BIERKÄMPFE, BAROCKENGEL UND ANDERE BAVARESKEN

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BIERKÄMPFE, BAROCKENGEL UND ANDERE BAVARESKEN
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Klaus Hübner

Bierkämpfe, Barockengel und andere Bavaresken

Kein Twitter, kein Facebook

Von Menschen, Büchern und Bildern

Band 3

Außer der Reihe 43

Klaus Hübner

Bierkämpfe, Barockengel und andere Bavaresken

Kein Twitter, kein Facebook

Von Menschen, Büchern und Bildern

Band 3

Außer der Reihe 43

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© dieser Ausgabe: Oktober 2020

p.machinery Michael Haitel

Titelbild: Capri23auto (Pixabay, Engel), Albrecht Fietz (Pixabay, Donaudurchbruch), Tom Reckmann (Pixelio, Maßkrug), Felix Mittermeier (Pixabay, Befreiungshalle)

Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda Michael Haitel

Lektorat & Korrektorat: Michael Haitel

Herstellung: global:epropaganda Michael Haitel

Verlag: p.machinery Michael Haitel

Norderweg 31, 25887 Winnert

www.pmachinery.de

ISBN des Paperbacks: 978 3 95765 211 9

ISBN des Hardcovers: 978 3 95765 212 6

ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 881 4

Vorwort

In der Wochenzeitung Die Zeit vom 10. Januar 2019 charakterisiert der 1995 mit dem Büchnerpreis bedachte Dichter Durs Grünbein unsere Gegenwart so: »Jeder sein eigener Handy-Sklave, jeder sein eigener von Computern und Tablets gesteuerter Idiot in der rund um die Uhr aktiven Netzwerkgemeinschaft«. Mir ist das zu pauschal. Jeder? Es gibt viele, die Handy, Computer und Tablet nutzen und trotzdem keine Sklaven oder Idioten sind. Und es gibt eine Menge Leute, die über ihr Tun nachdenken und zu manchem einfach »Nein« sagen. Wer zum Beispiel weder Twitter noch Facebook noch andere angeblich soziale Medien nutzt, wird schon seine Gründe haben. Ein im moralischen Sinne besserer Mensch ist er deswegen noch lange nicht. Ein ignoranter Technik- und Modernitätsverweigerer wohl auch nicht. Was aber dann? Man muss ihn sich nicht zwingend als einen Menschen vorstellen, der eher von Künstlern, Büchern, Bildern, Städten und Landschaften angeregt wird als von noch schnelleren Rechnern und noch spezielleren Apps. Aber man darf. Auch als einen, der weiß, dass es nicht wenige Zeitgenossen gibt, denen es ähnlich geht. Für solche Menschen ist dieses Buch gedacht.

