Das verborgene Netzwerk der Macht

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Wenn die systemischen Prinzipien nicht befolgt werden, die Unternehmen reibungslos funktionieren lassen, können Probleme entstehen. Würde man einen Formel 1-Rennwagen mit Diesel betanken, wären selbst für den besten Fahrer aus der Poleposition die Siegeschancen gleich null. Er scheiterte nicht an seinem Können, sondern an den notwendigen Folgen einer Übertretung technischer Gesetze.

Systemgesetze sind einfach und sinnvoll

Bei Naturgesetzen und Systemgesetzen gilt, wie in manchen Strafgesetzbüchern auch, dass Unwissenheit nicht vor Strafe schützt. Nun wissen wir zwar alle über den richtigen Kraftstoff für unser Fahrzeug Bescheid, betanken aber die eigene biologische Hochleistungsmaschine, unseren Körper, oft nicht mit Super, sondern mit Diesel. Natürlich wissen wir, wenn wir unsere kleinen Ernährungssünden begehen, um die kombinierte Wirkung von Cholesterin, Stress und Bewegungsmangel. Wissen allein genügt aber offensichtlich nicht, um zielführend zu handeln. Wir lernen folglich entweder durch Einsicht oder durch Leiden. Wenn die Einsicht nicht zu Konsequenzen führt, lässt uns spätestens die Konfrontation mit akuten Folgen anhalten und nach Lösungen suchen.

1.2 Das Gewissen als systemischer Kompass

Beim einzelnen Menschen wie in Organisationen führt eine besondere Kraft zum Ziel oder auf Abwege: das Gewissen. So, wie wir es hier verstehen, hat es mit moralischen Prinzipien oder hehren Idealen wenig zu tun. Vielmehr handelt es sich um eine Art Kompass, der uns sagt, ob wir uns auf dem richtigen Kurs befinden. Mit unserem systemischen Gewissen verfügen wir über eine Art sozialen Orientierungssinn, der uns nicht über »gut« und »böse« im moralischen Sinne informiert, sondern darüber, ob wir uns in unserem Umfeld auf dem richtigen Kurs befinden.*

Das Gewissen zeigt uns, wo es langgeht – völlig moralinfrei

Dieser innere Kompass zeigt ganz sachlich und amoralisch stets genau nach Norden. Was aber »Norden« ist, wo es also entlanggeht in einem Unternehmenssystem, kann sich von anderen, ähnlichen Systemen radikal unterscheiden. In einem traditionsreichen, mittelständischen deutschen Familienunternehmen können z. B. Pünktlichkeit, Genauigkeit und engagierte Leistungsbereitschaft im »Norden« liegen, also die gemeinsame Orientierung für alle Systemmitglieder darstellen. Werte wie Pünktlichkeit und Genauigkeit, dazu Normen wie freiwillige, unbezahlte Mehrarbeit geben in diesem System das »Was« und das »Wie« an. Also: »Was wollen wir erreichen? Exakt gefertigte Produkte pünktlich an den Kunden ausliefern. Wie wollen wir es erreichen? Mit hohem individuellen Einsatz.«

Ob nun extrem hoher Einsatz auch effektiv ist und wirtschaftlichen Erfolg bringt, ist zumindestens fraglich. Aber darum geht es nicht. Denn »Effektivität« liegt nicht im »Norden« dieses Unternehmens. Keine Frage also, dass alle Unternehmensangehörigen, vom jüngsten Azubi bis zum Chef, auf systemeigene Weise »eingenordet« sind. Jedes Mitglied dieses Systems hat ein gutes Gewissen, wenn es voll engagiert in den Abend und ins Wochenende hinein arbeitet, und ein schlechtes, wenn es sich einmal eine längere Pause gönnt. So weit durchaus nichts Ungewöhnliches, denn die beschriebene Orientierung ist bei uns gesellschaftlich, also in einem größeren systemischen Zusammenhang, akzeptiert und sehr verbreitet.

