielerlei Bedingungen leben, doch wenn sie seiner menschlichen Natur zuwiderlaufen, reagiert er darauf, indem er die bestehenden Verhältnisse entweder ändert oder seinen vernunftbedingten menschlichen Fähigkeiten entsagt, also sozusagen abstumpft.“

(Ende des Zitats)

Die Demokratie sollte den materiellen wie immateriellen Bedürfnissen der Bürger in ihrer Eigenverantwortung entsprechen. Sie ist die beste, aber schwierigste Form des Zusammenlebens und ist auf eine möglichst optimale Erziehung der Bürger angewiesen. Das Kind lernt mit und von den Haupt- oder seinen Nebenerziehern seine Empfindungen bestenfalls genau zu interpretieren, sodass es im guten Fall als Erwachsener gelernt haben wird, seine Gedanken und seine Gefühle richtig zu interpretieren: Schmerz ist schmerzlich, Freude ist freudig etc. Abweichende Interpretation („ein Indianer kennt keinen Schmerz“ – oder übertriebenes Bedauern wegen Kleinigkeiten) führen späterhin zur Verwirrung.

Wenn die Mutter die Empfindungen des Kindes (Schmerz, Ärger, Hunger, Freude usw.) trifft und gut anspricht, so hat das Kind einen Startvorteil fürs Leben. Es ist immerhin erstaunlich, dass einem Kind bei der Erlernung seiner Kultur auch bei der Wahrnehmung und vor allem der Deutung der Gefühle geholfen werden muss, damit späterhin der Umgang mit den Gefühlen unter Einbindung der Rationalität vernünftig vollzogen werden kann.

Das Kind hat einen Bedarf für eine kooperative Begleitung, die zu einer Demokratiefähigkeit führt; eine autoritäre Erziehung führt zur Diktatur, eine Laissez-faire-Erziehung führt zuerst zum Chaos und damit häufig letztlich auch zur Diktatur, weil Chaos noch schlimmer ist als diese. Die Art und die Stärke des Gestaltungsdrucks machen den Unterschied aus.

So, wie sich die Demokratie im Wechselspiel von Familie zum Staat und wieder zur Familie reproduziert, tendiert auch die Diktatur dazu, sich zu erneuern. Weil das entsprechende Erziehungssystem nicht den Willen aller brechen kann und sie so zu Untertanen macht, so stehen die, an denen das nicht gelungen ist, dem System als potentielle Tyrannen zur Verfügung. Die Bereitschaft, Führung zu übernehmen, muss auch in der Demokratie vorhanden sein; Menschen, die eine Führungsrolle unbedingt anstreben, können aber auch eine Demokratie in eine Diktatur verwandeln. Demokratie ist eine kulturelle Leistung, die bei mangelhafter Achtsamkeit leicht durch eine Diktatur überwuchert werden kann.

Bei einer mangelhaften Entwicklung der Sensibilität und der Deutung dieser Fähigkeit kann etwa der Psychoanalytiker dieses emotionale Dilemma mit der Frage „Wie geht es Ihnen wirklich?“ zu korrigieren suchen; um die Seele gesund zu machen, hat die Beichte Konkurrenz bekommen. Auch die Literatur mit ihren Empfindungsmustern hilft dem Erwachsenen, seine Gefühlswelt in Ordnung zu bringen und damit eine Verbesserung seiner Wahrnehmungs- und Entscheidungsfähigkeit einzuleiten. Dazu gehört die Wahrnehmung der Gefühle der Mitmenschen als Empathie und deren richtige Deutung als soziale Intelligenz.

Ein häufiger Fehler besteht darin, dass sich die Menschen oft eher als Beobachter der Umwelt und nicht als Mitspieler fühlen. Damit können sie sich der Verantwortung entziehen, können ihr aber auch nicht gerecht werden. In einem Stauraum vor einer Engstelle in einer Straße in Berlin fand sich einmal eine Tafel: „Schimpf nicht auf den Stau, du bist der Stau!“.

