Management 4.0 – Vorbereitung auf die Zukunft

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Macht und Mächtige

Als praktizierender Arzt, der körperliche Leiden behandelte und als aktiver Teilnehmer an Sigmund Freuds psychoanalytischen Diskussionsrunden entdeckte Viktor Adler, dass bei jeder Lebensäußerung des Menschen körperliche und seelische Vorgänge immer gemeinsam wirksam sind und eine unteilbare Einheit, ein Individuum, bilden. Diese Entdeckung bildet heute die Grundlage der Psychosomatik. Beim Beobachten von Organminderwertigkeiten konnte Adler feststellen, dass Körper und Psyche die Tendenz haben, diese auf irgendeine Art zu kompensieren. Situationen der Minderwertigkeit oder Unterlegenheit fand Adler im psychischen Bereich vor allem bei den drei Lebensaufgaben Arbeit, Liebe und Gemeinschaft wieder. Sie lösen beim Menschen einen Gefühlszustand aus, den Adler Minderwertigkeitsgefühl nannte. Ähnlich wie bei der Kompensation einer Organminderwertigkeit ist die menschliche Psyche bestrebt, diesen Zustand der Unterlegenheit durch ein – wie Adler es nannte – Geltungsstreben zu überwinden. Wie gut der Mensch in der Lage ist, solche Herausforderungen des Lebens zu bestehen, hängt nach Adler in erster Linie davon ab, wie er die erste Unterlegenheitssituation, seine Hilflosigkeit als Säugling, bewältigen konnte. Adler stellte fest, dass dieser positive Antrieb im Wachstums- und Entwicklungsprozess die Grundlage für die Erziehbarkeit des Menschen bildet, weil er in dieser Situation unbedingt auf die Hilfe seiner Beziehungspersonen angewiesen ist. In dieser frühen Wechselbeziehung zwischen Mutter und Kind bildet sich ein Gefühl des Aufgehoben-Seins unter den Menschen, das Adler Gemeinschaftsgefühl nannte, und das zu einem unbewussten Persönlichkeitsanteil wird. Das Gemeinschaftsgefühl steht im Zentrum der Adler’schen Lehre, weil es den Gradmesser für die seelische Gesundheit von Individuum und Gemeinschaft darstellt. Im Menschenbild Adlers hat das Individuum eine Sozialnatur, die von einem Gemeinschaftsgefühl geleitet ist. Adler untersuchte auch die abweichenden und die krankhaften psychischen Erscheinungen. Nach seinem Prinzip der Einheit seelischer Vorgänge sah er diese als irrtümliche Antworten auf die Anforderungen des Lebens. Ein verstärkt erlebtes Minderwertigkeitsgefühl, dem Adler den Begriff Minderwertigkeitskomplex gab, konnte zu einer Überkompensation in Form eines überhöhten Geltungsstrebens oder zum sogenannten Willen zur Macht führen.

Bitte tippen Sie jetzt nicht „Psychopathen in der Chefetage“ oder etwas in der Art in Ihre Suchmaschine, nichts liegt uns ferner, als Ihnen Angst zu machen. Die Gedanken Adlers sind einfach hochinteressant und es wert, sich mit ihnen zu beschäftigen, sie zu reflektieren, über sie nachzudenken. Wir wollen sie gerade an dieser Stelle nicht als Feststellung oder als Wertung verstanden wissen. Die vorangegangenen Versuche einer Darstellung und Definition von Macht zeigen einfach sehr gut auf, wie schwierig dieser Begriff und seine Auslegung einzuordnen sind und auch, welche Umstände und Motive unter Umständen hinter der unterschiedlichen Ausübung von Macht in der Praxis stecken können.

