Buch lesen: «BIERKÄMPFE, BAROCKENGEL UND ANDERE BAVARESKEN», Seite 3

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Die Stadt lesen. Eine kleine Regensburger Literaturgeschichte

Literatur in Regensburg? Und: Regensburg in der Literatur? Für die Gegenwart fallen einem da schon einige Autoren ein, zum Beispiel Eva Demski, Ernst-Wilhelm Händler, Benno Hurt, Barbara Krohn, Sandra Paretti und Albert von Schirnding. Diese sechs Schriftsteller stellt Gertrud Maria Rösch im letzten Beitrag zu einem Gemeinschaftswerk vor, das in nicht weniger als siebenunddreißig Mini-Essays das literarische Leben der Donaustadt zu beleuchten sucht. Für den, dem ein Kurzessay zu wenig ist, sind die nützlichen Lektürehinweise gedacht. »Es gibt bisher kein Kompendium zur Regensburger Literatur«, schreiben die Herausgeber im Vorwort zu ihrer demnach mehr als überfälligen Regensburger Literaturgeschichte, die ausdrückliche eine »kleine« sein möchte – und doch viel »Großes« bietet.

Worum es genau geht? »Unter Regensburger Literatur verstehen wir Werke, die entweder in Regensburg entstanden sind und/oder sich an zentralen Stellen inhaltlich mit der Stadt auseinandersetzen.« Weil dies, fasst man wie hier die Literatur als ein sehr weites Feld, auf wirklich viele Texte zutrifft, musste ausgewählt werden. Die Auswahl ist originell: Persönlichkeiten aus dem Mittelalter, von Otloh von Sankt Emmeram bis zu Andreas Mülner, dominieren die Szene, und keineswegs alle haben literarische Werke im engeren Sinne hinterlassen – der von Claudia Märtl porträtierte Mülner etwa, »Regensburgs Titus Livius«, gilt gemeinhin als »Stammvater der bayerischen Historiografie des 15. Jahrhunderts« und nicht als Dichter. Sein Werk wirkte bis weit in die Frühe Neuzeit hinein, die hier – ebenfalls ungewöhnlich – mehr Raum bekommt als das 18. und 19. Jahrhundert. Im Kapitel über das 16. und 17. Jahrhundert steht ein Geschichtsschreiber wie der berühmte Aventinus ganz selbstverständlich neben Catharina Regina von Greiffenberg, der tiefgläubigen Barocklyrikerin aus Niederösterreich, von deren »Regensburger Andachtsreisen« Rainer Barbey berichtet – ein weiter Literaturbegriff eben. Für die »Goethezeit« wartet die Essaysammlung mit großen Namen auf: Goethe selbst, Hölderlin, Arnim, Brentano, Eichendorff, Mörike – alles schön und gut, und doch muss man kritisch anmerken, dass die Stadt gerade hier mit Dichtern geschmückt wird, für die das ehrwürdige Regensburg kaum mehr als eine winzige Episode in Leben und Werk darstellte. Das gilt auch für Thomas Mann, dessen 1909 erschienene Erzählung Das Eisenbahnunglück, wie Sebastian Karnatz berichtet, auf ein unerfreuliches Erlebnis bei Regenstauf zurückgeht. Damit sind wir im 20. Jahrhundert und gleich bei Georg Britting, dessen heute fast in Vergessenheit geratenes Werk Thomas Zirnbauer auf bewundernswerte Art und Weise lebendig werden lässt – sechs Seiten nur, allerdings absolut herausragend! Florian Sendtner schreibt über »Regensburger NS-Literatur« – und über ihr Gegenteil, The Blue Danube von Ludwig Bemelmans. Thomas Bernhard, der alte Griesgram, der drei Tage in der »schrecklichen Stadt« am Donauknie verbracht hat und nie wieder dorthin zurückgekommen ist, durfte auch nicht fehlen. Nicht nur der Bernhard-Essay verdeutlicht, dass die Kleine Regensburger Literaturgeschichte bisweilen schon sehr weit ausholen musste, um Regensburg als Metropole bedeutender Literatur zu präsentieren. Sei's drum! Interessant ist dieses Buch allemal, anregend – und manchmal auch sehr spannend.