Aufgrund der Einflussnahme in der frühen Kindheit wird die spätere Haltung geprägt; das zeigt sich auch in der Stressbewältigung. In einer unmenschlichen Umwelt kann sich der Mensch seine Überlebensfähigkeit durch Abstumpfung allenfalls besser erhalten; Abstumpfung entwickelt sich durch willkürliche, undurchschaubare Erziehung. In einer sensiblen menschlichen Umwelt wird sich der Mensch durch und der Gesellschaft mit Sensibilität leichter tun. In einer harten Gesellschaft ist Sensibilität gefährlich; aber auch in einer solchen ist sie gesellschaftlich nützlich, wenn sie auch schwerer aufrechtzuerhalten ist. Durchschaubarkeit der Erziehung führt zur Demokratie; und Rechtssicherheit ist ein konstituierender Faktor für die Demokratie. Wären die deutschen Soldaten im Zweiten Weltkrieg nicht so abgestumpft gewesen, hätten Sie den Krieg nicht so lange durchgehalten; wären hingegen ihre Offiziere von Anfang an sensibler gewesen, hätten sie den Deutschen und der Welt diesen Krieg ersparen können.

 

Diktatur braucht Abstumpfung, Demokratie Sensibilität. Aus dieser These folgt auch die Erklärung der Tatsache, warum ein Ausstieg aus einer diktatorischen Gesellschaftsordnung und ein Umstieg in ein demokratisches System so schwierig sind und so langsam ablaufen. Eine Demokratie entsteht nicht nur durch eine Entscheidung, sondern vor allem durch die Bildung der psychischen Voraussetzungen, was mehrere Generationen dauern kann.

Demokratisch gesinnte Führer werden versuchen, ein autoritär gebildetes Volk in eine Demokratie zu führen; ein solches Volk oder solche Bevölkerungsanteile aber werden einem autoritären Führer freiwillig hineinfallen. Dies zeigt die langsame Demokratisierung einiger osteuropäischer Staaten.

In Österreich hat der Umbau von der Leibeigenschaft zur gelingenden Demokratie vom Ende des 18. Jahrhunderts bis 1945 gebraucht. Die erste Republik war nur formal demokratisch und nicht dem Geiste nach; der Kampf ums tägliche Brot entzweite die Bevölkerung.

In Russland etwa besteht die Diktatur und die ihr zugehörige Abstumpfung nach wie vor als individuelle und gesellschaftliche Wirklichkeit; individuelle Bemühungen sind nicht wirksam geworden; Bemühungen von oben nach unten wie Glasnost und Perestroika gab es wenige. Selbst der Kommunismus, der von Marx als eine humanistische Idee gedacht war, wurde von Stalin im Geiste der Inquisition und des zaristischen Systems – also totalitär – durchgezogen. Stalin hat Marx so missbraucht wie die Inquisition die Christuslehre. Durch Abstumpfung lässt sich eine Herrschaft fürs erste erhalten; jedenfalls fördern Diktaturen nur selten die Entstehung von Demokratien, die auf Sensibilität angewiesen sind. Es bleibt zu hoffen, dass jene Staaten, die noch nicht so weit sind, nicht so lange für die Demokratisierung brauchen wie wir.

Aber sind nun die aktuellen Demokratien sensibel genug, die anstehenden Probleme auf der Welt wahrzunehmen und stark genug, um sie zu lösen? Meine hier vertretene These, Demokratien würden demokratie-affine Bürger hervorbringen und Despotien autoritäts-affine Untertanen, halte ich für grundsätzlich richtig, wenn sich die Entwicklung in der Wirklichkeit auch nicht immer so ereignet. Es spielen auch andere Faktoren eine Rolle. Eine traditionelle Demokratie wie die in Großbritannien fällt wegen des Mangels an Kooperationsfähigkeit im Fall des Brexit auf. Vielleicht kann man sich das so erklären, dass zu viele ihrer Abgeordneten durch eine emotionale Wohlstandsverwahrlosung die für eine Demokratie notwendigen Fähigkeiten nicht erlernt haben.