Vom Stones-Club bis zur Weinbergskirche

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Vom Stones-Club bis zur Weinbergskirche
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Klaus Auerswald

Vom Stones-Club bis zur Weinbergskirche

Meine Jugend in Dresden 1963 - 1973

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Vorwort

Einleitung:

1. Teil. Gründung des Stones-Club Dresden-Leutewitz (RSFC), 1963 - 1967

2. Teil. Als Stones-Fan bei der NVA, die Jahre 1967 - 1968

3. Teil. Die Verhaftung und die Haft, die Jahre 1968 - 1970

4. Teil. Das Engagement in der Weinbergskirche, die Jahre 1970 – 1973

Impressum neobooks

Vorwort

Vom Stones-Club bis zur Weinbergskirche – überall Spitzel!

Auch wenn sich um mich herum im Laufe der Jahre etwa zehn bis zwanzig Zuträger versammelt hatten, so ist dies angesichts der Menge an Freunden und Bekannten, die ich hatte, eine Minderheit. Diese positive Aussage lass ich mir auch nicht nehmen. Die Mehrheit meiner Freunde war sauber und couragiert. Aber es gab das System, was zu Verrat aufforderte und diesen sogar honorierte. Deshalb finde ich, dass nicht der Denunziant das eigentliche Übel in der Kette des Verrates ist. Er ist nur ein willfähriges, schwaches und charakterloses Werkzeug. Ihn gibt es auch jetzt wieder und es gab ihn schon immer. Nein, das System, was sich seiner bedient, ist zu verachten und zu verurteilen. Auch deshalb wurde es im Sturm hinweggepustet, von den aufrichtigen Bürgern des Landes, wie ein Haufen trockener Mist. Viel mehr war auch nicht übrig von dem Unrechtsstaat DDR.

Einleitung:

Man nannte mich Auix und es war in den musikdurchfluteten, wilden 60ern. Ich gründete zusammen mit meinen Freunden einen Fan-Club, den Rolling-Stones-Fan-Club Dresden-Leutewitz. Unsere Hütte lag weit hinten im Omsewitzer Grund. Dort trafen wir uns regelmäßig, hörten und machten Musik, Beat-Musik, Stones-Musik, herrliche Musik und werteten das als Gegenentwurf zum sozialistischen Alltag. Das alles begann im Januar 1966, also vor rund 50 Jahren und fand ein trauriges Ende mit meiner Verhaftung im September 1968, während der Fahne (so nannten wir damals die Armee der DDR, die NVA, die Nationale Volksarmee). Ich wanderte ins Militärgefängnis Schwedt. Der Club wurde von der VOPO (Volkspolizei) geschlossen Wie kam es dazu? Wer hatte uns verraten?

Aber auch nach dem Knast hatte ich die Freude an den Stones, an Beat- und Rock-Musik nicht verloren. Der Ungehorsam musste weiter gehen. Man hatte mich nicht gebrochen. In der Weinbergskirche engagierte ich mich mit einer neuen Band für Freiheit und Selbstbestimmung. Und auch da lauerten wieder die Spitzel. Wer waren die IM? Was für ein Spiel trieb die Stasi?

Die hier im Buch enttarnten Verräter und offiziellen Diener des Systems sind mit Klarnamen und/oder IM-Namen deutlich benannt. Die nur in Verdacht geratenen Protagonisten sind anonymisiert. Alle weiteren Freunde und Bekannte von mir erscheinen mit Spitz- oder Vornamen. Eine Wiedererkennung ist damit gewollt.

1. Teil. Gründung des Stones-Club Dresden-Leutewitz (RSFC), 1963 - 1967

Wie fing es denn eigentlich an? Wie fingen die tollen Jahre an, wo soll ich beginnen, was weiß ich noch aus dieser Zeit, nach einem halben Leben? Lasst uns gemeinsam Eintauchen in das schier unendliche Meer der vernebelten Erinnerungen!

Die „Sechziger“ begannen nicht 1960, nein, da war es noch ruhig um den Gitarrensound. Da brüllte noch ab und zu Elvis Presley durchs Radio oder Bill Haley. Aber hatten wir da überhaupt schon ein Radio mit dem man Westsender hören konnte? Wir hatten doch immer so eine alte Goebbels-Schnauze in der Stube stehen. Damit bekam man nur zwei oder drei Sender rein – und nur eine Welle: Mittelwelle. Und wenn man einen Westsender erwischte (meist RIAS), dann blubberte der örtliche Störsender so laut dazwischen, dass man schnell wegdrehte.