Macht als Ersatz für Führungsarbeit – wir haben verlernt, Entscheidungen zu treffen

Bei einem Seminar unterhielten sich in der Pause zwei Teilnehmer miteinander, die im gleichen Unternehmen arbeiteten. „Wer trifft eigentlich bei euch die Entscheidungen?“, fragte der eine. Der andere dachte kurz nach: „Eigentlich der Johannes, der ist ja Abteilungsleiter. Aber de facto entscheidet der Christopher. Den Johannes fragt auch kaum noch wer, weil das dauert immer ewig, bis der zu einer Entscheidung gelangt ...“ Eine Studentin erzählte vom Unternehmen ihres Vaters, in dem der Eigentümer Aufgaben grundsätzlich an mehrere Mitarbeiter gleichzeitig verteilt. Er tut dies in Einzelgesprächen und die Mitarbeiter wissen nie, wer außer ihnen noch mit der gleichen Aufgabe betraut wurde. Der Eigentümer lässt sein Team gegeneinander antreten, um so nach seiner Ansicht zur besten Entscheidung beziehungsweise Lösung zu gelangen. Seine Mitarbeiter verbringen ihre Zeit und Energie natürlich nicht mit der optimalen Lösung der Aufgabe, die ihnen zugeteilt wurde, sondern mit ganz anderen Fragen: Wer arbeitet noch an der Sache? Mit wem kann ich mich abstimmen? Wer macht welchen Vorschlag? Wer von den anderen kann besser sein als ich? Wie sehr muss ich mich anstrengen?

Entscheidungsfähigkeit und Urteilskraft

Noch nie durften oder mussten wir so viel entscheiden wie heute und unzählige Wahlmöglichkeiten machen uns das Leben nicht nur leichter. Die Kunst und die Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen, gehören zum Rüstzeug jedes Menschen, um ein erfülltes Leben führen zu können, und sie gehören zu den unabdingbaren Fähigkeiten jeder Führungskraft. Nimmt ein Chef seine Rolle als Vorgesetzter nicht wahr, entsteht ein Machtvakuum. Jemand anderer wird diese Macht wahrnehmen, denn Macht findet immer statt. Wenn Mitarbeiter ihren Aufgaben nicht nachkommen, diese unzuverlässig oder nur in Fragmenten erledigen, folgt die Konsequenz in der Regel auf dem Fuße. Sie erhalten von ihren Vorgesetzten entsprechendes Feedback oder sie werden verwarnt und im schlimmsten Fall ereilt sie irgendwann die Kündigung. Bei Vorgesetzten selbst gestaltet sich das nicht mehr ganz so einfach. Ein Vorgesetzter, der seiner Führungsrolle nicht gerecht wird, ist nämlich meistens mit der entsprechenden Macht ausgestattet, die ihn vor Bestrafung schützt. „Huber, Meier, Müller – sofort zu mir!“ Die Mitarbeiter im Großraumbüro rollen mit den Augen, denn sie wissen schon, was jetzt kommt. „Eine Runde Niedermachen“, so beschrieb es einer unserer Seminarteilnehmer. „Wenn der Chef schlechte Laune hat oder wegen der rückläufigen Verkaufszahlen Druck vom Vorstand bekommt, lässt er es an uns Mitarbeitern aus.“

In einem großen deutschsprachigen Verlagshaus fiel im Vorstand die Entscheidung, mit sofortiger Wirkung auf Publikationen über das Flüchtlingsdrama zu verzichten. Das Verlagshaus publizierte neben Büchern und Bildbänden auch Zeitungen und Magazine. Anstatt den Mitarbeitern die Wahrheit zu sagen und sich mit ihren berechtigten Fragen zu Themen wie Meinungs- und Pressefreiheit und der Tatsache, dass den Menschen die Wahrheit durchaus zuzumuten sei und sie sogar ein Recht darauf hätten, auseinanderzusetzen, versammelte der Verleger die Mitarbeiter um sich und tat Folgendes: In einem mehrstündigen Meeting erklärte er der Reihe nach jedem Einzelnen von ihnen, wie sie in der Vergangenheit ihre Arbeit schlecht angelegt hätten, Artikel nicht auf den Punkt gebracht hätten, Themen verfehlt hätten und die Verlagslinie gerade in Sachen Flüchtlingsthema vollkommen falsch verstanden hätten. Und natürlich, dass es aufgrund dieses Versagens fortan keine Beiträge mehr zur Flüchtlingsthematik geben würde – was ihm persönlich sehr leid tue. Verbockt hätten es die Mitarbeiter mit ihrer Inkompetenz und nun müssen alle damit leben. Was wäre die Alternative gewesen? Den Mitarbeitern die Wahrheit zu sagen, nämlich dass er selbst vom Vorstand überstimmt worden war, ihm längst das Vertrauen entzogen worden und seine Macht im Haus enden wollend war. Da war es ihm lieber, die Mitarbeiter mit Willkür und Demütigung zu verunsichern und so von seinen eigenen Fehlern abzulenken.

