Hartmuth der Deserteur

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Hartmuth der Deserteur
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Inhaltsverzeichnis

Impressum 4

Widmung 5

Vor- und Nachwort 6

Szene 1 16

Aus-Zug 16

Herr und Knecht 17

Bauernstolz 21

Mama und der Neophyt 26

Mutation 31

Religio 39

Rosi 43

Gauderbock 48

Konservation 52

Aufbruch 55

Vaterträume 58

Grenzerneuerung 61

Zeit-Dung 64

Szene 2 68

Ein-Zug 68

Von der Freundschaft 69

De brevitate vitae 76

Die Stunde Null 81

Die Spülerin 84

Die Gnade des Vergessens 89

Agnes 98

Nägel mit Köpfen 103

Einzug 108

Der Schatten 114

Verbundenheiten 117

Abschied vom Vater 123

Thomas 126

Die Knirpsl-Geschichte von der Lebensfreude 131

Das Kind in ihm 140

Szene 3 143

Um-Zug 143

Die Generalversammlung 144

Tina 147

Der Findling 153

Frau Oberlohr 158

Die Legende von den Göttervögeln 161

Der Irrstern 164

Szene 4 168

Rück-Zug 168

Absturz 169

Der Flug der Brieftaube 172

Zurück in den Uterus 177

Georg 180

Das Licht im Türspalt 189

Brückner 196

Revision 204

Normal 209

Überzeugungen 213

Muttermilch 219

Elisabeth 222

Szene 5 224

Auf-Zug 224

Leben heißt Üben? 225

Leben heißt schuldig werden? 229

Fehltritt? 232

Am Gipfel 237

Erwachen 245

… unvollendet … 247

Literaturliste/Anmerkungen 248

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2022 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-99107-932-3

ISBN e-book: 978-3-99107-933-0

Lektorat: Melanie Dutzler

Umschlagfoto: Horst Ender

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

Innenabbildungen: © Zuboff | Dreamstime.com

www.novumverlag.com

Widmung

Gewidmet meiner Anna

Vor- und Nachwort

(gerichtet an meine von mir vernachlässigten Freunde,

die Menschen)

Solange wir leben, hier unter dem Mond,

jeden Morgen, wenn uns die Augen geöffnet werden

und der Vorhang der Welt-Bühne sich wieder hebt,

bei jeder Rückkehr aus dem magischen Traumland,

gerade in dem Augenblick, wo wir wieder Fuß auf die Erde setzen,

ist da ein kurzer Moment tastender Unsicherheit,

meist kaum wahrgenommen.

Es ist der kurze Zeitraum, den wir benötigen,

um uns geistig zu sammeln,

um unser mentales Ego wieder hochzufahren

und uns zu orientieren.

An welchem Ort bin ich? In welcher Zeit?

Wozu bin ich zu diesem Zeitpunkt hier?

In Sekunden ist alles scheinbar geklärt und das ist gut so!

Ein Wimpernschlag und schon haben wir Anker geworfen

und uns in Raum, Zeit und Kausalität

wieder festgehakt und den mentalen Absturz

und die Einweisung in die Irrenanstalt vermieden.

Noch ein Wimpernschlag

und schon haben wir den Faden wieder aufgegriffen zur Geschichte,

die uns erzählt, wer da eben auf der Erde wieder gelandet ist

und die Augen geöffnet hat.

Ja, wer bin ich? Was bin ich?

Eine Antwort ist sofort parat, mental reflexiv,

ich heiße A, von Beruf bin ich B, bin verheiratet mit C,

habe die Kinder D und E,

habe diese Eigenschaft und jene, bin ein Fan von …

und Eigentümer von … usw. … usw. …

Ja, da ist ein riesiger Fundus an Erinnerungen,

aus dem wir bei unserer Blitzortung

beim Aufwachen nur einige wenige herausgreifen,

um uns sofort wieder zu finden

und uns einzuordnen in die Welt,

die eben wieder vor uns aufgeht wie ein Bühnenbild.

Frage jemanden danach, wer er sei,

und er wird den mentalen Aufwachreflex fortsetzen,

ihn ausbauen und die Geschichte seines Lebens

in allen Einzelheiten präsentieren.