Aber später! Von meinem Opa hatte ich einen „Mittelsuper“ geerbt. Damit konnte ich die Hitparade auf Radio Luxemburg hören - mit Camillo – auf Kurzwelle – heimlich in meinem Zimmer. Westsender hören war ja verboten. Aber da die Behörden wussten, dass es trotzdem viele ungezogene Menschen in der DDR gab, wurde von den staatlichen Stellen versucht, diese Feindsender unhörbar zu machen; sie wurden gestört. Große Störsendeanlagen in der Nähe jeder größeren DDR-Stadt waren zu diesem Zwecke errichtet worden. Kurzwelle jedoch konnte man nicht stören, das ging technisch nicht. Mit meinem neuen Radio konnte ich also, wenn auch mit schlechter Qualität, Radio Luxemburg empfangen und hören. So auch an dem Tag, als zu uns, wie so oft, der unsympathische Versicherungsmann nach Hause kam. Er war ein kleiner Kerl mit einem großen Parteiabzeichen an seiner Hühnerbrust, das er immer ganz stolz an seinem abgewetzten Jackett trug. Es kam immer zuerst durch die Wohnungstür und schimmerte einem drohend entgegen. Vor Parteigenossen musste man sich vorsehen. Wir kannten ihn schon lange und wussten, dass er nicht nur ein ungebetener sondern auch noch ein gefährlicher Gast war. Unter dem Arm trug er stets seine Versicherungsakten in einem alten, abgewetzten Lederetui, um das er einen roten Einweckgummi geschnallt hatte. Meine Mutter führte ihn durch den Vorsaal in die Wohnstube, vorbei an meiner klapprigen Zimmertür. Er nahm platz und nach einem kurzen Gespräch, was er stets mit einem billigen Späßchen beendete, kassierte er das monatliche Versicherungsgeld. Er klebte danach die dazugehörigen Marken auf eine Police, die er zuvor alle angeleckt hatte. Trotz seiner Anwesenheit in unserer Wohnung ließ ich den Sender stehen und hörte leise weiter die „schönen“ Westschlager. Aber zur Vorsicht hatte ich den Finger auf der Mittelwellentaste. Man konnte ja nie wissen, ob der nicht plötzlich mal in mein Zimmer kam. Es war ihm zuzutrauen. Er kannte, durch die jahrelangen Besuche, unsere Wohnungsaufteilung genau. Mit einem Druck auf die Taste hätte ich dann einen anderen Wellenbereich und damit den Sender „Radio DDR“ gehabt. Auf dem Weg zur Vorsaaltür musste er wieder an meiner Tür vorbei und da drückte er tatsächlich kurzerhand die Klinke nieder. Er riss die Tür auf und stand vor mir, ungefragt, in meinem Zimmer. Blitzartig reagierte ich, drückte die Taste am Radio und es dröhnte ein Schlager aus dem Osten. Ich stellte es leiser und mit durchbohrenden Blicken fragte er mich, ob ich etwa Westsender höre. Mit roten Ohren verneinte ich erzwungen selbstbewusst. Na, das wolle er auch hoffen, meinte er und blieb noch eine Weile stehen, um sich von der Richtigkeit meiner Angabe zu überzeugen. Dabei musterte er neugierig und kritisch mein Zimmer, meine Ausstattung, meine Bilder an der Wand, die auch größtenteils aus Westzeitungen stammten. Als er überzeugt war, dass keine „Hetzsender“ aus meinem Radio kamen, lächelte er versöhnlich und ging. Mir schlug das Herz bis zum Hals.

Beatmusik kam damals noch nicht aus dem Westäther. Es wurden alberne Schlager gesendet, die ich damals trotzdem sehr mochte. Eventuell war es die Zeit von „Marmor, Stein und Eisen bricht…“ oder „Rote Lippen soll man küssen“ usw. Aber dann mit einem Male wurde der erste Beatles-Song gesendet, auf Radio Luxemburg, auf Kurzwelle, mit einer euphorischen Ansage. Der erste Beatles-Song war eine Offenbarung, so neu, so fetzig, so modern, so ungewohnt – der Gitarrensound: „I want to hold your hand“. Und danach dann gleich der nächste Hit: „She loves you“. Das muss so 1963 gewesen sein. Sofort waren wir Beatles-Fans, ich und meine großen Freunde Köcki und Buts. Ich ging gerade in die 9.Klasse, sie waren schon in der Lehre.