Wer so etwas tut? Jemand mit einem sehr geringen oder jemand mit einem völlig überzogenen Selbstbewusstsein. Auf jeden Fall jemand, der den eigenen (Macht-)Status unterstreichen will und deshalb seine Mitmenschen abwertet. Hier gibt es wiederum Vorgesetzte, denen es Freude bereitet zu verletzen und zu demütigen. Es gibt aber auch jene, denen es nur darum geht, sich selbst aufzuwerten und die gar nicht darüber nachdenken, was sie bei ihren Mitarbeitern anrichten. Eine häufige Ursache für eine schlechte Entscheidungskultur in Unternehmen ist der machtorientierte Narzissmus. Begünstigt durch Demütigung in der Kindheit und Jugend, wie zum Beispiel bei Stalin oder durch übertriebene Verherrlichung des Kindes – in jedem Fall kann das ein hochgiftiger Cocktail sein. Es gibt ihn auch in beiden Varianten – vom Vater beschämt, von der Mutter vergöttert, ist Adolf Hitler das wohl berühmteste Beispiel. Reinhard Haller hat mit „Die Narzissmusfalle“ das wohl wichtigste und größte Buch über den Narzissmus geschrieben und weiter darauf einzugehen, überschreitet nicht nur unsere fachliche Kompetenz, sondern würde auch den Rahmen des Buches sprengen. Für jene, die es interessiert, ist es ein lohnenswerter Blick auf dieses facettenreiche Thema, der nicht nur dem Studium seines Umfeldes dienen kann, sondern auch der Selbstreflexion.

Der blinde Fleck

„Meine Mitarbeiter sagen, ich sei ein Meister der Verdrängung“, erzählte uns der Eigentümer eines Beratungsunternehmens mit Stolz in der Stimme.

Er sehe nur das Positive und könne Rückschläge rasch wegstecken. Seine Mitarbeiter bestätigen das, auch wenn sie es anders meinen. Er sieht bei sich und seinen Entscheidungen nur das, was er richtig gemacht hat. Hat er etwas falsch gemacht, schiebt er es auf seine Mitarbeiter oder blendet seine Fehler aus, so, als gäbe es sie nicht. Er hört nur „Meister“, ein positives Wort, das er auf sich bezieht – für „Verdrängung“ ist in seiner narzisstischen Welt kein Platz. Der Narzissmus ist nach wie vor eine unterschätzte Bedrohung. Größenfantasien bei einem gesunden Geist in einem gesunden Umfeld können Antrieb für wirklich außergewöhnliche Leistungen sein, aber bei entsprechenden Bedingungen ist es von der Größenfantasie zum Größenwahn nicht weit. Rufen wir uns jüngste größenwahnsinnige Konzepte in Erinnerung. Jene zum Beispiel, die die Finanz- und Wirtschaftskrise erst möglich gemacht haben. Wozu all das führt, können wir jährlich an der Gallup-Studie am erschreckend hohen Prozentsatz der inneren Kündigungen in Unternehmen ablesen. Noch nicht bei allen Vorgesetzten hat sich herumgesprochen, dass nicht nur die Gesellschaft und unser Zusammenleben, sondern auch Unternehmen und in weiterer Folge die Wirtschaft davon profitieren, wenn ihre Mitwirkenden auf gleicher Augenhöhe und wertschätzend miteinander umgehen. Der große Einfluss guter oder schlechter Führung wird in der Gallup-Studie beim Thema Innovationskultur besonders deutlich: So stimmen nur 9 Prozent der emotional nicht an das Unternehmen gebundenen Mitarbeiter der Aussage uneingeschränkt zu, dass ihr Vorgesetzter für neue Ideen und Vorschläge offen ist – in der Gruppe der emotional hoch Gebundenen sind es 85 Prozent. Wer mit seinen Ideen regelmäßig auf taube Ohren beim Vorgesetzten stößt, resigniert irgendwann, zieht sich zurück und bringt sich nicht mehr ein. Im schlimmsten Fall lässt er sogar davon ab, das Unternehmen vor negativen Folgen zu schützen.