Doch egal, welche Gedanken wir

zum Zwecke unserer Selbstbeschreibung herausgreifen,

immer handelt es sich bloß um Definitionen des Begriffes „Ich“ und Definieren heißt nichts anderes als „Abgrenzen“

anhand von oberflächlichen Unterscheidungskriterien.

Wir definieren im unreflektierten Alltag unser „Ich“

nach derselben mentalen Methode,

nach der wir auch den Begriff „Baum“

vom Rest des Universums abgrenzen.

Wenige äußerliche, charakteristische

Unterscheidungsmerkmale genügen

 

und schon sind der Begriff „Baum“

und der Begriff „Ich“ gebildet und mit dem Seziermesser

des Verstandes aus dem Fluss des Lebens,

aus dem „Prozess Universum“, herausgeschnitten,

aus dem Fluss, der auch unseren unbewussten Geist

und unsere Gefühle in sich trägt.

Der Verstand schneidet aber stets nur Teilaspekte

unseres Wesens aus dem Fluss heraus,

er macht Fragment-Bilder in allen denkbaren Farbnuancen

aus verschiedensten Perspektiven.

Die Funktionsweise unseres Verstandes liegt in

dieser Fragmentierung, er kann nicht anders,

aber er setzt die Fragmente –

allerdings nach seinem Gutdünken – auch wieder zusammen

und malt daraus wie ein Pinselkünstler

mehr oder weniger kunstvoll unser Selbstportrait.

Jeder Pinselstrich entspricht einer Abgrenzung

und jede Farbnuance einem Seelenzustand.

Es ist ein Portrait, an dem ununterbrochen gepinselt wird,

eine Romanfigur, die fortwährend bearbeitet wird.

Ja, und diese Romanfigur, das soll tatsächlich „Ich“ sein?

Na ja, dieses sich täglich wandelnde Selbstportrait

gehört wohl auch zu uns,

betrachten wir es mit Nachsicht, mit Wohlwollen,

mit Durchsicht und Humor,

betrachten wir es als unsere mentale Haut,

mit der wir uns nach Außen abgrenzen.

Unser Verstand ist nach außen gerichtet, er ist uns gegeben,

um unser Handeln zu leiten,

er ist auf Konstruktion und Fabrikation angelegt und hilft uns, zu überleben in dieser Welt.

Es ist erstaunlich, welche Leistungen er vollbringt,

und er verdient unsere volle Wertschätzung,

aber nach innen, auf unser Wesen gerichtet,

ist er seltsam schwach und blind.

Er ist nicht in der Lage, uns eine Antwort zu geben

auf die Frage: „Wer bin ich wirklich?“

Der Strahl einer Taschenlampe vermag eben die Tiefe

des Meeres nicht zu erhellen.

Wir Menschen sind aber unendlich viel mehr,

als unser Verstand zu greifen vermag.

Wir fließen aus einer geheimnisvollen Quelle in eine Form,

um dann aus dieser Form in ein rätselhaftes Meer

gegossen zu werden,

und zwischen Quelle und Meer bewegt

und ermutigt uns eine Kraft,

die wir mit dem Verstand nicht greifen können,

er ist eben zu schwach und zu blind.

Besuchte je ein mitfühlendes,

weises Wesen aus den Tiefen des Alls unsere Erde,

so würde es wohl erstaunt fragen:

„Wie ist es möglich, so zu leben?

Woher bloß nehmen sie ihre Zuversicht, diese Menschen,

und woher ihren Mut in all ihrer Dunkelheit

und woher oftmals diese kindliche Heiterkeit auf ihrem Weg zum Tode, von dem sie nichts wissen?“

Ja, das ist das Paradoxon unseres Lebens,

unseres derzeitigen mentalen Bewusstseinszustandes,

der die magischen Fragen erlaubt,

nicht aber die Antworten darauf.

Mit unserem derzeitigen Bewusstsein lassen sich

diese Antworten nicht finden!

Derartige Versuche sind von vornherein zum Scheitern verurteilt,

solche Versuche sind genauso vergeblich wie der Versuch,

mit einem groben Pinsel eine Mücke in Originalgröße

in den Sand zu zeichnen.

Wir haben nur die Möglichkeit,

uns diesen großen Antworten zu nähern,

indem wir sie gedanklich umkreisen, sie überschlafen,

sie überträumen,

sie meditativ, gleich einem Koan, auf uns wirken lassen,

um so in ihren Dunstkreis zu gelangen,

diesen zu fühlen und gedankenlos darin zu baden.