Durch einen Zufall ergab es sich, dass mir jemand Schallplatten anbot – Westschallplatten - Singles. Ich hatte zwar keinen Plattenspieler aber ich kannte jemanden, der einen hatte. Es waren alte Rock’n’Roll-Platten von Little Richard – auch tolle Musik. So kaufte ich sie für sündhaft teures DDR-Geld und damit war eine entscheidende Leidenschaft geboren: Das Sammeln von Musik, vorerst in Form von Schallplatten. Nun brauchte ich jedoch einen eigenen Plattenspieler. Zufällig hatte gerade eine kleine Elektro-Bude (ich glaube sie hieß Fa. Kurt Ehrlich aus Pirna) einen Plattenspieler mit Batterie entwickelt. Dies wäre genial! Genau das richtige für mich. Einen Plattenspieler für unterwegs, für das Luftbad in der Zschone (so hießen die Freibäder in Dresden: Luftbad und dieses befand sich im Zschoner Grund), wohin wir im Sommer täglich wanderten. Und dazu eine moderne Sammlung von Westplatten. Ich wäre der Größte, träumte ich. Aber ich hatte kein Geld. Er kostete ca. 320,-DM-Ost. Das war teuer! Es war so ungefähr ein kompletter Monatsverdienst meiner Mutter. Ich selbst hatte ja kein Geld. In den Ferien ging ich zwar immer arbeiten, aber das bisschen, was man da verdiente brauchte ich für den Urlaub. So überredete ich meine Mutter, sie solle sich den Plattenspieler doch zulegen und ihn mir immer mal borgen. Schließlich gab es auch viele schöne Schallplatten, die meine Mutter mochte, gute klassische Aufnahmen, für die ich damals noch keinen Sinn hatte oder nicht mehr. Durch meinen Klavierunterricht in frühen Kinderjahren hatte ich von der klassischen Musik vorerst genug. Zumal die moderne Beatmusik damals für mich viel mitreißender war. So kaufte meine Mutter tatsächlich, auf Raten, dieses Prachtstück, was natürlich letztendlich ausschließlich von mir genutzt wurde. Ein paar Platten hatte ich ja nun schon, auch mit ernster Musik. U.a. „Funiculi, funicula“ gesungen von Connie Francis, „Die kleine Nachtmusik“ von Mozart und „Der Gefangenenchor“ aus Nabucco. Also klassische Werke, die meiner Mutter auch gefielen. Aber mehrheitlich hatte ich eben Rock’n’Roll-Platten, wie schon erwähnt. Auch der sogenannte schnellste Rock’n’Roll der Welt: „Ready Teddy“ von Cliff Richard war in meinem Besitz und der berühmteste Rock’n’Roll „Jailhouse Rock“ von Elvis Presley ebenso. Natürlich waren all diese Westplatten schon durch hunderte Hände gegangen und waren demzufolge zerkratzt. Aber das machte nichts. Da der Sound sowieso laut und schrill war, störten die Kratzer und Knackser nicht weiter. Ein Kammerkonzert hätte man sich mit dieser Qualität nicht anhören können. Ebenso zerfranst und ausgerissen waren die Hüllen. Oft war überhaupt keine mehr da. Das führte dazu, dass wir (Köcki und ich) begannen, uns künstlerisch zu betätigen. Wir entwarfen neue Plattenhüllen. Mit den Wasserfarben aus dem Schulunterricht malten wir tolle bunte Hüllen, schrieben in fantastischem kursiv, in wilden Fantasiebuchstaben oder manchmal verschnörkelt, manchmal akkurat die Namen der Titel, der Sänger und der Bands darauf, verklebten sie und fertig war das neue Cover. Das machte uns einen Riesenspaß, vor allem weil es tatsächlich genial aussah. Wir merkten, wir haben Talent. Bewunderung kam von allen Seiten dafür. Lange wurden die Hüllen von den Fans, die um uns im Luftbad oder auch anderswo herum saßen, begutachtet und bestaunt. Oft wurden wir gefragt, ob wir nicht auch mal für diesen oder jenen ein Cover entwerfen könnten. Natürlich machten wir es und sogar gratis, weil es uns eben wirklich Spaß machte. Mit dieser Sammlung aus Boogie und Rock’n’Roll zogen wir dann also oft ins Bad, in den Park oder suchten die Bänke auf, die auf dem Wilhelm-Raabe-Platz in Dresden-Briesnitz standen. Einen Platz umringt von Wohnhäusern im Rundbaustil. Die Anwohner waren nicht begeistert, vor allem wenn wir immer noch spät abends Krach machten, wenn der Spießbürger schlafen gehen wollte. Da wurde dann mal schnell mit der Polizei gedroht. Das war dann für uns doch der Zeitpunkt, zu verschwinden. Denn ich war mir nicht sicher, ob ich diese heiße Ware überhaupt besitzen durfte, alles Platten aus dem Westen! Der Verlust wäre bitter gewesen.