 

Führung mit Augenmaß

Solidarität und Achtsamkeit sind für das Funktionieren von Teams unverzichtbar. Über Führungsarbeit ist so vieles geschrieben worden, dass es vor perfekten Führungskräften nur so wimmeln könnte, wenn sich nur jeder Dritte daran hielte und sich zwei bis drei der unfehlbaren Tools aneignen würde. Das tut es aber nicht und da fragt man sich doch, weshalb. Eine Umfrage von „Die Presse“ aus dem Jahr 2013 ergab, dass 63 Prozent der befragten Leader meinen, der Rhythmus von Besprechungen, Themen und Aufgaben ist bedrohlich schnell geworden. Über die Hälfte fühlt sich am Ende des Tages leer und kaputt, weil kaum etwas vom vorgenommenen Tagespensum geschafft wurde. Von den Mitarbeitern werden Chefs häufig als getriebene und gehetzte Troubleshooter erlebt. 62 Prozent der österreichischen Angestellten meinen, dass dabei Orientierung und Sinnvermittlung für das Team auf der Strecke bleiben. Prekär: 45 Prozent aller Führungskräfte realisieren, dass ihre Mitarbeiter über zu viel Arbeit und fehlende Orientierung klagen und es ihnen genau so geht, sie sich aber nichts anmerken lassen dürfen. Unternehmen müssen sich dringend um mehr Mitarbeiterbindung kümmern, und zwar bei allen Beschäftigtengruppen, sonst droht auf breiter Linie ein Verlust der Wettbewerbsfähigkeit. Laut Gallup-Studie hat sich bei den inneren Kündigungen der Anteil der abhängig Beschäftigten im Alter von 50 plus zwischen dem Jahr 2001 und dem Jahr 2011 von 21 Prozent auf fast 29 Prozent erhöht. Gerade diese Generation ist es jedoch, die mit 29 Prozent von allen Altersgruppen den höchsten Anteil an inneren Kündigern aufweist, während es bei der Generation X 23 Prozent und bei der Generation Y 18 Prozent sind. Bei zentralen Faktoren, die über die emotionale Mitarbeiterbindung entscheiden (unter anderem Feedback vom Vorgesetzten, das Gefühl, unterstützt und gefördert zu werden, als Mensch gesehen zu werden und so weiter), weist die Generation 50 plus wesentlich schlechtere Werte auf als die Generation Y, was daran liegt, dass sich die ältere Generation der Arbeitnehmer vernachlässigt und nicht mehr wertgeschätzt fühlt. Man könnte sie fast als die vergessene Generation am Arbeitsplatz-Radar bezeichnen. Unternehmen dürfen ihr Humankapital nicht vernachlässigen und müssen dem Führungsverhalten wesentlich größere Bedeutung beimessen. Der Erfolg eines Unternehmens hängt von verschiedenen Faktoren ab und dabei wird aus der Position der Macht heraus einer häufig übersehen: der Faktor Mitarbeiter.

In einem mittelständischen Unternehmen in Österreich entschied der Eigentümer, sich aus dem Tagesgeschäft zurückzuziehen und einen Geschäftsführer zu installieren. Nachdem der einen guten Überblick über die Vorgänge im Unternehmen gewonnen und alle Mitarbeiter mit ihren Stärken und Schwächen kennengelernt hatte, entschloss er sich zur Kündigung eines leitenden Angestellten. Die Kündigungsgründe waren triftig: fachliche Mängel, fehlende Motivation und Unterminierung seiner Entscheidungen. Da sich die Lage selbst nach mehreren offenen Gesprächen zwischen dem Mitarbeiter und der Geschäftsleitung nicht besserte, sondern sich im Gegenteil die kleinen Schikanen des Angestellten mehrten, informierte der Geschäftsführer den Eigentümer über seine Entscheidung, sich von diesem Mitarbeiter zu trennen. Der Eigentümer überging seinen Geschäftsführer und stimmte gegen die Kündigung dieses Mitarbeiters. Ein katastrophales Signal in beide Richtungen: Der Mitarbeiter fühlte sich bestätigt und arbeitete noch offensiver gegen den Geschäftsführer. Der Eigentümer sandte ein klares Signal an den Geschäftsführer zur Machtfrage im Unternehmen und schwächte seinen Geschäftsführer im Ansehen der Mitarbeiter. Um den Ausgang der Geschichte nicht schuldig zu bleiben: Der Geschäftsführer hat sich sehr bald darauf entschieden, das Unternehmen zu verlassen.