Die Antworten liegen zwischen den Gedanken,

außerhalb der Worte!

Die Antworten liegen zwischen diesem Vor- und Nachwort,

sie liegen zwischen allen Worten.

Also, meine Freunde,

zwängen wir unser Ohr zwischen die Worte,

zwängen wir es in den Spalt des Bühnenvorhangs

und lauschen wir hinaus in den Raum

zwischen den Sternen und hinein!

Hört doch, wie das Herz klopft! Hört Ihr es?

Hört Ihr, wie alle Herzen klopfen?

Hört Ihr dieses Gepoche über die Jahrtausende?

Hört doch, wie der Atem rauscht,

das mächtige Rauschen allen Atems,

spürt doch, wie es kribbelt, innen, wie es lebt,

wie Wärme durch jede Zelle fließt,

wie Freude aufsteigt aus dunkler,

unbekannter Tiefe und Begeisterung.

Spürt doch, wie sehr wir gewollt sind von jenem Mysterium,

das in uns klopft und rauscht und wärmt

und uns Freude macht, uns lebt.

Ja, legen wir sie ab, die Erdschwere, im Geiste

und begeben wir uns hinaus in den Raum, mit allen Sinnen,

hinaus, weit hinaus außerhalb unseres Sonnensystems,

und fühlen wir die Erheiterung und die Erleichterung,

die sich breit macht,

sobald wir aus dem unendlichen, unbegreiflichen Raum

das Vergängliche betrachten,

die Formen, die Objekte, die Gestirne, die Planeten, die Erde,

das gesamte im Bannkreis der Sonne kreisende kosmische Treibgut.

Seien wir die dunkle Unendlichkeit zwischen den Sternen,

seien wir das Nichts

und schauen wir aus dieser leeren Fülle

als dieses Subjekt auf all die Objekte,

betrachten wir unseren werdenden und vergehenden Körper

dort auf der Erde,

beobachten wir unser Tun, unsere Gedanken, unsere Emotionen,

unsere lächerliche Wichtigkeit,

unsere seltsam rührenden Rollenspiele!

Sie zwingt zum Lachen diese Übung, zum erleichterten Auflachen,

eine Übung voll von Poesie, die uns „Kind-Sein“ nahe legt,

eine Übung, die uns ein kosmisches Ringelspiel vor Augen führt,

das jährlich einmal mit viel „Klimbim“ seinen Kreis vollendet.

Seht es Euch an aus dieser magischen Perspektive,

unser Sonnensystem, unsere Erde

und alles, was darauf lebt und strebt und vergeht, seht Ihr Euch?

Hört Ihr die Jahrmarktmusik, die Drehorgeln,

das Klingeln des Ringelspiels,

das aufgeregte Kindergeschrei, Euer eigenes?

Seht Ihr die Löwen, die vielen bunten Girlanden,

die blauen Delphine und die weißen Elefanten,

auf deren Rücken mit großen Augen Kinder sitzen,

die, ganz dem Lebenszauber hingegeben, sich erhitzen?

Am Zugang an der Kassa, ungeduldig, bange,

der Wartenden unendlich lange Schlange,

derer die bereit, mit ihrem Leben zu bezahlen,

mit gutem Mute in den Reigen steigen,

Kinderspiele spielen und mit Leben prahlen,

bis es erlischt und sie ermattet scheiden,

um neu sich einzureihen in die lange Schlange,

wie oft noch und wie lange?

Seht doch, wie die Bäume kraftvoll leben, sich bewegen,

und in Sekunden aus dem Keime in den Himmel streben,

wenn in Gedanken wir erhöhen des Kreisels Schwung,

wie Frauen ihrer Kinder sich entbinden,

Gesichter, blühend, glatt, so rein, so jung,

die reifen, welken und im tiefen Weltenraum verschwinden.

So umrunden wir die Sonne in edlem Jahreskreise,

in irrem Tempo, sanft, geschmeidig, leise,

auf dem Delphin, dem blauen, reitend,

im Bann der Sonne durch das Weltall gleitend,

auf einem Feuerball mit gnädig milder Kruste,

auf der Millionen rote Rosen blühen,

geschöpft aus einer Kraft, die wusste

ob der Träume und der roten Kinderwangen Glühen.

Überwölkt von dunkler Todeskälte

schlafen wir in luftig warmen Kissen,

so, als ob für alles Leben gelte,

nichts von dunkler Kälte je zu wissen.

Beatmet, liebevoll, von Mund zu Munde,

das Leben lang, vielmals in jeder Lebensstunde,

durchpocht uns wärmend jene Kraft,

die keimt, gebärt, die alles Leben schafft …

Ja, liebe Freunde,

auch wenn sich nicht alles reimt in unserem Leben,

eines ist nicht zu übersehen und nicht zu überfühlen,

wir sind eingebettet in großes Wohlwollen,

wir sind eingebettet in Liebe,

getragen von einer mystischen Macht, die uns will.

Ja, das Wohlwollen, das uns trägt, ist unübersehbar!

Das ist das Evangelium, das jede unserer Zellen

und alle Natur verkündet!

Also lasst uns feiern …

Klaus Dengg

… Noch ein kleiner Hinweis,

bevor sich der Bühnenvorhang hebt

und das Schauspiel beginnt!

Unser Leben ist unendlich vieles und jedenfalls auch ein Schauspiel. Ein Schauspiel, zu dessen Aufführung wir allerdings immer zu spät kommen, denn immer hat es schon angefangen, lange, bevor wir die Bühne betreten. Die Kulisse, das Bühnenbild, die Mitspieler, die Sprache, die Denk- und Gefühlsschablonen, die Kultur, die sozialen und politischen Verhältnisse, all das und noch vieles mehr ist uns immer schon fremdbestimmt vorgegeben.

Aber spätestens ab unserem ersten Schrei auf der Bühne mischen wir mit in diesem Theater. Zumeist – und das ist schön – lösen wir mit unserem ersten Schrei Entzücken aus, oft Tränen der Freude, was von unseren späteren Schreien als Erwachsene natürlich nicht immer behauptet werden kann.

Von außen, aus der Perspektive des bloßen Verstandes betrachtet, ist unsere „Einmischung“ in das große Schauspiel minimal, doch aus uns selbst heraus, aus unserem Wesen heraus betrachtet, sind wir es, die maßgeblich „mischen“. Jeder von uns ist quasi in Personalunion gleichzeitig Autor, Schauspieler und auch Zuschauer des Stückes, das gerade gespielt wird. Ein Stück, das – unter Berücksichtigung der fremdbestimmten Vorgaben – jeder für sich aus seinem Ich-Punkt heraus gestaltet, sei es nun ein Heldenepos, eine Komödie, ein Trauerspiel oder sei es eine der Milliarden anderen möglichen individuellen Varianten. Ein Stück jedenfalls, das – solange der Verstand es unberührt lässt und es nicht zerpflückt – einfach „Fluss des Lebens“ genannt werden könnte.

Sobald aber der Verstand in den Fluss des Lebens greift – und das tut er ständig – und mit seinen Begriffen wie mit einem Seziermesser einzelne Teile herausschneidet, gefriert das Herausgeschnittene und wird zum starren Bild, das wir zwar dadurch in Ruhe betrachten können, ohne am ständigen Verfließen zu verzweifeln, das aber eben – seines Wesens beraubt – nicht mehr fließt.

Begleiten wir ihn also nicht nur mit unserem Verstand, sondern auch mit dem Herzen und mit Gespür für das Fließen des Flusses des Lebens, ihn, den Helden des Romans, den bemerkenswerten Hartmuth, wie er, im Zug der ÖBB oder an anderen schicksalhaften Orten sich befindend, Bilder aus dem Fluss seines so aufregenden Lebens herausgreift, um sich letztlich in ihn, in den magischen Fluss des Werdens und Vergehens und des Vergehens und Werdens, hineinzustürzen.


Hartmuth

der Deserteur

Ein Roman über das

Schauspiel des Lebens

in 5 Szenen

Szene 1

Aus-Zug

„Dreizehnter September 1978“, flüstert unhörbar die hoch am Himmel stehende Sonnenuhr, indem sie ihre milden Strahlen in die Augen und Herzen der Menschen und Tiere schiebt, um sie zu wärmen, und auch in die Chloroplasten der Pflanzen, um Nahrung sprießen zu lassen. Hartmuth aber denkt nicht an diese solaren Wohltaten, das sind Selbstverständlichkeiten die selbstverständlich unbeachtet bleiben, so sind die Menschen eben.