 

Trotz der beginnenden Beat-Welle, begeisterte uns also auch noch die Musik der 50-iger Jahre. Aber die Beatles eroberten immer mehr unsere Herzen, wenn es auch noch unmöglich war, eine Schallplatte zu bekommen. Im Radio, auf Luxemburg, hörten wir sie immer wieder. In der Hitparade waren sie monatelang auf Platz 1. Meine Begeisterung für sie und meine Erfahrung mit der künstlerischen Gestaltung der Plattenhüllen führte mich nun in Versuchung, ein Plakat über die Beatles zu malen. Und es gelang mir prächtig, fand ich jedenfalls. Ein DIN A1-Bogen war die Grundlage. In bunten Farben entwarf ich einen beeindruckenden Hintergrund und gestochen davor den Text: „Attention! The Beatles coming!“. Heimlich zweckte ich das Plakat an einen alten Holzlattenzaun an der Endhaltestelle der Straßenbahnlinie 12, also in Dresden-Leutewitz, einem Ort, an dem ich täglich vorbei musste, wenn ich zur Schule ging und an dem es auch viele Leute sehen konnten und auch sehen sollten. Ich hatte mich vergewissert, dass mich niemand beobachtete. Gleich um die Ecke wohnte A., einer meiner Schulfreunde (Die Abkürzung: A. könnte man in Zukunft als „A-Punkt“ lesen, sie taucht noch öfter auf). Dem hätte ich es gern gezeigt. Aber der kam nicht oder war schon durch. Immer wieder schaute ich mich um. Ein bisschen Angst hatte ich schon, denn es war ja verboten, privat Plakate zu malen und sie zu veröffentlichen und dann auch noch mit einer „imperialistischen“ Botschaft. Aber es ging gut. Kein Mensch war in der Nähe. Jedoch, es hing nicht lange. Schon als ich wieder mit A. zusammen aus der Schule kam und es ihm nun stolz zeigen wollte, war es heruntergerissen. Irgendein blöder Kunstbanause hatte es vernichtet. Oder war es ein doofer Genosse oder gar die alles sehende Stasi? Oder vielleicht sogar ein einsamer Beatlesfan, der es sich übers Bett hängen wollte? Das wäre ja noch tröstlich. Ein bisschen tat es mir leid, dass es weg war. Es war so schön und gut gelungen. Es hätte noch vielen Leuten Freude bereiten können, dachte ich naiv.

Dann bekam ich doch noch eine Single von den Beatles: „All my Loving“ und eine Aufnahme mit „Tony Sheridan and the Beatles“. Das waren zwar nicht die größten Songs, aber immerhin. Ich glaube auch Amiga presste damals ein paar Singles, natürlich limitiert und demzufolge nur unter dem Ladentisch zu erhalten - für eine Flasche Ketchup als Zugabe zum offiziellen Verkaufspreis o. ä. Mit meinen Schätzen zog ich in den großen Ferien und bei schönem Wetter Tag für Tag in das schon erwähnte und nahe gelegene Luftbad, wo sich immer ein Haufen Jugendlicher um mich herum scharrte, wenn ich meine „Orgel“ anwarf und die heißen Rhythmen aus dem Deckel des Plattenspielers dröhnten. Natürlich drehte ich die Kiste bis zum Anschlag auf. Beschwert hat sich niemand, ganz im Gegenteil. Einen großen Nachteil hatte natürlich diese Betriebsweise: Ich brauchte andauernd neue Batterien. Es waren sechs Stück R20 (Monozellen) nötig und diese hielten nicht lange. Ca. jede Woche brauchte ich Neue. Das war fast teurer als Rauchen, was ich mir in der 10. Klasse dann auch noch angewöhnt hatte, obwohl ich nie Geld hatte. Allerdings konnten wir von geklauten Zigaretten ganz gut leben. Die Oma eines Klassenkameraden arbeitete im „Konsum“. Als netter Enkel besuchte er sie dort einmal in der Woche und holte danach jedes Mal mindestens eine Stange F6 aus dem Anorak. Aber Batterien brachte er nie mit.