Rainer Barbey / Erwin Petzi (Hrsg.): Kleine Regensburger Literaturgeschichte. Regensburg 2014: Verlag Friedrich Pustet. 288 S.

Aventinus, Schmeller und Britting. Vor drei Jahren ist Eberhard Dünninger gestorben

Mit viel Liebe und enormem Detailwissen hat Bernhard Lübbers, der Leiter der Staatlichen Bibliothek Regensburg, zusammen mit dem Kunsthistoriker und Verleger Peter Morsbach einen ansehnlichen Gedenkband herausgegeben, der das Leben und Wirken des in Würzburg geborenen, in Regensburg zur Schule gegangenen und beruflich lange in München tätigen Literaturhistorikers und Bibliothekars Eberhard Dünniger umfassend würdigt. Elf kompetente Aufsätze, zahlreiche ansprechende Fotos sowie ein zwanzigseitiges, von Konrad Zrenner besorgtes Verzeichnis aller Veröffentlichungen des großen bayerischen Gelehrten runden sich zu einem anregenden Erinnerungsband. Hervorgegangen ist er aus einem Gedenksymposium, das noch in Eberhard Dünningers Todesjahr im Leeren Beutel zu Regensburg stattfand.

Dünningers Sohn Leonhard, der frühere bayerische Kultusminister Hans Maier, der Münchner Bibliothekar Klaus Kempf und der Regensburger Emeritus Bernhard Gajek beleuchten die Biografie des Verstorbenen. Hier wird der Leser über seine Arbeit im Bayerischen Kultusministerium (1965–1986), seine Leistungen als Generaldirektor der Bayerischen Staatlichen Bibliotheken (1986–1999) und sein lebenslanges Wirken in Forschung und Hochschule präzise informiert. In der zweiten, den Bibliotheken gewidmeten Abteilung gibt Manfred Knedlik einen erhellenden Überblick über die Klosterbibliotheken in der Oberen Pfalz. Bernhard Lübbers beschäftigt sich mit einem Thema, das auch Eberhard Dünninger mehrfach berührt hat: Johann Andreas Schmeller und die Bibliotheken. Die Abteilung Literatur widmet sich zwei ganz unterschiedlichen Autoren und Werken, zu deren Erhellung die Forschungen des Verstorbenen Wesentliches beigetragen haben: Christine Riedl-Valder befasst sich mit den Schriften des Aventinus, und Marita A. Panzer geht den Spuren eines kauzigen und originellen bayerisch-böhmischen Grenzgängers aus dem 19. Jahrhundert nach: Maximilian Schmidt genannt Waldschmidt (1832–1919). Im vierten Teil des Gedenkbands skizziert Peter Morsbach das Bild Regensburgs und der Oberpfalz vor der Napoleonzeit, Peter Styra würdigt Pater Emmeram und Schloss Prüfening, und Jörg Skriebeleit erzählt die Geschichte des Historikers, Archivars, Heimatforschers und Intellektuellen Fridolín Macháček (1884–1954), auf dessen ergreifendes Buch Plzeň – Terezín – Flossenbürg (1946) ihn Eberhard Dünninger hingewiesen hatte. Was einmal mehr zeigt, dass der vielseitige und außergewöhnlich kenntnisreiche Gelehrte, der unter anderem am Trinity College in Dublin studiert hatte, stets über die Grenzen des Freistaats hinausblickte. Ohne Zweifel war Regensburg Eberhard Dünningers Herzensheimat, und mit Sicherheit hat er seine Oberpfalz und sein Bayern geliebt. Zu Hause aber war er im ganzen Abendland.

Bernhard Lübbers / Peter Morsbach (Hrsg.): Bibliotheken, Literatur, Regensburg und die Oberpfalz. In memoriam Eberhard Dünninger (1934–2015). Regensburg 2016: Dr. Peter Morsbach Verlag. 178 S.