Die amoralische (nicht unmoralische) Qualität des systemischen Gewissens wird deutlich, wenn wir uns jetzt im Kontrast zu obigem Beispiel einer Mafiaorganisation zuwenden. Dieses Gewissen arbeitet keinen Deut anders. Ein Angehöriger dieser kriminellen Vereinigung hat ein völlig reines Gewissen, wenn er beispielsweise von den Restaurantbesitzern seines Reviers ein hohes Schutzgeld erpresst. Sowohl das »Was« als auch das »Wie« liegen exakt im »Norden« seines Systems. Er wird von seinen Kollegen und Vorgesetzten neben seinem Anteil ein anerkennendes Schulterklopfen ernten, das ihm sagt: »Du machst es richtig. Du gehörst zu uns!«

Dazugehören – koste es, was es wolle

Zugehörigkeit zum eigenen System bedeutet Überleben. Dieses Erbe bringen wir aus dem Tierreich mit, dessen verschiedene Evolutionsstadien in unseren Verhaltensprogrammen gespeichert sind. Für unsere nächsten Verwandten, die Säugetiere, ist die Zugehörigkeit zum Rudel oder zur Herde lebensentscheidend. Das verirrte Schaf ist ebenso verloren wie der ausgestoßene Junglöwe.

Da wir die denkbar stärkste Motivation besitzen, zu unserem jeweiligen sozialen System zu gehören, ist es enorm schwierig, kontraproduktives Verhalten, das im gesamten Unternehmen auftritt, zu verändern!

Wenn z. B. hochwertige, präzise mechanische Fertigung im Gegensatz zur gefragten Schnelligkeit und Kostengünstigkeit steht, gibt es Probleme. Was nützen perfekte, hochwertige Produkte, wenn niemand sie kauft, weil der Kunde mit schnell lieferbarer und zudem billigerer Elektronik sein Ziel auch erreicht? Es wäre höchste Zeit zur Umorientierung! Dazu müssten die Unternehmensführer und Mitarbeiter jedoch gegen ihr systemisches Gewissen verstoßen.

Beispiel Maschinenbau

Die Krise des deutschen Maschinenbaus hat in den vergangenen Jahrzehnten gezeigt, dass sie genau das nicht tun, selbst wenn der Untergang die unausweichliche Folge ist. Lieber zahlen Mitglieder eines zwischenmenschlichen Systems diesen Preis, als gegen ihr systemisches Gewissen zu verstoßen. Verstärkt wurde diese Haltung im deutschen Maschinenbau mit einer in den Jahren des Erfolgs aufgebauten überheblichen Überzeugung, dass gute deutsche Wertarbeit durch Elektronik nicht zu ersetzen sei – schon gar nicht durch asiatische. Wäre zu Beginn der Maschinenbaukrise eine systemische Simulation mittels Aufstellung erfolgt, hätte man sehen können, welche Wirkung die Einstellung der deutschen Industrie zu elektronischen Neuerungen und zur asiatischen Konkurrenz auslösen musste. Ein klarer Blick auf zukünftige Folgen hätte rechtzeitiges Gegensteuern ermöglicht.

1.3 Die verborgenen Führungsleitlinien

Systemgesetze wirken im Verborgenen

Wer oder was bestimmt eigentlich Ihre Unternehmensstrategien? Betriebswirtschaftliche Berechnungen allein sind es wohl kaum. Im letzten Jahrzehnt haben wir einen Boom von »weichen« Faktoren erlebt. Corporate Identity, Unternehmensphilosophie und Visionsentwicklung sind in aller Munde. Aus den USA importieren wir jetzt den Trend, im »Humankapital« den eigentlichen betriebswirtschaftlichen Engpass zu erkennen. Wie auch immer Sie Ihre Ziele definieren und Ihre Strategien ableiten: Ihr Unternehmen arbeitet nicht nur nach selbst gestellten Aufgaben und Zielen. Es ist auch von unsichtbaren Gesetzen bestimmt, die im Verborgenen äußerst kraftvoll wirken – zum Guten wie zum Schlechten.