Verlass war auf diese unartige Methode der Beschaffung jedoch nicht, zumal es nicht für alle reichte. Wir brauchten also trotzdem Geld, auch weil wir noch andere und viel wichtigere Bedürfnisse hatten. So wollten wir uns zum Beispiel auch auf der frühjährigen „Vogelwiese“ vergnügen, was der Rummelplatz von Dresden war, uns dort ein paar Biere gönnen, hübsche Mädchen beeindrucken oder mit dem Kettenkarussell verrückte Luftnummern zeichnen. Auch fingen wir langsam an, in Gaststätten zu verkehren. Das jährliche Pressefest war auch ein sehnsüchtig erwartetes Ereignis für uns Jugendliche, wo man sogar Fallschirm springen konnte, vom Turm, am Seil. Ebenso gingen wir gern und oft ins Kino. Manch guter „Mantel- und Degen-Film“ aus Frankreich lief damals, wahrscheinlich als Ersatz für Western. Denn die gab’s so gut wie nie. Aber alles kostete eben Geld. Also versuchten wir, uns Arbeit zu beschaffen, neben der Schule, sonnabends. Kartoffeln entladen, nachts aus dreckigen Reichsbahnwaggons, war eine der stupiden Beschäftigungen, die allerdings auf die Knochen ging, zumal für uns magere Schuljungs von 16 Jahren. Hart arbeiten waren wir nicht gewöhnt. Wenn wir Glück hatten, kamen wir dann mit 20 Mark für die ganze Nacht nach Hause. Aber oft gab es gar keine Arbeit und wir mussten unverrichteter Dinge wieder abziehen. Durch die vergebliche Mühe, die großen Anstrengungen und das wenige Geld verloren wir schnell das bisschen Lust, was wir gerade noch so hatten und gingen gar nicht mehr auf Arbeitssuche. Ich versuchte mit meinem kleinen Taschengeld hinzukommen. Zur Not ging ich zu meiner Mutter und bettelte sie an. Sie hatte immer ein weiches Herz für mich, obwohl sie selbst als Stenotypistin wenig verdiente.

Und dann hörten wir „Satisfaction“ von den Rolling Stones im Radio und die Beatles waren abgemeldet. Es war der Beginn eines Krieges, eines Kulturkrieges, eines Glaubenskrieges. Wer war besser, die Stones oder die Beatles? Obwohl es eine reine Geschmackssache war, wurde erbittert Argument gegen Argument gekreuzt - hoffnungslos. Es kam zwar nicht direkt zu größeren Schlachten, zumindest bei uns, aber auseinanderzerren musste man manchmal schon die kulturellen Ochsen.

Mein wunderbarer Plattenspieler war mein ständiger Begleiter geworden, auch zu einer Gelegenheit, die nicht viel mit Musik zu tun hatte: meine Flucht von zu Hause. Meine Schulzeit war Gott sei Dank beendet, die mittlere Reife (also die 10.Klasse) hatte ich mittelmäßig abgeschlossen, und seit einem halben Jahr war ich in der Lehrausbildung. Eines Tages, aus irgendeinem Grund, den ich heute nicht mehr weiß, hatte mich mein gewalttätiger Stiefvater wieder einmal verprügelt, wie so oft, so dass die in mir schon lange keimende Idee einer Flucht Wirklichkeit werden sollte. Meine Mutter war ihrem verrückten Mann gegenüber machtlos oder besser, ebenso brutal ausgeliefert, so dass ich völlig ohne Beistand war. Körperlich konnte ich auch nicht gegenhalten. So hatte ich schon oft darüber nachgedacht, wenn es zu arg wurde, einfach zu fliehen, doch wohin? Gelegenheit hatte ich keine und Geld auch nicht. Doch dieses Mal war es mir zu bunt, und ich hatte eine Idee und die hieß „Berlin“, zu meiner Freundin nach Berlin, die ich letzten Sommer an der Ostsee kennen gelernt hatte. Seitdem schrieben wir uns lange kindische Liebesbriefe. Ich packte ein paar Sachen und weiße Unterwäsche für wenige Tage in meinen Plattenspieler und schlich mich leise aus der Wohnung. Niemand merkte etwas. Der Plattenspieler war mein einziges Gepäckstück – aus gutem Grund. Die Singles waren ebenso im Plattenspieler verstaut. Etwas zusammengequetscht ging das schon. Nun brauchte ich noch ein bisschen Reisegeld. Ich fuhr zu meinen älteren Freunden, erzählte denen von meinem Fluchtplan, den sie sofort akzeptierten und sogar begrüßten, da sie meine familiäre Situation genau kannten. Schon oft boten sie sich an, den Kerl (meinen Stiefvater) mal gemeinsam zu verprügeln. Ich borgte mir 20,- Mark, die letzten, die sie hatten, auch sie waren gerade etwas knapp bei Kasse. Komisch, wir hatten damals niemals Geld, obwohl wir alle arbeiteten, ich eben als Lehrling. Mit dem Hinweis auf absolute Verschwiegenheit verschwand ich zum Hauptbahnhof, auch in der Hoffnung, dass diese Flucht nicht noch durch irgendeinen Zufall entdeckt und vereitelt würde.