Geschlossene Systeme

Unternehmen sind geschlossene Systeme. Wie Familien oder etwa die katholische Kirche. Man hat die Wahl: Ist man drinnen oder ist man draußen. Die meisten entscheiden sich für drinnen und beugen sich damit den Regeln des Systems. Das ist nämlich Voraussetzung dafür, dabei sein zu dürfen. Durch falsch verstandene Machtausübung auf die Mitarbeiter herrschen in Unternehmen oft atmosphärische Zustände, die kaum erträglich sind und Mitarbeiter resignieren lassen. In so einem Unternehmensmilieu passiert dann Folgendes: Die Mitarbeiter wie auch die Vorgesetzten verlernen, Entscheidungen zu treffen. Der Vorgesetzte verlernt es dadurch, dass er seinen Willen einfach über die Köpfe der Mitarbeiter hinweg durchsetzt und von seinem Durchgriffsrecht aufgrund seiner Machtposition Gebrauch macht. Er verlernt, Entscheidungen abzuwägen, über sie nachzudenken, in einem erweiterten Kreis darüber zu befinden und so die Mitarbeiter im Boot zu halten. Meist verlässt er sich gleichzeitig auf einen ganzen Pool von Kontrollinstrumenten. Die Mitarbeiter verlernen indes, selbstbewusst ihre Meinung zu vertreten, ihre fachlichen Bedenken zu einer Entscheidung anzumelden und gemeinsam mit dem Vorgesetzten zu einer guten Lösung im Sinne des Unternehmens zu gelangen. Stattdessen wird das Umsetzen einer Entscheidung – im Wissen, dass sie dem Unternehmen abträglich ist und sich vielleicht sogar schädlich auswirkt – zu einer sehr gefährlichen Form des stillen Widerstands der Mitarbeiter.

Entscheidungsschwäche birgt hohes manipulatives Potenzial. Seminarteilnehmer erzählen von Vorgesetzten, denen es schwerfällt, sich Ideen und Vorschläge ihrer Mitarbeiter vorzustellen. Sie lehnen diese deshalb vorsichtshalber ab. Wieder andere berichten von Vorgesetzten, die sehr schnell Entscheidungen treffen, vermutlich, um nach außen hin stark und konsequent zu erscheinen. Danach sind sie aber von ihren Entscheidungen nicht mehr abzubringen. Selbst dann nicht, wenn sie sich als bedenkenswert oder einfach verkehrt herausstellen. Mitarbeiter könnten dann ja denken, der Chef sei schwach. Hier gibt es unzählige Varianten und kennt man erst einmal die gegenseitigen Muster, birgt dieses Wissen natürlich hohes manipulatives Potenzial. Das gilt für beide Seiten, Mitarbeiter wie Vorgesetzte. Ein Mitarbeiter, der weiß, dass sein Vorgesetzter von einer einmal getroffenen Entscheidung nicht mehr abzubringen sein wird, überlegt lange, welche Vorschläge oder Alternativen er ihm überhaupt präsentiert. Ein Vorgesetzter, der weiß, dass ein bestimmter Mitarbeiter gegen eine bestimmte Entscheidung Widerstand leisten wird, bindet eben jenen Mitarbeiter nicht in die Entscheidung mit ein, sondern stellt ihn vor vollendete Tatsachen. Ein Mitarbeiter, der weiß, dass sein Vorgesetzter aus Prinzip und nicht aus einer fachlichen Komponente heraus Korrekturen bei den Entwürfen der Kampagne anbringt, wird die Kampagne erst im letzten Moment vorlegen, wenn keine Zeit mehr für großartige Änderungen ist. Man könnte es so sehen: Zivilisation beruht auf sanftem gegenseitigen Druck und Kontrolle. So hat sich in den vergangenen Jahrzehnten ganz still und leise eine Verschiebung der Machtverhältnisse in Unternehmen ergeben. Offen oder gar öffentlich ausgetragene Machtspiele sind eher selten geworden. Beinharte Machtkämpfe sind sanfteren Methoden gewichen: Resignation, Manipulation, Unterminierung. Sie scheinen aufs Erste nicht ganz so brutal, aber der Eindruck täuscht.