Weil sie im Verborgenen wirken, sind diese Gesetze den Menschen in Unternehmen meist nicht bewusst. Wie spüren Sie dann ihre Wirkung? Nun, woran merken Sie, dass Sie, beispielsweise auf einer Silvesterfeier, bestimmte biologische Gesetze Ihres eigenen Körpers übertreten haben? An einer Kater-Rückmeldung am Neujahrsmorgen! Wenn Sie die biologischen Grenzen und Gesetze respektieren, fühlen Sie sich wohl in Ihrer Haut. Ebenso fühlen Sie sich als Mitglied eines zwischenmenschlichen Systems unterstützt und gestärkt, wenn Sie dessen Gesetze einhalten, aber persönlich geschwächt, wenn Sie sie missachten.

Im Unternehmen sind typische Symptome für die Missachtung von Systemgesetzen plötzlich kündigende Mitarbeiter und Kunden, interne Machtkämpfe, Sabotage, massive Umsatzeinbrüche oder lähmende Stagnation.

Ohne systemische Einbindung steht Sanierung auf schwachen Füßen

Diese Alarmzeichen werden bisher meist missdeutet. Was tun Unternehmensführer, wenn es hakt und bremst, wenn Motivation, Marktanteile und Umsätze sinken und die Fluktuation steigt? Sie rufen nach Sanierern und Kostendrückern! Doch deren Erfolg ist fraglich – wie manche »Star«-Sanierer öffentlich bewiesen haben. Denn erstens sind nicht alle Probleme durch Controlling in den Griff zu bekommen. Und zweitens verschlimmern viele Sanierer trotz bester Absichten in Unkenntnis ihrer systemischen Wirkung die Situation. Das System reagiert wie auf Eindringlinge und verbraucht so kontraproduktiv seine letzten Kräfte. Ähnlich einem menschlichen Immunsystem wehrt es sich mit Warnsymptomen gegen den Angriff.

Menschliche Systeme – Familien ebenso wie Unternehmen und Organisationen – wollen überleben und schützen deshalb sich und ihre Mitglieder gegen Angriffe von außen. Wird eines ihrer systemerhaltenden Prinzipien massiv verletzt, folgen daher unbewusste Ausgleichsbewegungen mit unkontrollierbaren Wirkungen. Woran liegt das?

Ein Unternehmen funktioniert wie ein Netzwerk aus Menschen, Informationen und Technologien und ist mit anderen Netzwerken (Kunden, Markt) eng verbunden. Jede Handlung hat eine Auswirkung auf alle Beteiligten. Deshalb gibt es im Netzwerk ein unausgesprochenes Wissen darüber, was gut ist, was stört und was das Ganze schwächt oder stärkt. Wenn Teile des Netzwerks gegeneinander arbeiten oder sich aus dem Ganzen lösen, funktioniert das System schlecht. Ein Problem bildet sich dann häufig wie ein Warnsymptom und weist auf ein »überzogenes Konto« hin.

In der praktischen Arbeit mit Unternehmen, Abteilungen, Teams und anderen Organisationen haben sich immer wieder bestimmte Ordnungsprinzipien oder »Gesetze« gezeigt, nach denen diese systemisch funktionieren. Unabhängig von Art oder Größe der Organisation beobachten Forscher und Berater, wie Menschen in solchen Systemen mit schon fast schlafwandlerischer Sicherheit auf das Respektieren oder Missachten dieser Prinzipien reagieren. Sie erleben ihre Arbeitsumgebung als harmonisch, wenn sie beachtet werden, und reagieren irritiert, wenn sie verletzt werden. Im Folgenden finden Sie wichtige Systemgesetze oder systemerhaltende Prinzipien in einer Übersicht mit beispielhafter Erklärung ihrer Grundlagen.*

 

Systemerhaltende Prinzipien

Was ist, muss sein dürfen: das Prinzip der Würdigung

Anerkennen der Wirklichkeit eröffnet Lösungsperspektiven

Was bedeutet »Was ist, muss sein dürfen«? Zunächst einmal ist damit gemeint:

Die Wirklichkeit darf nicht geleugnet werden! Um handlungsfähig zu sein, müssen die Systemmitglieder anerkennen und würdigen, was ist.