Im Zug kam die Erlösung, es hatte geklappt, ich war geflohen. Sollen sie sich doch Sorgen machen. Auch meiner Mutter gönnte ich das, obwohl wir uns sehr nahe standen. Warum hat sie denn diesen Idioten geheiratet! Schon immer war ich dagegen. Ich hatte keine Gewissensbisse. Ich war nur noch froh. Der Zug war voll. Ich hatte gerade noch einen Sitzplatz erwischt. Mir gegenüber saß ein junges Ehepaar, mit denen ich ins Gespräch kam. Sie waren sehr freundlich und interessiert. Trotzdem erzählte ich von meiner gerade geglückten Flucht natürlich nichts. Als der Mann mitbekam, dass ich rauchte, bot er mir eine Filterzigarette an, die ich dankend und gern annahm. Aus oben genannten Gründen hatte ich leider sehr selten eigene Zigaretten. Ich schlauchte mich eben immer so durch. Allerdings, wenn ich mal Geld hatte und dann auch Zigaretten, dann war ich damit auch sehr großzügig. Nur so konnte dieses Geben und Nehmen ja funktionieren. Hier jedoch war mir klar, dass ich keine Gelegenheit haben werde, mich bei meinem Gegenüber zu revanchieren. Das störte mich aber auch nicht weiter, denn das Ehepaar machte einen ziemlich wohlhabenden Eindruck. Auf alle Fälle war die Fahrt mit angenehmen Mitreisenden sehr kurzweilig und das Gesprächsthema lenkte sich natürlich auch bald auf mein Hauptinteressengebiet: Rock- und Beat-Musik, die beide auch zu mögen schienen, zumindest er. Er war auf dem Gebiet ganz gut bewandert, denn er kannte etliche Presley- und Beatles-Songs. Natürlich blieb es nicht aus, dass ich ihm anbot, gleich mal ein paar Songs vorzuspielen. Ich tippte auf meinen Kasten und erklärte ihm den Inhalt dessen. Er war verwundert, über die neue Technik und auch erfreut, gleich mal etwas zu hören. Ich öffnete schnell das rote Köfferchen, ohne lange nachzudenken und da purzelte, mir zum Schreck, meine hineingestopfte Unterwäsche aus selbigen und lag ausgebreitet zu aller Füßen auf dem Boden des Waggons. Mit hochrotem Kopf erkannte ich die Peinlichkeit der Situation und es wurde mir noch peinlicher, als die Fahrgäste anfingen, mir beim Auflesen zu helfen und die Frau von Gegenüber sogar noch die langen Unterhosen ordentlich zusammenlegen wollte. Ich wehrte ab, bedankte mich artig, legte das ganze Zeug auf meinen Sitz und setzte mich zum Erstaunen meiner Nachbarn oben drauf. Ich musste ja den Plattenspieler leer haben, um mein Vorhaben, Musik-Platten aufzulegen, aller Widrigkeiten zum Trotz, durchführen zu können. Letztendlich klappte es und es ertönte in gehöriger Lautstärke die Stimme von Elvis Presley durch den ganzen Waggon, was nun wieder meinen beiden Freunden vis-a-vis peinlich wurde. Sie baten mich, die Kiste etwas leiser zu drehen. Da der Waggon keine Abteile hatte, konnten alle Leute diese wunderbare Musik mit „genießen“. Das sah so aus, dass etliche Fahrgäste über diese „Neger-Musik“ schimpften und ihre Ruhe haben wollten. Ich drehte die Musik also leiser und nach vier oder fünf Platten verpackte ich wieder mein gesamtes Hab und Gut. Die Show war zu Ende. Am Ostbahnhof trennten sich unsere Wege.

 