Hartmuth hat ganz andere Sorgen. Er sitzt im großen offenen Waggon eines Zuges der ÖBB, der, langsam vor sich hin ratternd, das österreichische Inntal in Richtung Nord-Osten durchfurcht, in Richtung der deutschen Grenze.

Herr und Knecht

Hartmuth ist voll Aufruhr und Herzklopfen, voll von „Weg! Ich muss weg!“, voll von Sehnsucht nach Änderung, Aufstieg, Weite und Zukunft und gleichzeitig voll von ängstlichen Bedenken, Unsicherheit und Bauchweh beim Gedanken an all das, was er jetzt eben zurückzulassen und wegzuwerfen im Begriffe ist. Ja, er ist voll von innerer Zerrissenheit.

 

Er atmet ein und bläst sich auf: „Ja, ich habe es getan! Bravo, du hast Charakter!“, und er atmet aus und sackt zusammen: „Ja, was machst du da, du Spinner?“ Es sind aber nicht nur zwei Herzen, die „ach, in seiner Brust wohnen“, nein, es sind viele und sie alle zerren in eine andere Richtung. Der Zug aber, in dem er sitzt, fährt in eine Richtung, er folgt den vorgefertigten Geleisen, zumindest einer der weiß, wo es lang geht.

Das Rattern des Waggons sollte ihm eigentlich helfen, seine Gedanken und Gefühle durchzuschütteln durch das Sieb der Katharsis, der Seelen-Läuterung, um die in ihm herumkollernden Gefühls- und Gedankenknollen auszusieben, um sie ansehen zu können und Klarheit zu erlangen. Aber es will nicht gelingen.

„Hartmuth, wohin willst du denn?“ Er weiß es nicht, er weiß es noch nicht genau, er will einfach weg, weg und hinaus, ja, hinaus in die große, weite Welt, hinaus in die Hoffnung Zukunft, vielleicht nach Stuttgart oder nach Hamburg oder noch weiter, hinaus ins Meer und hinter das Meer?

„Hartmuth, weg wovon?“ Er weiß es nicht, er weiß es nicht genau, aber jedenfalls will er auch weg von der Person, die er bisher war, weg von den Rollen, die er bisher spielte, weg vom „Knecht sein“, weg von der Kluft zwischen Innen und Außen, weg von der Kluft zwischen Fühlen und Tun, zwischen Sein und Wollen.

Das monotone Klacken der Eisenräder an den Nahtstellen der Eisenschienen bringt zumindest ein wenig Rhythmus in sein inneres Chaos. Er sitzt fast allein im großen Waggon. Ja, alle Welt scheint ihn verlassen zu haben und alle Welt scheint er zu verlassen.

Schon um fünf Uhr früh war er heute Morgen aufgestanden, auf dem Lahnerhof, hoch oben in den Tiroler Bergen. Er hatte vor Aufregung wenig und schlecht geschlafen. Im Halbdunkel der Morgendämmerung saß er dann am Bettrand in seiner kleinen Kammer. Einige lange Minuten saß er so da, den Kopf in die Hände gestützt, um sich und seinen Mut zu sammeln. Mit einem verbissenen „Also los“ erhob er sich dann, goss aus dem am Boden stehenden Krug Wasser in die auf dem schmalen Tisch stehende Blechschüssel, wusch und erfrischte sein Gesicht und zog sich an.

Schon vor ein paar Tagen hatte er seiner noch nicht ganz zehn Jahre alten, niedlichen Halbschwester Hildegard sein „Abhauen“ angekündigt und diese hatte ihn daraufhin mit nassen Augen ungläubig angesehen und ihn umarmt und wollte ihn nicht mehr loslassen. Als er sich aus der Umklammerung gelöst und sich abgedreht hatte, um seine und ihre Qual nicht überlaufen zu lassen, hatte sie erbost einmal auf seinen Rücken geschlagen und war davongerannt. Nun schlich er über den knarrenden Flur in ihre Kammer, um ihr, der schlafenden Sonnenblume, zum Abschied noch einen kleinen Kuss auf die Stirn zu drücken. Hildegard lag im Bett, den Rücken ihm zugekehrt. Ihre blonden Locken streichelten ihren schmalen Hals im matten Licht. Als er sich über sie beugte, drehte sie sich plötzlich um, umschlang ihn und sagte: „Du kommst doch bald wieder, oder?“ „Aber ja!“, log er, um sie zu trösten, strich über ihre Wange und ging schweren Herzens hinaus.

Auch bei Martha hat er sich dann noch mit kargen Worten und einer Umarmung verabschiedet. Martha war die ältere Schwester vom Sepp, seinem Stiefvater, die nach dem Ableben seiner Mutter auf den Lahnerhof kam, um zu kochen, zu waschen und zu bügeln und zu helfen, wo sie nur konnte.

Nachdem Hartmuth dann seine verwaschene, jägergrüne Flanelljacke zugeknöpft, sich mit seiner abgewetzten Umhängetasche umhängt und seinen schäbigen Koffer ergriffen hatte, ging er die knarrende Holzstiege hinunter in das Parterre des Lahnerhofes, des uralten Tiroler Bauernhauses aus sonnenverbranntem Holz, um sich auf den langen Fußmarsch hinunter ins Tuxer-Tal zur Bushaltestelle zu begeben.

Die Stubentür im Parterre stand offen und Lux, der mit den Jahren schon ein wenig ergraute, struppige Schäferhund, stand in der Türschwelle und schaute ihn fragend an. Hartmuth setzte den Koffer ab und strich ihm wehmütig über den Kopf. Er nahm den Koffer wieder zur Hand und machte sich auf den Weg, aber Lux folgte ihm und ließ es sich nicht nehmen, ihn hinunter ins Tal zu begleiten, wie er es schon so oft getan hatte. Hartmuth saß dann auf der Wartebank an der Bushaltestelle in Lanersbach, Lux saß am Boden daneben, ihm zugekehrt, und legte seinen struppigen Kopf auf seine Oberschenkel und genoss die Streicheleien und das „Gekraule“ hinter den schon ein wenig angegrauten Ohren. Als der Bus sich näherte, umarmte Hartmuth noch einmal seinen „Kumpel“, wie er ihn nannte, und stieg in den Bus.

Die nun in Hartmuths Kopf auftauchenden Erinnerungsbilder schmerzen ihn. Er schließt die Augen, legt das Gesicht in seine Hände und beugt sich vor, die Ellbogen auf seine Knie gestützt, die im Rhythmus mit dem Waggon vor sich hin wackeln.

Ja, oft schon hatte ihn der Blick in Tieraugen, die ihn ansahen, fasziniert und verzaubert und ihn in eine andere Welt entführt, diesmal in ganz besonderer Weise. Sein Kumpel hatte ihn schon oft zum Bus begleitet und wusste, dass er nicht einsteigen darf. Als Hartmuth schon im Bus stand, drehte er sich noch einmal um. Lux stand vor der offenen Türe, den Kopf angehoben, winselte leise und schaute ihm groß in die Augen.

Die Erinnerung an diesen Blick trifft Hartmuth ins Herz.

Berührende Worte strömten aus diesen Hundeaugen, Worte der Bangigkeit, Worte der Hilflosigkeit. Lux schien zu sagen: „Bin ich für dich da? Bin ich da? Was ist das, was du da machst? Kommst du wieder zu mir? Bleibst du mein Freund?“

Lux, der inzwischen wohl wieder zum Lahnerhof hinaufgetrabt war, hatte mit seinem so vielsagenden Blick augenscheinlich auch die Hildegard und die Martha unten an der Bushaltestelle bei der Verabschiedung wortreich und würdig vertreten, so empfand es jedenfalls Hartmuth.

Die Worte seines Stiefvaters allerdings wären wohl andere gewesen. Als er heute Morgen aufbrach, war sein Stiefvater schon im Kuhstall beim Arbeiten. Eine förmliche Verabschiedung von ihm gab es nicht, denn das hätte nur Streit bedeutet, aber der Stiefvater wusste wohl, was los war. Ja, Hartmuth wollte nicht mehr Knecht sein, sondern Herr werden, Herr über sein eigenes Leben. Er war nicht mehr bereit, den von den Erwartungen seines Stiefvaters und der örtlichen Tradition und Kultur ausgetretenen und befestigten Weg weiter zu gehen, der eindeutig und klar vorgezeichnet war. Er war heute Morgen ausgeschert und abgezweigt, er hat den befestigten Weg, den Trampelpfad, verlassen. Da war nicht einmal eine Weggabelung, nein, er ging jetzt einfach querfeldein in eine ganz andere – ihm selbst unbekannte – Richtung.

Die in seinem Kopf wie im Sturm kreisenden Gedanken plagten ihn und in seiner Brust- und Magengegend schien ein Stein zu liegen. „Ja“, sagte er zu sich, „ich muss wohl auch Herr über meine Gedanken und Herr über meine Gefühle werden!“ Doch das war ein großes Vorhaben, besonders in diesen aufgewühlten Stunden, vielleicht ein zu großes, denn seit Sigmund Freud ging das Gerücht in der Welt um, wir Menschen seien nicht Herr im eigenen Haus. Aber Hartmuth hatte von diesem, die Menschheit erschreckenden Spruch des Herrn Professors noch nichts gehört, obwohl er schon viel gelesen hatte, und so rief er seiner inneren Aufruhr und seinem Herzklopfen voll blauäugigem Herrschaftswillen zu: „Hört her, Ihr Chaoten, ich bin der Herr und ich sage Euch, beruhigt Euch! Habt Ihr verstanden!?“

Vielleicht war es das laute Rattern des Zuges, aber die Chaoten schienen seltsam taub zu sein auf diesen Ohren.

Hätte Hartmuth vom Gerücht, das Herr Professor Freud in Umlauf gebracht hatte, Kenntnis gehabt, so wäre er dem gegenüber wohl auch skeptisch gewesen, denn für ihn war die Unterteilung der Welt, seiner Welt, in „Herr und Knecht“ eine nicht zu übersehende Tatsache.

Bauernstolz

Hartmuth blickt hinaus in die vertraute, heimatliche Landschaft und hinauf auf die Berge, von denen manche ganz oben schon weiß sind vom Schnee, der sich in den vergangenen kalten und regnerischen Tagen wie Staubzucker auf deren Spitzen abgesetzt hat. Die Landschaft, die an ihm wie riesige, auf Rädern rollende Kulissen vorbeizuziehen scheint, ist eingehüllt in einen Hauch von Irrealität.

Links unten der blau-grünlich vor sich hin murmelnde Inn, dessen Gemurmel vom Waggongeratter unterdrückt und zum Schweigen gebracht wird, eingesäumt von Laubbäumen, deren herbstlich-bunte Blätter sich genüsslich im mittäglichen Sonnenschein bräunen. Auf der Innpromenade im Schatten der Bäume tagträumerisch dahinschlendernde Spaziergänger, die eben von Radfahrern aus ihren Träumen geklingelt werden. Auf der anderen Seite des erhaben fließenden Flusses die Inntal-Autobahn, vollgestopft mit Transportzielen, Absichten und Aufgaben aller Art, und dahinter grüne Wiesen, Äcker, manche gefleckte Kühe, Tiroler Häuser, Dörfer. Alles zieht wie ein magisches Schauspiel an ihm vorbei.

Der Zug, dieser ratternde Koloss aus Eisen, erscheint ihm wie ein mächtiger Titan, der seine Eisenschienen wie riesige Arme weit nach vorne wirft, die Landschaft teilt und – vorbei an seinem Fenster – nach hinten schiebt wie ein Schwimmer das Wasser im See.

Oben auf dem Angerberg liegend, zieht ein Bauernhof langsam an ihm vorbei, daneben noch einer und dann noch einer. Große Lichtungen, Wiesen, umgeben von dunklem Wald. Oasen, an deren Rand oder in deren Mitte jeweils Bauernhaus und Stallungen liegen.

In Urzeiten war dort wohl alles Wald, Urwald war das alles und das Inntal ein vom ungezähmten Inn nach Lust und Laune durchfurchtes Feuchtgebiet, überflogen, durchkrabbelt und überwuchert von Tausenden verschiedenster uriger und ulkiger Lebensarten. Dann aber, ja dann aber kam der Mensch und brachte Vernunft in das chaotische Treiben der Natur, gerade so wie es ihm der Liebe Gott aufgetragen hatte: „Seid fruchtbar und vermehret Euch, bevölkert die Erde und unterwerft sie Euch!“ Ja, und da waren sie dann, „die stark sich vermehrenden Fruchtbaren“ – oder sollte man sagen „Furchtbaren“? – und erkannten dank ihrer Vernunft, dass es hier auf dem Angerberg möglich war, die Natur so weit zu unterwerfen, dass sie ihnen alles gibt, was sie zum Leben brauchen.

Die ersten Großtaten der in den Urwald eingefallenen rationalen Tiere, die sich so gerne „Sapiens“ nennen, waren wohl die Rodungen, vielleicht sogar Brandrodungen. Unglaublich, welcher Anstrengungen es bedurfte, um mit den damaligen Mitteln und Werkzeugen riesige Bäume zu fällen oder nach dem Brand deren Wurzeln auszugraben und aus dem dichten Urwald eine Kuhwiese oder einen Weizen-, Mais- oder Kartoffelacker zu machen.

Hartmuth wusste, wovon er dachte, denn er hatte selbst oft genug das Stöhnen der fallenden Riesen erlebt und auch seine eigene körperliche Erschöpfung bei seinen Arbeiten als Holzfäller und Wurzel-Ausgräber im Wald seines Stiefvaters. Allein schon der Gedanke an diese Plackerei schien ihm Schweiß auf die Stirn zu schieben. Aber nachdem sich der Homo sapiens in seiner Hybris blauäugig dazu entschlossen hatte, kein unschuldiges Tier zu bleiben, und unerlaubterweise – oder erlaubterweise? – vom Baum der Erkenntnis gegessen hatte, da hat ihm der Liebe Gott zur Strafe – oder als Ratschlag? – ja auch gesagt: „Im Schweiße deines Angesichtes sollst du dein Brot verdienen!“ und so ist also unser Leben in Schweiß gebadet, denn Brot im weitesten Sinne brauchen wir.

Hartmuth war aber eigentlich nicht bereit, da, an dieser entscheidenden Stelle der Menschheitsgeschichte, an eine Sünde zu glauben, er war vielmehr überzeugt, dass Gott den Baum der Erkenntnis ins Paradies gesetzt hat, damit der Mensch dessen Früchte verkoste, und er, der Allwissende, wusste wohl, dass der Weg der Erkenntnis ein harter und mühsamer werden würde und daher kam der Hinweis auf den Schweiß.

Ja, gut, die sündig oder eben nicht sündig erlangte Vernunft hat also die Sapiens – nachdem sie 140.000 Jahre lang in kleinen Grüppchen als Jäger und Sammler durch die Wälder gestrichen waren – vor etwa 10.000 Jahren im Rahmen der sogenannten landwirtschaftlichen Revolution ermächtigt, Oasen im Urwald anzulegen, also geistige Lichtungen, in denen die Urwald-Welt in einer Weise interpretiert und umgestaltet wurde, die ihnen half, Agrikultur zu betreiben. Bauer sein bedeutet also seither, dem Urwald Kultur beizubringen und dabei den richtigen Platz und Boden für die richtigen Pflanzen und Tiere zu finden und zu wissen, wann was gesät und wann was geerntet werden kann. Richtig und wahr und als „Kultur“ gilt dabei das, was dem Menschen hilft, zu überleben.

Ja, die oben auf dem Angerberg an Hartmuth vorbeiziehenden Bauernhöfe waren also Oasen der Richtigkeit und der Wahrheit und dies seit Hunderten oder Tausenden von Jahren. Jeder Bauernhof, wohin er auch blickte, eine Oase, eine Lichtung der Vernünftigkeit im Meer der urweltlichen Unvernunft. Lichtungen, die in die Welt zu schreien schienen: „Seht her, so geht das Überleben als Mensch!“ In diesem Schrei, in diesem Wissen, in dieser Kultur liegt mit Recht der Bauernstolz begründet, der schon alle Höhen und Tiefen durchlebt hat, hoch in Perioden des Hungers, niedriger in Perioden des allgemeinen Wohlstandes. Ein Stolz, den auch sein Stiefvater im Herzen trug und der ihm Kraft gab. Ein Stolz, ein Geist, der über jedem Bauernhof seine Kreise zieht wie der Bundesadler über Österreich.