So einfach, wie das klingt, ist es in der Praxis leider nicht. Zu oft werden kritische Entwicklungen in Unternehmen schöngeredet. Immer wieder kommt es vor, dass Führungskräfte sich selbst einen Abwärtstrend nicht eingestehen. Folgerichtig verschweigen sie auch ihren Kollegen und Mitarbeitern den wahren Ist-Zustand. Alle spüren aber ganz genau, dass etwas nicht stimmt. In manchen Fällen ist das Ausmaß einer Krise im ganzen Unternehmen genauestens bekannt, aber niemand spricht es aus.

Zuweilen gipfelt diese Verleugnung sogar in einem kollektiven Wahn: »Bald werden wir einen Riesenauftrag bekommen, der die Firma wieder ganz nach vorn bringt.« In Familien gibt es eine ähnliche Verleugnungspraxis, wenn z. B. alle wissen, dass der Vater unheilbar krank ist, diese Tatsache aber voreinander verheimlichen. Gelingt es, die Verleugnung fallen zu lassen und der Wirklichkeit ins Auge zu schauen, hat dieses gemeinsame Würdigen der realen Gegebenheiten etwas Befreiendes und öffnet das System für Lösungen. Denn nun schauen die Beteiligten der Wirklichkeit in ihrer ganzen, oft schmerzhaften Wucht unverstellt und mutig ins Auge. Erst jetzt sind sie handlungsbereit und entscheidungsfähig.

Auch eine andere Form der Würdigung ist Ihnen vielleicht aus Ihrem beruflichen Alltag bekannt: aktives Anerkennen des Gegebenen. In Situationen von Unsicherheit oder Zweifel über die jeweilige Erwartung oder Aufgabe kann es klärend wirken, wenn die zugrunde liegende systemische Realität bekräftigt wird. Rein rational betrachtet macht es wenig Sinn, etwas auszusprechen, das der andere schon weiß. Trotzdem hat es eine stärkende Wirkung, wenn sinngemäß gesagt wird: »Sie sind der Chefin dieser Abteilung, und ich bin Ihr Mitarbeiter.« »Sie sind mein Kunde, und Ihre Zufriedenheit ist für mich ausschlaggebend.« »Sie sind schon seit 12 Jahren in der Firma, und ich bin jetzt neu dazugekommen.« Auf diese Weise kommuniziert der Sprecher, dass er den eigenen Platz im System und den des Gesprächspartners kennt, anerkennt und bestätigt.

Der Ausgleich von Geben und Nehmen

»Schonzeit« für neue Mitarbeiter

Kennen Sie auch eines dieser Teams, in denen der Löwenanteil der Arbeit von einigen Mitgliedern erledigt wird? Das Ungleichgewicht eines solchen Arrangements ist für Außenstehende offensichtlich – für die Teammitglieder selbst bezeichnenderweise selten. Manchmal sind die Mitgetragenen neue, unerfahrene Kollegen, die sich erst noch einarbeiten müssen. Ein Ausgleich ist leicht möglich und geschieht oft auch ganz natürlich, indem die Neuen spontan würdigen, was sie bekommen. Sie können das zum Ausdruck bringen, indem sie helfen, wo sie können, selbst wenn manche Arbeiten nicht ihrer Qualifikation entsprechen. Wenn aber langjährige Teamkollegen sich bequem zurücklehnen, während andere die Arbeit erledigen, sind sie wohl eher vom »Stamme Nimm«.

Teamerfolg kann sich erst einstellen, wenn solche Schieflagen korrigiert sind. Ist mehr Gleichgewicht erreicht, stellt sich eine neue Herausforderung: Sind die bisherigen Leistungsträger bereit, die Arbeitslast gerechter aufzuteilen? Auch das ist keinesfalls selbstverständlich! Denn dazu brauchen sie die Bereitschaft, sich selbst zurückzunehmen und Hilfe von anderen anzunehmen. Das verlangt aber ein gewisses Maß an Vertrauen, das gerade handlungsstarken Menschen schwerer fallen kann, als alles selbst zu tun.