Heavy Southbound Traffic. Auf den Spuren von Johann Andreas Schmeller

Als Jugendlicher hörte ich oft Radio. Meistens AFN – American Forces Network. Wegen der Musik. AFN war aber auch einer der ersten Radiosender, der Verkehrsdurchsagen brachte. Unvergesslich: »Heavy southbound traffic on the Nuremberg-Munich Autobahn, especially in the area of the Holledau Triangle«. Dieses Dreieck kannte ich wohl, und ich wusste, dass halb Europa auf der Fahrt vom hohen Norden nach Rom oder Sizilien durch die Holledau musste1. Später stand ich oft genug selbst am Holledau-Dreieck im Stau, und die mit Büschen und Bäumchen bestandene, von Autobahnen vollkommen eingeschlossene Wiese dort kam mir bald vor wie der heimliche Mittelpunkt von Südbayern. Im Zeitalter des unaufhörlichen Lastwagenverkehrs und der immer hässlicher werdenden Gewerbegebiete könnte das wirkliche Zentrum des Landes doch auch ein Autobahndreieck sein, dachte ich mir. Oder sind es doch die Hopfengärten drumherum?

Wenige Kilometer Luftlinie vom Dreieck sieht die Welt vollkommen anders aus. Von »heavy southbound traffic« keine Spur, im Gegenteil: kaum irgendein Traffic! Ohne Navi schaut man hier recht alt aus – wer auf immer schmaler werdenden Straßen mit Kreuzungen ohne jeden Wegweiser versucht hat, nach Rinnberg zu gelangen, weiß das. Eine bayerische Bauernlandschaft von lieblich-herber Anmut bildet die Kulisse für Johann Andreas Schmellers einstigen, eine gute Stunde dauernden Schulweg nach Pörnbach – und zurück. Viel Wald, viel Mais, einige Pferdekoppeln, und vor allem: Hopfen! Im Sommer zuckelt man zwischen gewaltigen Hopfenwänden durch, entgegenkommen sollte einem niemand, schon gar nicht ein Mähdrescher oder ein Milchlaster. Landkreis Pfaffenhofen an der Ilm, im Tal die Kirche von Rohr, gleich daneben Rinnberg. Endlich!

Ein ausgesprochen schönes, aufgeräumtes Dorf mit viel Luft zwischen den Häusern und vielen Blumen. Beim Nussbaum an der Dorfstraße ist eine Hinweistafel aufgestellt. Hier sind wir richtig! »Zurück zu meinen Lieben / Nach Rimberg schwebt mein Geist«. So lautet die Inschrift auf einem schönen, naturbelassenen Stein, hinter dem orangerote Lilien blühen. Rimberg, Rinberg, Rinnberg – so genau nahm man es damals nicht mit der Schreibung der Ortsnamen. Weiter heißt es auf dem Stein: »Johann Andreas Schmeller. *6.8.1785 – †27.7.1852. Verfasser des Bayerischen Wörterbuchs. Die Heimat gedenkt seiner. Landkreis Pfaffenhofen«. Ein paar Meter weiter an der Straße findet man auch noch eine weiße Stadelmauer mit einer Steintafel, die an den im Alter von drei Jahren aus seiner Geburtsstadt Tirschenreuth (»Türschenreut«, wie er selber schreibt) nach Rinnberg gelangten Buben erinnert: »An dieser Stelle stand das Elternhaus des grossen bairischen Sprachforschers Johann Andreas Schmeller. Von 1787–99 verbrachte er hier seine Kindheit.« Floh die Familie aus der armen Oberpfalz? Vertraut man dem Journalisten Gerhard Matzig, ist Tirschenreuth auch heute nicht reich und auf jeden Fall, statistisch betrachtet, die »billigste Stadt Deutschlands«2.

Der alte Schmeller – nein, nicht Heimito von Doderers Romanfigur aus der Strudlhofstiege3, sondern »dieser wundervolle Gelehrte, der das Mundartlexikon gemacht hat«4 – war schon mal bekannter als heute. Nicht nur in der Wissenschaft, bei den Dialektologen, den Mediävisten und den Historikern, sondern auch bei den an der bairischen Mundart interessierten Bürgern des Freistaats. In vielen Haushalten steht noch heute die vollständige Ausgabe seines Bayerischen Wörterbuchs herum, die zum zweihundertsten Geburtstag des »baierischen Grimm« in vier Bänden erschien5. Ob Schmellers Opus Magnum eifrig benutzt wird? Oder doch eher ein Staubfänger ist? In der Bayerischen Staatsbibliothek in München, die ihrem einstigen Bibliothekar vor fünfunddreißig Jahren eine schöne Gedächtnisausstellung gewidmet hat6, wird sein Nachlass verwahrt. Dort findet man alles von und über den oberpfälzischen Korbmacherssohn aus der Holledau, dessen Verdienste insbesondere um die Handschriftenabteilung des Hauses gar nicht genug herausgestellt werden können. Bis dahin allerdings war es ein weiter Weg – von Pörnbach erst einmal ins Seminar des Klosters Scheyern, dann auf die Gymnasien von Ingolstadt und München. Schon 1801 begann er sein Tagebuch – manchmal mit durchaus merkwürdigen Einträgen wie beispielsweise dem vom 22. Juli: »Ein herrlicher Tag. Gestern fiel aus Baufälligkeit ein Haus zusammen, und erschlug etliche Menschen.«7 Der besonders an Pädagogik und Philologie interessierte Schüler war immer in Geldnot und hing ab von wohlmeinenden Gönnern. In Rinnberg entstand 1803 seine erste wissenschaftliche Arbeit: Über Schrift und Schulunterricht. Ein ABC-Büchlein in die Hände Lehrender. Die Studie ist geprägt von der Faszination, die Person und Werk des Schweizer Pädagogen Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827) auf ihn ausübten. Dem wollte er seine Arbeit persönlich vorstellen – vielleicht war auch eine Stelle in der Schweiz drin? Pestalozzis Absage muss Schmeller schwer getroffen haben, denn 1804 traf der Mittel- und Erwerbslose eine unerwartete Entscheidung: Er trat als Soldat in die Dienste des spanischen Königs Karl IV. und marschierte bald von Solothurn bis nach Tarragona. Soldat? Na ja, nach einiger Zeit wurde Schmeller dann doch Hilfslehrer, für Spanisch, Englisch, Französisch und andere Fächer, und zwar am Real Instituto Pestalozziano Militar in Madrid. Von Spanien ging's dann 1808 nach Basel – fünf Jahre lange unterrichtete er dort, durch Vermittlung Pestalozzis, an einer Privatschule, und im Herbst 1812 stellte er fest: »Mir ward menschlicher Besitzthümer keines, nicht Ahnen, nicht Gold, nicht Äcker – nur die Sprache. Die Worte sind mein Grund und Boden, die mir Brod, vielleicht gar Ehre ertragen soll. Nur für des Vaterlandes Worte kann ich wirken.«8

Nachdem Bayern im Oktober 1813 mit dem Vertrag von Ried der Koalition gegen Napoleon beigetreten war, meldete sich Schmeller freiwillig. Er kam, nachdem er im Januar in Rinnberg die Eltern wiedergesehen hatte9, im Februar 1814 zum Jägerbataillon des Illerkreises, hatte aber zumindest nach 1815 dort kaum mehr etwas zu tun. Dreißig Jahre alt war er schon, als er den »ganz in meinem Sinn Sprach forschenden Bibliothekar Scherer« kennenlernte10. Vor allem dieser Mann, der als Direktor der königlichen Hofbibliothek wirkte und auch als Buchhändler, Verleger und Schriftsteller tätig war, machte Schmeller immer wieder Mut, sich mit aller Kraft an die gründliche Erforschung der Dialekte Bayerns zu machen. Joseph von Scherer (1776–1829) war auch nicht ganz unschuldig daran, dass der hochbegabte, fleißige und begeisterte junge Philologe 1816 auf Antrag der Akademie der Wissenschaften vom Militärdienst beurlaubt wurde, um »an einem Wörterbuche der baierischen Mundart« arbeiten zu können11. In den folgenden Monaten durchwanderte Schmeller fast das gesamte Königreich, um intensive Sprachstudien zu betreiben. »Ich bin nun förmlich als WortKlauber ausgerufen«, schrieb er am 20. Mai 1816 in sein Tagebuch12.

Mit diesen Wanderungen begann die immer glänzender werdende Karriere des Dialektologen und Sprachwissenschaftlers Johann Andreas Schmeller. Die Mundarten Bayerns grammatisch dargestellt erschien 1821, zwei Jahre danach wurde er außerordentliches Mitglied der Akademie und 1826 Privatdozent an der Münchner Universität, die ihm im Jahr darauf die Ehrendoktorwürde zuerkannte und ihn fast zwei Jahrzehnte später – nach einigem Hin und Her – auf ihren Lehrstuhl für altdeutsche Sprache und Literatur berief. Schmeller wurde berühmt – schon als er im Januar 1824 nach Rinnberg kam, konnte er seinen alten Eltern zu deren goldener Hochzeit die Glückwünsche des Königs überbringen13. Über Universität und Akademie hinaus wirkte der Gelehrte, dem lebenslang wenig privates Glück zuteil wurde14, Jahrzehnte hindurch segensreich in der durch die Säkularisation gewaltig angewachsene Münchner Hofbibliothek, die 1843 ihren Neubau in der Ludwigstraße bezog15. Sein Ansehen beim Münchner Bürgertum wuchs Jahr um Jahr, selbst wenn wohl nicht jeder Schmellers aufgeklärte, liberale und patriotische Gesinnung teilte. Bei den Fachkollegen wuchs es ebenfalls: Sie wählten den »Begründer der wissenschaftlichen Dialektologie«16 beim ersten deutschen Germanistenkongress in Frankfurt 1846 zum Vorsitzenden der Sektion Sprache. Einstimmig – was in der Wissenschaft mehr heißen will als anderswo!

Am Ende seines Lebens, 1852, umfasste sein Schriftenverzeichnis mehr als hundertfünfzig Werke, keineswegs nur zur Mundartforschung. Ein großer Mann des 19. Jahrhunderts wurde er, der Sohn einfacher Leute aus Rinnberg! Sein Grab liegt unter den Arkaden des Alten Südlichen Friedhofs in München. Und siehe da: An manchen Herbstwochenenden herrscht auch dort »heavy southbound traffic«. Wie immer mal wieder am Holledau Triangle.

Anmerkungen

1 • Die Literatur über die Holledau ist reichhaltig. Eine erste, wenngleich nicht sehr profunde Orientierung vermittelt ein Werk von Petra Becker: Das große Hallertau-Buch. Hopfenland im Herzen Bayerns. Clenze 2008.

2 • Gerhard Matzig: Gebaute Utopie. In: Süddeutsche Zeitung, 19. August 2016, S. 10.

3 • »Der alte Schmeller war ein Techniker und ein Wiener aus der Vorstadt. Das schließt eigentlich schon alles ein, was über diese nicht sehr interessante Persönlichkeit im Einzelnen noch gesagt werden könnte.« Heimito von Doderer: Die Strudlhofstiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre. Roman (1951). München 1995, S. 258. Vgl. dazu auch Klaus Nüchtern: Kontinent Doderer. Eine Durchquerung. München 2016, S. 333.

4 • Carl Amery: Auf d’Wahrheit muß’ herauslaufen, auf die sind wir vereidigt. In: Margot Lehner / Peter Laemmle (Hrsg.), Bayerisches Selbstverständnis – bayerische Perspektiven. Prominente im Gespräch mit Norbert Göttler. Eine Sendereihe des Bayerischen Rundfunks. München 1999. S. 79–86, hier S. 85.

5 • Johann Andreas Schmeller: Bayerisches Wörterbuch (1827 / 1837). 4 Bde. München 1985.

6 • Vgl. den Katalog dazu: Johann Andreas Schmeller 1785–1852. Gedächtnisausstellung zum 200. Geburtsjahr. Bearbeiter: Hermann Hauke, Reinhard Horn, Dieter Kudorfer und Karin Schneider. Redaktion: Dieter Kudorfer. München 1985. Siehe auch Waldemar Fromm / Stephan Kellner (Hrsg.) unter Mitarbeit von Laura Mokrohs: »Darf ich Ihnen meinen Wunschzettel mitteilen?«. Die Bayerische Staatsbibliothek in der Literatur. München 2014, bes. S. 34–37.

7 • Johann Andreas Schmeller: Tagebücher 1801–1852. Hrsg. von Paul Ruf. 2 Bände und Registerband (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 47, 48, 48a). München 1954/1957. Eine kommentierte, auch für Reisen oder Biergartenbesuche geeignete Taschenbuch-Auswahl aus den Tagebüchern haben Reinhard Bauer und Ursula Münchhoff zusammengestellt: »Lauter gemähte Wiesen für die Reaktion«. Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts in den Tagebüchern Johann Andreas Schmellers. München / Zürich 1990. Hier S. 30.

8 • Ebd., S. 60.

9 • Ebd., S. 76–82.

10 • Johann Andreas Schmeller: Tagebücher 1801–1852 (s. Anm. 5). Band 1, S. 365.

11 • Katalog (s. Anm. 4), S. 20.

12 • »Lauter gemähte Wiesen für die Reaktion« (s. Anm. 7), S. 99.

13 • Ebd., S. 123.

14 • Katalog (s. Anm. 4), bes. S. 24 f.

15 • Näheres zu Schmellers Bibliotheksarbeit ebd., S. 155–204.

16 • Ebd., S. 43. Näheres über Schmellers Sprach- und Mundartforschung sowie über seine Beiträge zur Sprach- und Literaturgeschichte des Mittelalters ebd., S. 39–152. Vgl. auch Ingo Reiffenstein: Johann Andreas Schmeller und die heutige Dialektforschung. In: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik 48, 1981, S. 289–298.

Wer liest Steub? Eine Ausstellung in Aichach

»Das Almenleben hat so viel eingeborne Poesie, dass selbst die Tausende von Schnaderhüpfeln und die schönsten Lieder vom Berge, sowie die süßinnigsten Zithermelodien diesen tiefen und wahren Zauberbrunnen nicht ganz ausschöpfen. Wenn einer einmal einen dreibändigen Walter Scottschen Roman darüber schreiben wollte, der würde sehen was ihm da alles entgegenkömmt – die Almerin selbst mit ihren achtzehn Jahren und ihrem unbewachten Almenherzen, die Jägersburschen mit ihrem Stolz, die Wildschützen mit ihrem Hass …«.

Halt! Um Gottes willen! Geht’s noch? Wer liest denn so was? Ja, es stimmt schon – so was liest praktisch niemand mehr, und wer nicht im Aichacher Stadtmuseum war, der traut sich vielleicht gar nicht, zu solcher Lektüre zu ermuntern. Geschrieben hat diesen Text, in Erinnerung an seine Wanderung auf die Audorfer Almen, der am 20. Februar 1812 in Aichach geborene und am 16. März 1888 in München gestorbene Ludwig Steub, und zwischen zwei Buchdeckeln veröffentlicht hat er ihn in seiner 1860 erschienenen Prosasammlung Das bayerische Hochland. Ein nach wie vor anregendes Werk, trotz düsterem Hochwald und seelentröstendem Mondenschein auf einsamen Triften, und ein ebenbürtiges Gegenstück zu dem 1846 erschienenen und bis zur Jahrhundertwende immer wieder neu aufgelegten Sammelwerk, das Steub bekannt gemacht hat: Drei Sommer in Tirol. Aber dieser »Entdecker Tirols« und Schilderer der bayerischen Alpenregion war nicht nur Reiseschriftsteller – auch Komödien, Novellen, einen Roman und sogar sprachwissenschaftliche Abhandlungen hat er verfasst. Die Rose der Sewi (1879) zählt gewiss zu den gelungensten Dorfnovellen des 19. Jahrhunderts. Doch wer um alles in der Welt kennt heute noch diese schalkhafte Geschichte vom Gasthaus Sebi bei Niederndorf in Tirol? Einer, der zu Steubs Zeiten mit seinen Schwarzwälder Dorfgeschichten weltberühmt wurde, der heute trotz mancher Bemühungen ebenfalls kaum gelesene Berthold Auerbach, hat einmal bedauernd gefragt: »Ist es nicht ein wunderliches oder geradezu gesagt trauriges Geschick, dass man vielen gebildeten Deutschen erst sagen muss, wer Ludwig Steub ist?« Trauriges Geschick? Allerdings!

Gerade noch im Jahr seines zweihundertsten Geburtstags wurde im Aichacher Stadtmuseum die Ausstellung »Ludwig Steub – Sohn der Stadt. Eine Spurensuche« eröffnet, und ein Besuch des selbst dem Münchner wenig bekannten Wittelsbacher Landes lohnt nicht nur zur Spargelzeit. Einen Ausstellungskatalog oder ein Begleitheft gibt es nicht, wohl aber kann und sollte man die Broschüre erwerben, die die Stadt Aichach vor fünfundzwanzig Jahren zum hundertsten Todestag des Dichters herausgegeben hat. Denn da steht viel Interessantes drin, nicht nur zu Steubs Leben, das nur in seinen ersten zehn Jahren mit Aichach zu tun hat. Der »Pionier der modernen Reiseschriftstellerei« wird da gewürdigt, der »literarische Pfadfinder Tirols«, und vor allem wird ein Gedenkblatt von Ludwig Schrott aus dem Jahr 1962 mit dem treffenden Titel Meister der Wanderbilder und Novellen wiederabgedruckt, das einen prägnanten Überblick über das umfangreiche Werk dieses fast vergessenen bayerischen Dichters gibt.

In der übersichtlichen, einleuchtend strukturierten und nicht nur der Hörproben wegen angenehm besucherfreundlichen Ausstellung wird man natürlich erst einmal mit Steubs Geburtsstadt bekannt gemacht, »einem freundlichen Städtchen in der Nähe des Stammschlosses Wittelsbach, mit vielen Brauereien und wenigstens einer Schule«, wie er in seiner 1883 entstandenen Autobiografie schreibt. Ludwig Steubs Vater Andreas amtete dort als Königlich Bayerischer Distriktsstiftungsadministrator, eine Stelle, die mit Verkündigung der neuen Verfassung (1818) überflüssig wurde – 1822 wird er nach Augsburg versetzt, ein Jahr danach nach München. An seine nicht gerade unter rosigen Umständen verbrachte Aichacher Kindheit hat der spätere Schriftsteller fast nur positive Erinnerungen, die ins erste Kapitel seines einzigen Romans Deutsche Träume (1858) hineinverwoben sind – ein Buch, das wie nahezu alles von Steub nur noch antiquarisch aufzutreiben ist. Während seiner Schulzeit am »Alten Gymnasium« in München entwickelt Ludwig Steub eine Vorliebe für Sprachen, und er unternimmt seine ersten größeren Reisen und Wanderungen. Er studiert zunächst Klassische Philologie, später dann das ungeliebte, aber eine Anstellung versprechende Fach Jura. Sein Lehrer Friedrich Thiersch hatte seine Begeisterung für alles Griechische geweckt. 1834 geht Steub als Regentschaftssekretär des Grafen Armansperg ins bayerisch regierte Griechenland – und kehrt zwei Jahre später ernüchtert zurück. Über diese kurze, aber nicht unwichtige Episode seines Lebens, die sein erstes Buch Bilder aus Griechenland (1841) entscheidend inspiriert hat, erfährt der Ausstellungsbesucher alles Wissenswerte. Ludwig Steub, der – auch eine Kunst – sein Engagement für den ungeliebten Brotberuf zeitlebens auf das gerade noch tolerierbare Minimum beschränken konnte, war mit seinen Zeitungsartikeln wesentlich erfolgreicher als mit seinen Büchern. Sogar seine erste Novelle Der Staatsdienstaspirant (1841) erschien zuerst im Stuttgarter Morgenblatt. Den Sammelband Novellen und Schilderungen (1853), der auch die bis ins spätere 20. Jahrhundert immer mal wieder publizierte Novelle Trompete in Es (1848) enthält, mag fast niemand kaufen. Es ist nicht nur erstaunlich, wie viele seiner im Handel schon lange nicht mehr erhältlichen Bücher die Aichacher zusammengetragen haben – noch erstaunlicher ist, dass der Ausstellungsbesucher, wenn er das mag, sie alle in die Hand nehmen und stundenlang in ihnen schmökern kann. Ein Dichter zum Anfassen, wie es heute so schön heißt – gut so!

Auf seiner ersten Tirolreise im Sommer 1842 kommt der Reiseschriftsteller und Kulturanthropologe Ludwig Steub ans Licht, und bald geht es steil aufwärts mit seiner Beliebtheit beim lesenden Publikum. Hinaus aus der Stadt, hinein in die Alpen – jahrelang war das sein Motto, und auf diesem zentralen Teil seines Lebens und Wirkens liegt auch der Schwerpunkt der Aichacher Schau, die dazu überraschend viel Material präsentiert. Die Stadt Brixlegg im Tiroler Inntal, über der 1898 ein in die Felswand gemeißeltes riesiges Reliefbild des Dichters enthüllt wurde, ist bis heute eine der Partnerstädte Aichachs, und im berühmten Berggasthof »Tatzlwurm« zwischen Bayrischzell und Brannenburg am Inn erinnert man immer noch an Ludwig Steub. Dass er keineswegs ein früher Tourist und Gipfelstürmer war, sondern immer die Menschen im Mittelpunkt seines lebhaften Interesses standen, ihre Dörfer und Städte und ganz besonders ihre Wirtshäuser, betont Gerald Deckart in der erwähnten Broschüre: »Die Landschaft war ihm nur wichtig als schöne, liebliche, heitere Umgebung der Wohnplätze der Menschen, als Szenerie, in der sich das menschliche Leben abspielt.« Und ein früher Kritiker des für heutige Verhältnisse äußerst zaghaft beginnenden Alpintourismus war der liberale, manchmal heftig antiklerikale und sogar antidynastische Dichter auch. »Es sind schon genug herinnen«, sagt Steub in der Rolle eines Brixlegger Sommerfrischlers. »Es wäre wirklich jammerschade, wenn auch dieser stille Winkel durch übergroßen Zulauf, Vornehmheit, Equipagen, Lakaien, Toilettenpracht und andere Widerlichkeiten beliebter Sommerfrischörter wieder unzugänglich würde.«

Ludwig Steub, der poetische Wanderer zwischen München und dem Gardasee, bleibt natürlich ein Mann des 19. Jahrhunderts, und deshalb empfindet man heute einiges in seinen Werken als veraltet – die allzu gemütvoll schwärmerische Umständlichkeit seiner Schilderungen und die Beifall heischende Blumigkeit seines Stils können durchaus auch mal nerven. Ist das bei Stifter völlig anders? Sind Hebbels Erzählungen noch guten Gewissens zu empfehlen? Ludwig Schrott meinte vor fünfzig Jahren, dass Ludwig Steubs poetische Reiseschriften, meist lange vor Theodor Fontanes berühmten Wanderungen durch die Mark Brandenburg entstanden, locker deren Niveau erreichten. Darüber kann man streiten. Nicht streiten kann man über die Forderung an die (bayerischen?) Verleger, endlich eine leserfreundliche Werkausgabe in Angriff zu nehmen. Und ebenso wenig kann man darüber streiten, dass ein Besuch des Stadtmuseums Aichach und seiner aktuellen Sonderausstellung ein herzerwärmender Gewinn ist. Auch ohne das unbewachte Almenherz der Almerin.

Ludwig Steub – Sohn der Stadt. Eine Spurensuche. Ausstellung 2012/13 im Stadtmuseum Aichach.