»Das Buch mag den neuen, scheinbar körperlosen, sein Erbe beanspruchenden, in überbordendem Maß Informationen zur Verfügung stellenden Medien in vielem unterlegen und ein im ureigenen Sinn des Wortes konservatives Medium sein, das gerade durch die Abgeschlossenheit seines Körpers, in dem Text, Bild und Gestaltung vollkommen ineinander aufgehen, wie kein anderes die Welt zu ordnen, manchmal sogar zu ersetzen verspricht«, schreibt die 1980 geborene Judith Schalansky im Vorwort ihres 2018 erschienenen Buchs Verzeichnis einiger Verluste. Dass weniger Bücher, vor allem weniger literarische Texte gelesen werden als noch vor zehn oder zwanzig Jahren, ist ein Faktum. Das verheißungsvoll und schön klingende Wort »Sprachkunstwerk« hört sich heute sehr gestrig an. Wer ist neugierig auf Sprachkunstwerke? Und – um die Schraube noch weiter zu drehen – wer liest heute überhaupt noch Bücher über Bücher? Allzu viele Leute werden es nicht sein. Aber die sind wichtig. Wäre ich davon überzeugt, dass eine umfangreiche Sammlung von Interviews mit Literaten, literarischen Essays, Künstlerporträts, Glossen und Streiflichtern aller Art und obendrein auch noch vielen Buchrezensionen ein altmodisches und tendenziell nutzloses Unterfangen ist, hätte ich auf die Arbeit an diesem Projekt verzichtet und mich stattdessen – lesend natürlich – in einen wundermilden Biergarten zurückgezogen. Oder sonst wohin. Aber ich weiß ganz sicher, dass es immer noch einige, darunter auch relativ junge Leute gibt, die mit Interesse und manchmal mit Begeisterung genau das suchen: Begegnungen mit Literatur, mit Malerei, mit Kulturgeschichte – und mit den Menschen, die sie machen und gestalten. Auch die weiterhin enorme Aufmerksamkeit für Literaturfeste, Autorenlesungen, Ausstellungen und andere Kulturevents spricht dafür. Trotz des allenthalben konstatierten und oft bitter beklagten gesellschaftlichen Bedeutungsverlusts von Kunst und Literatur können sich nur wenige Zeitgenossen ein Leben ganz ohne sie vorstellen. Und, nennen Sie mich ruhig einen Träumer, einen Fantasten oder einen hoffnungslosen Idealisten: Auch heute noch – und höchstwahrscheinlich auch in nächster Zukunft – lassen sich der Kunst und der Literatur soziale Funktionen zuschreiben, die nicht die allerunwichtigsten sind. Die Förderung der Wach- und Aufmerksamkeit für ein lebenswertes und vielleicht sogar schönes Leben – nicht nur für sich selbst – könnte man da anführen, die Erweckung und Intensivierung von Empathie für nicht konforme Mitmenschen und zunächst fremd anmutende Kulturen, die Weiterentwicklung verantwortungsvollen Handelns in Politik und Gesellschaft und noch manches mehr. Ich bin zum Beispiel ziemlich sicher, dass die deutsche Einwanderungs-, Flüchtlings- und Asylpolitik anders und besser aussehen würde, hätten die maßgeblichen Politiker und andere wichtige Entscheidungsträger die spätestens seit den 1990er-Jahren kaum noch zu übersehende interkulturelle Literatur – mit ihren vielfältigen Blicken »von außen« – wirklich wahrgenommen. Ich bin auch recht sicher, dass die intensive Lektüre von Literatur und Dichtung dazu führen kann, die überall festgestellte und kritisierte Verrohung der öffentlichen wie der privaten Sprache zu erkennen, nicht auf sie hereinzufallen oder ihr sogar bewusst entgegenzutreten. Und ich bin … oh weh, doch ein hoffnungsloser Idealist? Urteilen Sie selbst, fangen Sie einfach an zu lesen …

Das Projekt Kein Twitter, kein Facebook ist auf vier Bände angelegt und enthält ungefähr zwei Drittel meiner in den letzten beiden Jahrzehnten entstandenen Texte. Alle wurden leicht überarbeitet. Irgendwelche Positionierungen auf politischen, wissenschaftlichen oder kulturellen »Feldern« sind mit diesem Projekt nicht beabsichtigt. Nachweise der Erstpublikationen finden sich am Ende jedes Einzelbandes. Die Regelkonformität der Rechtschreibung ist der Lesbarkeit untergeordnet. Das modische Thema »Sprache und Gender« bleibt außen vor. Zu danken wäre vielen Freunden und Kollegen, auch wenn sie von meinen Plänen nichts wussten. Einer, der davon wusste, war der Schriftsteller Tiny Stricker, der mich zu diesem Projekt fast schon überreden musste und das mit Feingefühl und Beharrlichkeit getan hat. Danke, Tiny! Voilà, es folgt der dritte Streich …

München, im Juli 2020

Klaus Hübner

Heimelig, rebellisch, bayerisch

In Bayern lief manches anders. Literaturgeschichte – mit viel Tassilo und wenig Polt

Die Bayerische Literaturgeschichte von Klaus Wolf verkauft sich gut. Das scheint von Publikumsseite her zu bestätigen, was der Verfasser in seinem Vorwort, hier wohl eher mit Blick auf die Wissenschaft, so formuliert: »Eine bayerische Literaturgeschichte auf wissenschaftlichem Niveau, die sich gleichwohl auch an ein gebildetes Laienpublikum wendet, stellt ein Desiderat dar.« Von vornherein ist Klaus Wolf, Professor für Deutsche Literatur und Sprache des Mittelalters und der Frühen Neuzeit mit dem Schwerpunkt Bayern an der Universität Augsburg, vollkommen bewusst, dass jegliches Unterfangen, die Literaturgeschichte einer Region »stilistisch und methodisch einheitlich« darzustellen, ein per se nicht unproblematisches ist. Genau dies wird im Vorwort erörtert. Mit dem »Argument der Übersichtlichkeit«, wie immer man das verstehen darf, wird auf den »Einführungscharakter« des Buches hingewiesen – folglich kann es nicht enzyklopädisch sein, sondern muss exemplarisch vorgehen. Mit dem bis heute maßgeblichen, 1987 von Albrecht Weber herausgegebenen Handbuch der Literatur in Bayern kann und will sich diese ihre Kapitel nach Jahrhunderten ordnende Einführung nicht messen.

Nicht ohne Absicht wurde die genaue Bezeichnung des Lehrstuhls von Klaus Wolf genannt. Denn in den damit angesprochenen Jahrhunderten kennt sich der Verfasser bestens aus; dass er zur Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit gründlich geforscht und vielfach publiziert hat, merkt man seiner Literaturgeschichte gleich an. Wobei Literaturgeschichte richtiger- und unvermeidlicherweise immer als Geistes- und Kulturgeschichte präsentiert wird, meist auch als Sozialgeschichte. Einundzwanzig Seiten zur Literaturpolitik der Agilolfinger, nebst Würdigungen des Hildebrandslieds und des Kudrun-Epos! Danach elf Seiten zur althochdeutschen Literatur des 9. Jahrhunderts, wobei der Hinweis wertvoll ist, dass die auf karolingische Initiative entstandenen althochdeutschen Texte »primär dem besseren Verständnis der dogmatisch unanfechtbaren lateinischen Theologie dienen«. Im für Oberdeutschland katastrophalen Säkulum der Ungarneinfälle kommt die volkssprachliche Literatur kaum noch vor, auch das 11. Jahrhundert gibt nicht allzu viel her. Dann aber! Das Rolandslied des Pfaffen Konrad, geistliche Dichtung aus Windberg, Tegernsee und Freising, die wegen ihres Leben Jesu »wohl als erste deutsche Dichterin« hervorzuhebende Frau Ava, und vor allem: der Minnesang! Hier muss eine auf Bayern konzentrierte Literaturgeschichte festhalten, »dass die frühesten Vertreter mittelhochdeutscher Minnelyrik ganz eindeutig als (sprachlich) bairische Dichter zu betrachten sind«. Weil hier, was bei Einführungen nicht unbedingt üblich ist, zahlreiche interessante Details erörtert werden, zum Beispiel die Bezüge zwischen donauländischem Minnesang und dem in und um Passau herum entstandenen Nibelungenlied, braucht das 12. Jahrhundert wiederum einundzwanzig Seiten. Dem großartigen Wolfram von Eschenbach mit Recht zur Seite gestellt wird der im Umkreis der frühen Wittelsbacher dichtende Neidhart von Reuental. Ausführlich gewürdigt wird natürlich das Nibelungenlied, und da das 13. Jahrhundert noch andere bedeutende Sprachkunstwerke hervorbrachte, zum Beispiel den mehr als zehntausend Verse umfassenden Artusroman Wigalois des Wirnt von Grafenberg oder die im Innviertel zu situierende Verserzählung Meier Helmbrecht, da fränkische Dichter wie Konrad von Würzburg oder Süßkind von Trimberg, auch schwäbische wie Ulrich von Thürheim nicht unerwähnt bleiben dürfen und die Gesänge der Carmina Burana erklärungsbedürftig sind, wird auch dieses Kapitel lang und immer länger. Natürlich ist es für das hochkulturell unterfütterte Selbstbewusstsein der Region nicht unerheblich, dass die Kanzlei Ludwigs des Bayern im 14. Jahrhundert »keinen kleineren Beitrag zur Ausbildung der neuhochdeutschen Schriftsprache« geleistet haben soll als die Prager Kanzlei Karls IV., und natürlich sollen die wenig bekannten mystischen Prosawerke von Christina Ebner oder Adelheid Langmann nicht unter den Tisch fallen. Hans von Schiltberg mit seinen ethnologischen Studien und seinen Aussagen über den Islam gehört wie Johannes von Indersdorf oder Johannes Hartlieb ins 15. Jahrhundert, der Historiker, Maler und Hofdichter Ulrich Füetrer ebenfalls und die frühen Nürnberger Fastnachtspiele auch, und so sind wir zu Beginn des Reformationszeitalters bereits in der Mitte des Buches.

 

Wie zögerlich sich der Humanismus im Bayernland und an der Universität Ingolstadt durchsetzte, wie sich der Kampf der Konfessionen seit 1517 auch in Oberdeutschland literarisch niederschlug, was die Bayerische Chronik des Aventinus und der 1509 in Augsburg gedruckte Prosaroman Fortunatus auch für spätere Zeiten bedeutet haben, was es mit Nürnberg und Hans Sachs auf sich hat – Klaus Wolf ist zu Hause in der Frühen Neuzeit, und deshalb muss er auch steile Thesen nicht scheuen. Zum Beispiel bezeichnet er die immer noch sehr verbreitete Vorstellung, die Lutherbibel habe die Weiterentwicklung der neuhochdeutschen Schriftsprache bewirkt, ganz schlicht als »Mär« – den »literaturgeschichtlichen Ertrag von Reformation und Gegenreformation« solle man auch für Bayern »weitaus nüchterner als bislang betrachten«. Die leider kaum noch gelesenen Nürnberger Barockpoeten – Georg Philipp Harsdörffer, Johann Klaj, Sigmund von Birken und andere – kommen zu ihrem Recht, wobei immer zu bedenken sei: »Die Schäferidylle an der Pegnitz ist nur vor dem Hintergrund der Kriegsgräuel wirklich verständlich.« Ihnen gegenübergestellt wird die prunkvolle kulturelle Begleitung der Gegenreformation: das Werk von Jacob Balde, das Wirken des Abraham a Sancta Clara oder die Passionsspiele des 17. Jahrhunderts. Die literarische Aufklärung sei, vor allem in Altbayern, »nicht unwesentlich als geistlich-klerikale Initiative zu verstehen«, heißt es im Kapitel über das 18. Jahrhundert – in der jüngeren Forschung zum Werk von Lorenz Westenrieder oder dem des »schwäbischen Cicero« Sebastian Sailer ist genau das im Detail herausgearbeitet worden. In Franken gab es aber auch eine durchgehend protestantisch geprägte Aufklärung, es gab den Ansbacher Rokokolyriker Johann Peter Uz und den Roman Reise in die mittäglichen Provinzen von Frankreich, den der Coburger Moritz August von Thümmel geschrieben hat und von dessen Verkaufszahlen Goethe und Schiller nur träumen konnten.

Zum literarisch ertragreichen 18. Jahrhundert hätte man sich noch mehr und noch Genaueres gewünscht – hier jedoch, und auch in den noch folgenden Kapiteln, macht es sich Klaus Wolf ein bisschen zu leicht. Kann man die Vielfalt bayerischer Literatur im 19. Jahrhundert wirklich von den Regenten des Landes her sortieren? Hier Ludwig I. und Ludwig II. und ihre sehr unterschiedlich akzentuierte »romantische Kunstauffassung«, dort Maximilian II. mit seiner Sympathie für die »fortschrittsoffenen Künstler«? Immerhin werden der zu Unrecht vergessene Reiseschriftsteller Ludwig Steub, Johann Andreas Schmeller und sein unverzichtbares Bayerisches Wörterbuch sowie die fränkischen Ausnahmepoeten Jean Paul und Friedrich Rückert gebührend gewürdigt, und dass das 19. Jahrhundert auch eine »Hochzeit der Mundartdichtung« war, kommt ebenfalls nicht zu kurz. Zu kurz jedoch kommen, um nur einige Beispiele zu nennen, der Lyriker August von Platen, Michael Georg Conrad und sein einer Neuentdeckung harrendes Opus Was die Isar rauscht, Deutschlands erster Literaturnobelpreisträger Paul Heyse und die der Krokodil-Gruppe angehörigen Poeten, der aus Bad Kissingen stammende Oskar Panizza oder der so gesellschaftskritisch wie elegant schreibende Ur-Münchner Josef Ruederer.

Das 20. Jahrhundert wird zwar ausführlich dargestellt, mehr als klug arrangiertes Namedropping findet man aber selten. Wer wissen will, worin eigentlich die Bedeutung des Werks von Frank Wedekind oder Thomas Mann besteht, was Rainer Maria Rilke und Stefan George – abgesehen von zeitweiligen Aufenthalten dort – überhaupt mit Bayern zu tun haben, warum Revolution und Räterepublik so intensiv von Literaten geprägt waren oder weshalb der Schwabing-Mythos munter weiterlebt, der muss zu anderen Büchern greifen. Lion Feuchtwanger, Bertolt Brecht, Marieluise Fleißer, Oskar Maria Graf, Ödön von Horváth und viele andere – sie alle kommen vor, aber oft zu kurz und zu oberflächlich. Dafür erfährt man literarhistorisch weitaus weniger Wichtiges, wohl aus früheren Arbeiten des Verfassers Hervorgegangenes – etwa zum »Renouveau Catholique als europäische Bewegung in Schwaben« oder zu den »Münchner Turmschreibern«. Die sozial und politisch kritische neue Mundartliteratur der 1970er-Jahre wird knapp gewürdigt, dem im Untertitel genannten Gerhard Polt sind nur ein paar nichtssagende Zeilen gewidmet.

Jenseits des Diskutablen ist die knappe Seite über die sogenannte interkulturelle Literatur in Bayern, auf der der aus Teheran stammende, seit 1965 in München lebende großartige SAID ebenso wenig vorkommt wie der Ausnahmepoet Cyrus Atabay oder der Eichstätter Schriftsteller und Übersetzer Akos Doma. Die moderne Lyrik aus Bayern wird eher namenreich abgearbeitet – dass es zwischen den bedeutenden Werken von Günter Eich, Hans Magnus Enzensberger oder Reiner Kunze einerseits und den Versen von Godehard Schramm oder Anton G. Leitner andererseits gravierende Qualitätsunterschiede gibt, geht aus Klaus Wolfs Überblick nicht unbedingt hervor. Nichts gegen Anna Wimschneider, Manfred Böckl oder Tanja Kinkel, nichts gegen den Schwäbischen Jedermann von Hermann Pfeifer oder den Bayerischen Jedermann von Oskar Weber, und auch nichts gegen Weiterungen des genuin Literarischen in Richtung Musik oder Film! Aber angesichts von Literaten wie Wolfgang Koeppen, Tankred Dorst oder Carl Amery wird man festhalten müssen: Im 20. Jahrhundert stimmen die Proportionen und Gewichtungen nicht mehr so ganz, und damit verliert das im Großen und Ganzen durchaus imposante Buch dann doch einiges an Relevanz.

Aus den zweieinhalb das Opus abschließenden Seiten – ihnen folgen noch etwas spärliche Literaturhinweise und ein Register – spricht der Stolz des Autors. Klaus Wolf meint nachgewiesen zu haben, »dass sich Bayern literaturgeschichtlich auf Augenhöhe mindestens mit Österreich oder der Schweiz befindet«. So what? Was das wohl bedeutet? Kann und soll man mit Literaturgeschichten Länderspiele bestreiten? Klaus Wolf ist sich auch ganz sicher, dass man seinem Werk Berechtigung und Notwendigkeit, ja Unausweichlichkeit nicht wirklich absprechen könne. Sein resümierender Schlusssatz lautet: »Bayern kann und konnte es auch allein, wobei das andere Bayern als gesellschaftskritische literarische Potenz immer schon präsent war.« Nichts gegen ein gesundes Selbstbewusstsein – aber ein bisschen klingt's am Ende dann doch wie das zur Genüge bekannte, immer auch etwas protzige »mia san mia«.

Klaus Wolf: Bayerische Literaturgeschichte. Von Tassilo bis Gerhard Polt. München 2018: Verlag C. H. Beck. 368 S.

Literatur und Landschaft. Eine voluminöse Literaturgeschichte Frankens
Literaturgeografie

Dass er ein, wenn nicht der Experte schlechthin für Frankens Literatur und deren Geschichte ist, hat Hermann Glaser, der langjährige Kulturdezernent der Stadt Nürnberg, in unzähligen Vorträgen, Aufsätzen, Radiosendungen und Büchern bewiesen. Im ehrwürdigen Alter von siebenundachtzig Jahren legt der vielfach ausgezeichnete Autor und Kulturpolitiker ein schwergewichtiges Werk vor, das man mit einigem Recht als Summe seiner lebenslangen Bemühungen um die Literatur Frankens bezeichnen darf. Auf dem Erlanger Poetenfest stellte Hermann Glaser das Opus erstmals vor: Franken – Eine deutsche Literaturlandschaft. Er versteht seine Arbeit als Fortführung und Erweiterung der Fränkischen Klassiker aus dem Jahr 1971, einem aus einer Sendereihe des BR-Studios Nürnberg entstandenen, von Wolfgang Buhl herausgegebenen Werk, das das weitverzweigte Thema in Einzeldarstellungen erschlossen hatte. Dem Publizisten und Rundfunkmann Wolfgang Buhl und dem Mediävistikprofessor Horst Brunner wird für ihre Vor- und Mitarbeit gebührend gedankt, andere »Zulieferer« werden erwähnt. Der Verfasser, betont Glaser, sei in der komfortablen Lage gewesen, »sich als umfangreicher Kompilator zu entlasten«, und bei diesem keineswegs unschöpferischen Zusammenstellen spiele das Zitat eine wichtige Rolle. So weit, so gut. Und da die »Geografie der Literatur«, für deren Anerkennung als wichtige Hilfswissenschaft jeglicher Beschäftigung mit Literatur vor allem die Schweizer Literaturwissenschaftlerin Barbara Piatti seit Jahren eine Lanze bricht, ein Forschungsfeld ist, mit dem schon jeder Literaturinteressierte einmal irgendwie in Berührung gekommen ist, freut man sich auf eine kompetente und erhellende Darstellung der Literaturlandschaft Franken.

Deutschland und Franken

Aber ach! Hermann Glaser hat in seinem ehrenwerten Bemühen, die literarischen Beziehungen und vielfachen Wechselwirkungen zwischen Franken und dem übrigen Deutschland herauszuarbeiten, eine Entscheidung getroffen, über die man vehement streiten kann, ja streiten muss: Er hat dem Fränkischen, das erst ab Seite 355 drankommt, einen umfangreichen ersten Teil vorangestellt, der die Epochen der deutschen Literatur vom frühen Mittelalter bis zu Franz Xaver Kroetz, Herbert Achternbusch und Martin Sperr behandelt – eine ganz konventionelle Geschichte der deutschsprachigen Literatur. Man liest also zunächst einmal einen vollkommen überraschungsfreien germanistischen Grundkurstext, der Glaser als grundfleißigen Kompilator zeigt, aber kaum das bewirken wird, was er eigentlich soll: die Literatur Frankens erkenntnisfördernd zu beleuchten und sie in größeren Zusammenhängen zu verorten. Der Entschluss, sein Opus so beginnen zu lassen, macht den Einstieg unnötig mühsam. Erschwerend kommt hinzu, dass Hermann Glaser völlig zu Recht für sehr vieles berühmt, als wirklich herausragender Stilist jedoch noch nicht groß aufgefallen ist. Wer nicht möchte, dass das spannende Thema in weithin bekannten Fakten zu Oswald von Wolkenstein, Adelbert von Chamisso, Max Frisch oder Christa Wolf untergeht, wer dieses Buch nicht erschlagen und erschöpft zuklappen möchte, bevor es zur eigentlichen Sache geht – dem muss man dringend raten, den gesamten ersten Teil zu überspringen und sich mit den gut zweihundert Seiten zu begnügen, die dem Kernthema der Studie gelten: Franken – Eine deutsche Literaturlandschaft.