Meine Berliner Freundin war erstaunt und erfreut als ich plötzlich vor ihrer Tür stand, fiel mir um den Hals und fragte erst dann, wie es zu dieser unerwarteten Freude gekommen sei. Auch ihre Mutter, die offenbar von mir wusste, freute sich, den Kerl mal persönlich kennenzulernen, der ihrer Tochter so sehr den Kopf verdreht hatte. Ich verhehlte ihnen nicht, dass ich vorhatte, nie wieder nach Hause zu gehen und bat demzufolge darum, eine Weile bei ihnen wohnen zu dürfen. Da war dann die Freude nicht mehr ganz so groß, vor allem als die Frage geklärt werden musste, wo ich schlafe. Die Wohnung war klein, meine Freundin hatte nur ein Bett mit im elterlichen Schlafzimmer. So bekam ich für diese erste Nacht das Bett meiner Freundin und sie schlief im Doppelbett mit ihrer geschiedenen Mutter. Es war allerdings auch die letzte Nacht. Ihre Mutter, die eigentlich sehr verständnisvoll, aber mit diesem Überfall von mir doch auch überfordert war, erklärte mir am nächsten Tag, dass dies nicht so gehe. Einerseits kann ich nicht einfach so verschwinden, alle werden sich sorgen und außerdem könnte das auch noch andere Konsequenzen haben. Wenn nämlich meine Eltern eine Vermisstenanzeige aufgeben und ich dann hier in Berlin gefunden werde, besteht die Gefahr, dass man daraus schnell eine versuchte Republikflucht machen könnte. Mit „Eltern“ war damit auch mein leiblicher und geschiedener Vater gemeint, der in die tatsächliche Suche nach mir, so erfuhr ich später, auch mit einbezogen worden war. Nachdem wir den ganzen Tag diskutiert hatten und sie beide mir verständnisvoll zuredeten, ich aber trotzdem nicht wieder nach Hause wollte, schlug ihre Mutter vor, mich wenigstens vorsorglich bei der Ostberliner Polizei zu melden. Zum einen ist damit ein Verdacht auf Republikflucht passé und zum anderen kann auch die Fahndung abgebrochen werden. Dass man mal von zu Hause abhaut, das versteht jeder, auch die Volkspolizei, dein Freund und Helfer. Vielleicht wird es auch bei dir zu Hause etwas anders, wenn die Polizei mit anrückt und dich nach Hause bringt, so die Erwägung meiner Freundin. Dem Kerl werden sie schon die Meinung geigen. So ließ ich mich überreden und noch am Abend zur Polizeiwache bringen. Meine Freundin begleitete mich bis hinein, bestätigte meine Angaben und mit Tränen in den Augen und mit einem Küsschen verabschiedeten wir uns. Dann wurde ich in einen Verwahrraum geführt, zusammen mit meinem roten Köfferchen voller Musik und Wäsche.

Während eines stundenlangen Verhörs, wo mir offenbart wurde, dass tatsächlich meine Eltern am Morgen eine Vermisstenanzeige aufgegeben hatten, wurde ich zum ersten Mal in meinem Leben erkennungsdienstlich erfasst. Danach brachte man mich in ein Berliner Durchgangslager für Kriminelle. Nichts war es mit nach Hause fahren. Spät abends traf ich mit einer „Grünen Minna“ der Volkspolizei dort ein, bekam ein Bett zugewiesen und konnte erst einmal bis zum Morgen schlafen mit knurrendem Magen. Die Abendbrotzeit war schon lange vorbei, da gab’s auch keine Ausnahmen. Mangels Schlafanzug schlief ich, wie schon die letzte Nacht, in Unterwäsche. An solch einen Luxus, wie Schlafanzug hatte ich natürlich damals zu Hause nicht gedacht. Zu überstürzt hatte ich reagiert, war ich abgehauen. Auch Zahnputzzeug fehlte und vieles mehr. Mein Gepäck, also mein roter Plattenspieler, war mir abgenommen worden. Ich kann mich nicht mehr entsinnen, ob dieses Gepäckstück, was ja für die Polizei ziemlich seltsam und verdächtig gewesen sein musste, jemals ein Ermittlungsgegenstand für sie war. Wahrscheinlich nicht. Erstaunlich! Wann verreist schon mal jemand mit einem Plattenspieler.

Zeitig wurden wir geweckt. Ich fand mich in einem kleinen kahlen Raum mit vier Doppelstockbetten wieder, die alle belegt waren. Die Fenster waren vergittert, die Türen verschlossen. Finstere Typen musterten mich. Es wurde zum Frühstück gepfiffen, die Türen öffneten sich und ich konnte erkennen, dass aus mehreren Räumen Jugendliche strömten. In einem großen Saal saßen wir dann alle unter Bewachung zusammen und aßen. Die Wachleute waren in Zivil und übernahmen offensichtlich mehr oder weniger die Rolle von autoritären Erziehern. Wie ich erfuhr, war ich in einem Durchgangslager gelandet, wo straffällige oder widerspenstige Jugendliche unfreiwillig darauf warteten, in einem entsprechenden Jugendwerkhof abgeliefert zu werden. An viel kann ich mich nach all den Jahren nicht mehr erinnern, nur daran, dass ein strenges, ja fast brutales Regime herrschte und dass alle rauchten und dies auf Zuteilung. Sofort nach dem Frühstück wurden Zigaretten verteilt und gierig in Empfang genommen. Offensichtlich waren das aber eigene. Denn manche Raucher bekamen keine Zigaretten, sondern bettelten dann bei einem anderen Gefangenen. Wenn der dann genug Zigaretten vorrätig und überdies ein freundschaftliches Gewissen hatte, dann konnte der Bedürftige hoffen. So ging es mir jedenfalls. Ein netter Mensch erbarmte sich und gab mir immer mal einen Zug von seiner Zigarette ab. Mehr Gnade durfte man hier nicht erwarten. Damit die Zigarette voll ausgekostet werden konnte, wurde die Kippe am Ende noch auf eine Stecknadel gespießt. Rauchen und Warten waren hier also die Hauptbeschäftigungen. Ich kann mich auch nicht entsinnen, dass die Jugendlichen irgendeine Trauer verspürten, hier zu sein, dass sie geknickt wirkten oder gar verzweifelt. Jeder schien das Dasein als eine bekannte Notwendigkeit anzusehen, als unvermeidlich. Sie standen ihrem Schicksal offenbar gleichgültig gegenüber. Vermutlich waren die meisten auch schon mehrfach hier eingeliefert worden. So standen wir stundenlang, eigentlich den ganzen Tag, unterbrochen durch die Mahlzeiten, gelangweilt in einem großen Raum herum und qualmten, scheinbar sorglos. Es gab keine weitere Beschäftigung, zumindest kann ich mich an keine weitere erinnern. Es könnte sein, dass noch ein Schachbrett vorhanden war. Die energischen Aufseher waren natürlich immer mitten unter uns. Die Fenster wurden von Zeit zu Zeit geöffnet, so dass der Mief sich durch die Gitter quälen und gleichzeitig man einen Blick nach Berlin erhaschen konnte.