Geben ist nicht immer seliger als Nehmen

Vielleicht kennen Sie Situationen, in denen gefährliche Schieflagen deshalb entstanden, weil eine Führungskraft sich weigerte, Unterstützung und Mitarbeit anzunehmen und damit auch anderen Entwicklungschancen zu geben. Stattdessen ist solch ein Chef immer für seine Mitarbeiter da, hilft ihnen fraglos, nimmt ihnen schwierige Aufgaben ab und löst sogar Probleme für sie. Die Kehrseite solcher Hilfsbereitschaft ist, dass wirkliche Zusammenarbeit nicht entstehen kann. Die Kluft zwischen seiner Kompetenz und der Abhängigkeit der Mitarbeiter ist schwer überbrückbar. Da die Mitarbeiter auf diese Weise keine Chance bekommen, selbst etwas zu leisten, fühlen sie sich bald nutzlos, verlassen das Unternehmen oder kündigen innerlich. Das Motto »Geben ist seliger als Nehmen« mag im religiösen Kontext ebenso Sinn machen wie im Boxring – systemisch führt es auf Abwege.

Bei Fusionen ist das Gleichgewicht erfolgsentscheidend

Wie verhält es sich aber mit dem Ausgleich zwischen Geben und Nehmen auf höheren und größeren Ebenen? Hat er auch in multinationalen Konzernen eine Bedeutung? Betrachten Sie einmal den aktuellen Trend zu Megafusionen mit Blick auf die Aktionäre. Schaut eine Unternehmensleitung einseitig auf den Shareholder-Value, ignoriert sie möglicherweise den Einsatz der Mitarbeiter, dem sie ihren Erfolg mitverdankt. Sie nimmt deren Leistung, ohne sie zu würdigen und angemessen zurückzugeben. Solche Schieflagen bergen heute eines der größten Gefahrenpotenziale, wenn im Zuge von Fusionierung und Globalisierung kleinere Firmen oder arme Länder das Nachsehen haben. Natürlich sinken große Schiffe bei solcher Schlagseite nicht sofort. Sie scheinen zunächst ungestört weiter auf Erfolgskurs zu dampfen – bis plötzlich die Krise sichtbar ausbricht.

Das Recht auf Zugehörigkeit

Sie gehören zu verschiedenen sozialen Systemen: zu Ihrer Herkunftsfamilie (Ihren Eltern und Geschwistern), Ihrer Gegenwartsfamilie (Ihrem Mann / Ihrer Frau und Ihren Kindern) und zu einem oder vielleicht mehreren Arbeitssystemen. Haben Sie sich schon einmal gefragt, wie es wäre, wenn man Ihnen plötzlich die Zugehörigkeit zu Ihrer eigenen Familie oder Ihrem eigenen Unternehmen streitig machte? Leider geschieht so etwas immer häufiger. In Restrukturierungen und Fusionen wird das Recht auf Zugehörigkeit chronisch missachtet. So weiß nach Umbenennung und Umfirmierung im neuen Unternehmensgebilde manchmal niemand mehr, von wem die Ursprungsfirma vor 40 oder 70 Jahren gegründet wurde, oder der Gründer wird sogar bewusst nicht mehr erwähnt.

Zugehörigkeit verjährt nicht

Zugehörigkeit aber verjährt nicht. Der Gründergroßvater gehört auch heute noch genauso dazu wie der junge Geschäftsführer. Gleiches gilt auch für Mitarbeiter, die in Rente gegangen sind oder die in mageren Zeiten die Firma verlassen mussten. Es stärkt das Unternehmen, wenn man sich an sie erinnert und ihnen Gutes wünscht. Denn genau wie der Gründer waren sie einmal die Firma und bilden heute deren Wurzel. In der Praxis hat es sich bewährt, durch Fotos der Gründer an geeigneter Stelle im Unternehmen an deren Zugehörigkeit zu erinnern. Kennen Sie solche Räume oder Foyers, in denen man Büsten der Gründer, historische Szenen aus der Gründerzeit, alte Produkte oder Maschinen bewundern kann? Die positive Wirkung so einer bewussten Erinnerung wird auch daran deutlich, dass sich Mitarbeiter und Kunden gern dort aufhalten. Man spürt, dass hier die Wurzeln heutigen Erfolgs gesehen und gewürdigt werden.

Probleme bei Ungerechtigkeiten

Alle, die zu einem System gehören, müssen dazugehören dürfen – auch gekündigte Mitarbeiter.

Wenn schwere Ungerechtigkeiten im Spiel sind, können die Auswirkungen besonders massiv sein. So kam ein bekanntes Unternehmen mit einer seiner Tochterfirmen auf keinen grünen Zweig. Es stellte sich heraus, dass diese Firma im Dritten Reich von ihren jüdischen Inhabern für einen Spottpreis zwangsverkauft wurde (siehe auch Kap. 3.4). Aus systemischer Sicht ist es also kein Wunder, dass sich kein Erfolg einstellte, bis die Gründer und Eigentümer gewürdigt waren.

Es gibt auch Fälle, in denen jemand nicht mehr zu seinem Unternehmenssystem gehören kann, wenn er z. B. aufgrund schwerer Vergehen ausgeschlossen werden musste. Wenn etwa ein Prokurist versucht hat, den Chef durch Verleumdung zu entmachten, hat das nicht nur juristische, sondern auch systemische Folgen für ihn.

Vorrang des Früheren vor dem Späteren

Im Zuge einer Reorganisation nimmt ein neuer Produktionsleiter die Fertigung in die Hand. Er erkennt Fehler und Einsparpotenziale und beginnt nun aufzuräumen. Einen »Schlampladen« nennt er die Werkshallen und »Schläfer« die Ingenieure und Meister, die dafür verantwortlich seien. Beinahe, so seine Botschaft, hätten sie das Unternehmen an die Wand gefahren. Aber nun, mit ihm, beginne ein anderer Wind zu wehen. Eine Reihe von sinnvollen Maßnahmen wird eingeleitet, aber sie greifen nicht dauerhaft. Auch kann er die Mitarbeiter nicht für sich gewinnen. Je mehr er sie anfeuert, umso lethargischer und lustloser verrichten sie ihre Handgriffe am Band. Was ist passiert?

Der neue Chef muss vom letzten Platz aus führen

Der neue Produktionschef hat in guter Absicht, aber mit systemischer Ignoranz einen schweren Fehler begangen. Als Neuer steht er in der Ordnung des Systems auf dem letzten Platz, verhält sich aber, als stehe er auf dem ersten! Das gesamte soziale System reagiert allergisch auf solch eine Anmaßung. Andererseits ist er der neue Chef. Kompetent und engagiert will er wirklich etwas für das Unternehmen erreichen. Dazu muss er allerdings lernen, vom letzten Platz aus zu führen. Das gelingt ihm, indem er sich vor Augen führt, dass viele seiner Mitarbeiter schon in diesem Unternehmen dessen Produkte hergestellt und vertrieben haben, als er noch die Schulbank drückte. Mit diesem Perspektivenwechsel ändert sich seine Einstellung und mit ihr seine Ausdrucksweise und sein Tonfall. Er beginnt, ihre Leistung zu würdigen – auch wenn sie mit veralteter Technik und Struktur erbracht wurde.

Wenn er jetzt seine innovativen Konzepte einbringt, schaut er dabei die Meister und Gruppenleiter, mit denen er spricht, anders an. Er fragt nach ihren Erfahrungen und Gewohnheiten, bittet um ihre Meinungen und Vorstellungen, bevor er seine Entscheidung als neuer Chef trifft. Indem er so vom letzten Platz aus führt, gewinnt er das Vertrauen und die Unterstützung seiner Mitarbeiter und kann seine Führungsposition voll einnehmen.