Controlling killt

„Das wäre aber auch billiger möglich gewesen!“ Die Controller-Killerphrase schlechthin. Oder: „Das wäre doch bestimmt auch besser gegangen um den Preis!“ Alles geht besser: Der FC Bayern hätte auch 10:0 statt nur 8:0 gegen den HSV gewinnen können. Billiger geht es auch immer wieder, aber eben nicht endlos.

Man muss auch Führungskraft sein

Die Welt der Arbeit verändert sich und damit auch Macht und Machtgrundlagen – Bestrafung und Belohnung verlieren mehr und mehr an Bedeutung. In vielen Unternehmen sind wir ohnehin längst an dem Punkt angelangt, dass es vermehrt die Superspezialisten und die Systeme sind, die wirklich mächtig sind, und denen alle dienen. Der Feind hat viele Namen: Compliance, Risk Management, ERP, SAP, Performance Evaluation Tools …

„Für das jährliche Ergebnisbewertungsgespräch mit meiner Vorgesetzten benötige ich rund 30 Arbeitsstunden, also fast eine ganze Arbeitswoche, um für die Argumentation für meine Jahresprämie die entsprechenden Zahlen und Informationen bereit zu haben ...“, erzählt eine leitende Angestellte.

Das kommt Ihnen bekannt vor? Das überrascht nicht, denn der Vermessungs- und Kontrollwahn des vergangenen Jahrzehnts versetzt uns längst an die Grenze des Machbaren. Erdrückende Bürokratie, überforderte Manager und Mitarbeiter sind die Folge. Unternehmen und Vorgesetzte haben so viele Kontrollinstrumente an der Hand, über die sie Macht und Kontrolle ausüben und die ihnen vermeintlich als Hilfestellung für die Führungsarbeit und zur Zielerreichung dienen. Das Ergebnis ist eine Infantilisierung aller Protagonisten in Unternehmen, weil es nicht mehr darum geht, das zu tun, was für die Zielerreichung Sinn macht, sondern weil die Kontrollinstrumente und die Kennzahlen-Systeme zum eigentlichen Ziel werden. „Ich war mit den Kunden nicht mehr beim Mittagessen sondern habe sie direkt zum Bahnhof gebracht. Das war etwas unhöflich, aber ab zehn Personen hätte ich eine Genehmigung für die Einladung einholen müssen, und das war mir ehrlich gesagt zu mühsam ...“ Den Auftrag hat in diesem Fall der Mitbewerber bekommen, denn Kunden erwarten zu Recht und in gleichem Maße Wertschätzung wie wir alle. Es ist nicht immer auf den ersten Blick erkennbar, dass es ein System war, das der Höflichkeit im Weg stand, und nicht ein Mitarbeiter, der nicht weiß, was sich gehört.

Unsere Bankensysteme liefern ein ebenso gutes Beispiel. Wir haben gesehen, welch gewaltiger Drall ins Negative herrscht, wenn Ziele verfolgt werden, die kontraproduktiv sind, die aber stur weiter verfolgt werden, weil sie Einkommen und Prämien beeinflussen. Je mehr Freiraum wir Menschen haben, desto kreativer sind wir. Das ist natürlich keine allgemein gültige Regel. Es gibt Mitarbeiter, die arbeiten am besten in starren Strukturen. Sie sind in solchen Unternehmen und an solchen Arbeitsplätzen auch bestens aufgehoben. Aber sie repräsentieren keine Mehrheit. Verschiedene Studien zeigen, dass beim Großteil aller Mitarbeiter ausreichend Freiraum zur Verwirklichung von Ideen am Arbeitsplatz und flexible Strukturen erhöhte Kreativität zutage fördern. Ohne Kontrolle geht es nicht und ein gesundes Maß an Kontrolle ist hilfreich – das ist unbestritten. Durch das amtierende Übermaß an Kontrolle und die steigende Komplexität im Bedienen dieser Kontrollsysteme berauben wir uns jedoch enormen Potenzials.

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