An einem der nächsten Tage ereignete sich jedoch noch eine andere, eine krasse Begebenheit, die mir noch deutlich in Erinnerung ist und die mir zeigte, dass die Jugendlichen doch noch Empfindungen hatten. Den ganzen Tag über bemerkte ich schon eine gewisse Aggressivität bei verschiedenen Typen, die offensichtlich der Meinung waren, hier unschuldig eingesperrt zu sein. Sie pöbelten herum, vergriffen sich an Gefangenen und maulten die Wachleute an, die jedoch besänftigend auf sie einredeten, mit mäßigem Erfolg. Am Abend waren diese aggressiven Kerle in anderen Schlafsälen untergebracht, waren also nicht mit mir zusammen. In meiner Zelle war schon weitgehend Ruhe, das Licht war ausgeknipst und wir lagen friedlich in den Betten. Leise unterhielten wir uns noch in der Dunkelheit. Mit einem der Insassen hatte ich mich ein bisschen angefreundet. Es war mein Bettnachbar, ein netter Kerl, auch Musik-Fan, und gemeinsam schwärmten wir an diesem Abend von den Four-Seasons, die gerade den tollen Song „Rag Doll“ heraus gebracht hatten. Diese beeindruckenden Kopfstimmen fanden wir unglaublich schön und die Traurigkeit oder die Sehnsucht die in diesem Satzgesang lag, machte mir die eigene Situation schmerzlich deutlich. Schließlich fühlte ich mich hier wie im Knast. Wir waren gerade dabei, diesen herrlichen Satz leise im Duett nachzusingen, als wir plötzlich durch heftigen Lärm, der aus den Nachbarräumen zu uns drang, unterbrochen wurden. Wir hörten Gefangene herumschreien, hörten laute Poltergeräusche, als ob Möbelstücke zerschlagen würden und wir hörten Scheiben klirren. Ein Aufstand war ausgebrochen, so schien es. Es wurde gegen die Tür geschlagen und getreten und offensichtlich wurden auch Gegenstände geworfen. Die zivile Wachmannschaft eilte herbei, so hörten wir, sie schlugen auf die Randalierer ein und wurden der Situation trotzdem nicht Herr. Noch immer barst Holz, noch immer klirrte Glas. Wir standen inzwischen am Fenster und versuchten mitzubekommen, was da neben uns geschah und sahen immer mal schemenhaft irgendwelche Bruchstücke auf die Straße segeln. Offensichtlich hatten die Gefangenen nebenan mit brachialer Gewalt ihre Betten zerlegt und warfen diese zu Kleinholz gemacht durch die vergitterten und verschlossenen Fenster auf die Straße. Das zog sich lange hin, bis wir von der Straße her Sirenen von alarmierten Polizei-Autos hörten und sahen. Das gefürchtete Überfallkommando war im Anrollen. Sie stürmten ins Haus. Wir sprangen eilig wieder in unsere Betten und lauschten gespannt, ob der Ereignisse, die da kommen mögen. Plötzlich wurde auch unsere Tür aufgerissen, das Licht ging an, was uns natürlich blendete und mehrere Polizisten mit erhobenen Gummiknüppeln stürmten in unseren Verwahrraum. Ich fuhr auf, saß unschuldig im Bett und blinzelte verkniffen einen Polizist gegen das Licht an! Er kam eiligst auf mich zu und schrie: