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Erzählungen
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Kleine Selbstbiographie

Ich bin, da ich dieses schreibe, siebenundzwanzig Jahre alt. Aber ich könnte auch schreiben: drei Jahre, oder: fünfzigtausend. Ich stamme irgendwo aus der Mark. Ich bin ein Preuße. Und meine Farben, die ihr kennt, sind Schwarz und Weiß. Schwarz, das ist die Nacht, und weiß, das ist der Tag. Ich bin Tag und Nacht. Ich bin in der Mark geboren, aber früher lebte ich einmal in China und schrieb, mit einer großen Hornbrille betan, kleine Verse auf große Seidenstreifen. Mein Weg ist noch weit. Wer mich eine Stunde begleiten will, soll mir willkommen sein. Immer wieder muß ich geboren werden. Ich kann mich noch gut erinnern, daß ich einmal ein Hase war und über die Felder hoppelte und Kohl fraß. Später war ich ein Geier, der den Hasen die Augen auszuhacken pflegte. So mordete ich mich selbst. Ich war gut. Ich war schlecht. Ich war schön und häßlich; liebreizend und entsetzlich, feige und tapfer, herrisch und knechtisch. Ich liebe die Menschen. Aber ich liebe sie nicht mehr als die Tiere oder die Sterne, mit denen ich gerade so zu sprechen vermag wie mit dir, mein menschlicher Bruder. Ich liebe die Frauen. Allen voran die liebste Frau, die mir Tochter und Mutter Gottes war. Sie ist längst an Gottes Thron zurückgekehrt. Dort steht sie, die Lilie in der Hand, und lächelt und weint auf mich herab. – Was ihr kennt, ist nur ein Teil dessen, was ich dichtete. Oft hat mir der Wind die Blätter verweht, auf denen ich schrieb. Ich habe bei meinen vielen Wanderschaften zwei ganze Dramenmanuskripte verloren. Wer sie gefunden hat, soll sie behalten, ob er nun sein Zimmer damit tapeziert oder ob er sie seiner Frau nach dem Nachtmahl vorliest. Immer wieder muß ich mit heißer Klinge die klingenden Kämpfe in mir zu Ende fechten. Den Kampf der roten und der weißen Rose. Wenn ich einmal verblutet dahinsinke, soll man mir weiße und rote Rosen aufs Grab werfen. Das soll geschmückt sein wie ein Brautbett, und ein liebendes Paar soll wie Goldregen darauf niederstürzen. Und noch im Tode werde ich das neue Leben segnen.

Abenteuer

Konrad war so betrunken, daß er jeder weiblichen Gestalt, die sich in den nächtlichen Straßen zeigte, nachschoß, sie überholte, unter einer Laterne stehenblieb, um sie zu betrachten, und entsetzt zurückfuhr. Nun verfolgte er einen Backfisch, der von einer Gesellschaft kam und vom Dienstmädchen nach Hause begleitet wurde. Sie erwiderte seine Blicke kühl und neugierig. Aber plötzlich fehlte ihm der Mut, sie anzusprechen. Er konnte sich nicht aufraffen und bog mechanisch in eine Nebenstraße ein.

Er war ein paar Schritte gegangen, als er hinter einem Parterrefenster einen roten Vorhang leuchten sah. Also mußte Licht dahinter sein.

Das ist etwas, dachte er, er wußte selbst nicht, warum, und klopfte mit dem Spazierstock leise an das Fenster. Einmal, zweimal.

Mein Gott, dachte Esther, sollte es ein Freund von Kurt sein? Sie warf sich ein Tuch um die nackten Schultern und spähte durch die Vorhangspalte. Sie sah nur einen undeutlichen Schatten. Sie öffnete das Fenster ein wenig.

»Wer ist da?«

»Ich will herein«, sagte Konrad, »mach auf!«

Sie stieß das Fenster zurück und beugte sich leise hinaus. Da blickte sie in sein heißes, erregtes Gesicht, seine gierig gespannten Augen und hörte seine Stimme vibrieren. Er ließ den Stock fallen und hob beide Arme wie ein Adorant: »Du …«

Es betörte sie: die dämmerig-lüsterne Straße, der wilde Liebhaber und die ganze prickelnde Situation: jeden Augenblick konnte Kurt hereintreten und sie ertappen.

Er saß zwar drüben im Arbeitszimmer und schrieb an einer Abhandlung, er konnte noch stundenlang schreiben – er saß oft bis zum Morgengrauen über seinen Manuskripten –, aber er konnte ebensogut jeden Augenblick die Tür öffnen.

Sie schlich zur Tür und horchte in den Korridor.

Dann verriegelte sie vorsichtig, tappte über den Teppich zum Fenster und sagte: »Du mußt durchs Fenster steigen.«

Mit einem Schwung war Konrad im Zimmer.

Und als er die schöne Frau erblickte, die im Nachtkittel, mit einer spitzen Haarfrisur, schwarzen, schmalen Augen und einer blaßgelben, weichen Stirn vor ihm stand wie ein Bild aus einem japanischen Holzschnitt – da wurde er nüchtern von seiner Trunkenheit und rasend vor Liebe.

Ächzend preßte er seinen Kopf an ihre Brust.

»Still, Liebster«, sie küßte sein Haar, machte sich zärtlich von ihm los und trippelte lauschend zur Tür. Dann griff sie rechts an die Wand und knipste das elektrische Licht aus.

Konrad ging denselben Weg durchs Fenster, den er gekommen war, eine blaue Seidenschleife vom Halsbesatz ihres Nachtkittels in der Faust.

»Was ist denn das?« sagte Kurt, während er sich das Oberhemd auszog, »da fehlt ja an deinem Halskragen die blaue Schleife?«

»Ja«, sagte Esther gleichgültig und tastete an den Hals, daß ihre Fingerspitzen mit den Brüsten spielten, »die Wäscherin ist zu nachlässig. Da hat sie wieder die Schleife vergessen …«

Das Mädel

»Sie sind ja rührend unverschämt«, sagte das Mädel – aber sie meinte es nicht ernst.

»Der Mond benimmt sich heute empörend auffällig«, stellte er mit einem melancholischen Blick auf den fahlen Nachthimmel fest. Äcker und Sträucher lagen weißbestaubt von Licht.

Es war eine Lichtstimmung wie an schwülen Sommertagen kurz vor Sonnenaufgang.

Das Mädchen lachte: wie Mädchen in Liebeserregung lachen, girrend, schluchzend.

Drinnen im Haus rief eine Stimme: »Anna.«

»Ich muß hinein«, sie bot ihm ihre Lippen zum Kusse, »schlafen Sie wohl, Herr Adjunkt.«

Schon war sie um die Ecke verschwunden.

Er wartete eine Minute, dann trat er vom Haupteingang, von der Dorfstraße her, ins Haus.

In der vorderen Gaststube schimpften, schnupften und soffen ein paar Fuhrknechte und Bauernsöhne ihren Kornfusel.

Er stieß mit dem Fuß die Tür zum Honoratiorenstübel auf. Es war leer. Er setzte sich an einen Tisch. Der Wirt kam und steckte eine Petroleumlampe an.

»Viel Ehre, der Herr Adjunkt, was darf ich geben?«

»Eine Halbe Rotwein.«

Er überlegte eine Weile, zögerte, griff schließlich nach dem Portemonnaie und legte ein Zwanzigmarkstück auf den grobgehobelten Holztisch.

Der Wirt brachte Wein, Glas und eine Serviette. Er deckte eine Ecke des Tisches.

»Herr Wirt!« Der hatte schon gehen wollen und wandte sich um. »Das gehört Ihnen.« Er zeigte auf das Goldstück.

»Soll ich wechseln?« sagte dienstbeflissen der Wirt.

Der andere wehrte ab. »Es gehört Ihnen ganz und gar.«

Er horchte nach der vorderen Gaststube. Da lärmten und tobten sie, daß die Scheibe der Zwischentür klirrte.

»Wenn Ihr mich heute in die Kammer des Mädchens laßt!« fügte er langsam hinzu. Dann trank er einen Schluck und sah den Wirt erwartungsvoll an. Die Augen des Wirtes liebkosten lüstern den gelben Glanz. »Es ist ja nicht meine Tochter«, flüsterte er unschlüssig.

»Soll ich noch eine Lampe anstecken?« sagte der Adjunkt, »man kann vielleicht nicht richtig sehen?«

»Gut«, stieß der Wirt die Worte hastig hervor, als könne er sie nicht schnell genug loswerden, »wenn das Mädchen nichts dagegen hat, was geht es mich an?«

Im Vorderzimmer rief man den Wirt. Er holte sich das Goldstück, wie man eine Fliege fängt, verbeugte sich und sagte: »Wünsche wohl zu ruhen, Herr Adjunkt.«

»Anna«, sagte der Wirt am nächsten Morgen, »komm, gib mir die Hand.« Sie stand am Faß und spülte Gläser, wischte sich die Hand am Kleide ab und gab sie ihm. Als sie sie zurückzog, sah sie, daß ein Fünfmarkstück in der hohlen Fläche lag.

»Was soll das?« Verwundert blickte sie zum Wirt herüber.

Er grinste. »Der Herr Adjunkt hat sich mir erkenntlich gezeigt, da, die Hälfte ist für dich.«

Das Geldstück fiel klingend zu Boden. Zu gleicher Zeit flammte ihr Gesicht feuerrot und schneeweiß.

Am Abend fand man sie am Bettpfosten erhängt.

Hieronymus

Hieronymus baute ein Kloster und eine Kirche mitten in die Wüste. Da kam eines Tages ein Löwe an die Kirchenpforte, der hinkte auf einem Bein und stieß ein klägliches Geschrei aus; nicht wie ein Löwe brüllte er, sondern er miaute wie eine Katze. Die Mönche gaben Fersengeld, als sie ihn sahen. Sankt Hieronymus aber ging zu ihm. Da reichte er ihm die linke Vordertatze, und Sankt Hieronymus sah, daß ein Dorn darin steckte. Den zog er heraus und verband den Fuß des Löwen mit einem Fetzen, den er von seinem Mantel gerissen. Seitdem wich der Löwe nicht mehr von seiner Seite.

Der Löwe war von Sankt Hieronymus zum Hüter der Esel bestellt. Er führte sie früh auf das Feld und abends wieder heim. Eines Tages trieb er einen Zugesel zur Weide; draußen aber legte er sich nieder, weil es eine große Hitze war, und entschlief. Währenddessen kam eine Karawane des Weges; die sah den Esel einsam und nahm ihn mit sich. Als der Löwe erwachte und den Esel nicht sah, erschrak er, lief hin und her und ließ sein Gebrüll in der Wüste erschallen. Aber keines Esels I-a antwortete seiner dumpfen Frage. Wo? wo? wo? Da stapfte er, den stolzen Kopf mit der gelben Mähne tief gesenkt, heimwärts. Denn er schämte sich, daß er den ihm anvertrauten Dienst derart fahrlässig versehen. Die Mönche wollten ihn nicht durch die Pforte lassen; denn sie glaubten, daß er den Esel gefressen habe, gaben ihm auch nichts zu fressen und sagten: »Verdau' du erst den Esel, den du verschluckt hast!«

Sankt Hieronymus aber glaubte an des Löwen Unschuld, ließ ihn ins Kloster und befahl ihm, künftig an Stelle des Esels den Karren zu ziehen. Da schritt der stolze Löwe nun im Joch des Esels. Als er eines Tages wieder auf der Weide war, zog die Karawane, die einst den Esel gestohlen, auf dem Rückweg vorüber, und an der Spitze trottete, voll bepackt mit Essenzen und Edelsteinen, des Löwen Esel. Da schrie der Löwe derart, daß die Räuber – solche waren die Karawanenreiter – vor Furcht davonliefen. Da trieb der Löwe die ganze Karawane mit dem Esel an der Spitze – wohl hundert Maultiere und Kamele, beladen mit tausend Kostbarkeiten – vor das Kloster, daß die Mönche nicht wenig erstaunten, als sie den wunderbaren Zug einherschreiten sahen. Sie öffneten das Tor, und herein schritten alle Tiere, zum Beschluß aber der Löwe, der wie ein Hündlein mit dem Schwanze wedelte. Die Mönche waren hocherfreut über die sonderbare Christbescherung – denn es war gerade der Heilige Abend. Hieronymus aber befahl, daß man des Gutes gut achte und, wenn sich seine rechtmäßigen Herren meldeten, daß man es ihnen wiedergebe. Aber die Räuber ließen sich aus Furcht vor dem Löwen nicht blicken, so daß nach einem Jahr all die Kostbarkeiten dem Kloster anheimfielen. Der Löwe aber war selig, daß er seinen Esel wieder hatte. Sie ließen einander nicht mehr aus den Augen, und es heißt, daß der Heilige sich oft als dritter zu ihnen gesellte und mit ihnen in einer Sprache sprach, die niemand verstand. Er war mit dem Esel und dem Löwen befreundet wie mit Menschen, und als er starb, starben der Löwe und der Esel mit ihm, und man begrub sie in demselben Grab. Himerius, Bischof von Amelia, machte, als man Hieronymus heiligsprach, den Vorschlag, auch den Esel und den Löwen heiligzusprechen. Ich weiß nicht, ob im Ernst oder etwa aus Bosheit.

 

Oktavian und Mark Anton

Der Jüngling stand im Türrahmen, den fieberheißen Kopf an den kalten Marmor gelehnt.

Wie süß der Stein kühlt! Dies dachte er und: Ist mein Kopf schon heiß, brennt mein Hirn – so darf mein Herz sich nicht in Flammen setzen lassen. Es muß kalt bleiben, so kalt wie dieser Marmor. So kalt wie Cäsars Leiche. Ich legte meine Wange an die seine.

Mark Anton redete auf ihn ein. Er redete mit spitzen Lippen, die auf- und zuklappten wie der Rachen eines Raubfisches, er redete mit strahlenden Augen, die wie Fahnen waren, mit Fäusten, in denen Speere zuckten. Um seine Lenden stob ein grober Mantel, daß es aussah, als öffne ein Raubvogel seine Schwingen.

Oktavian hielt die Augen geschlossen und schien kaum hinzuhören. Aber jedes der Worte Mark Antons schrieb sich in sein Gedächtnis wie mit beinernem Griffel in Wachs.

»Cäsars Platz ist frei geworden!«

Cäsars Platz ist frei geworden! jubelte ein Echo hinter Oktavians unbeweglicher Stirn.

»Die Mörder haben ihn aus einem lächerlichen Gefühlsüberschwang heraus gemordet, aus Pathos sozusagen, besoffen gemacht von ihren volksbeglückerischen Ideen, an die sie, die Strolche, im Ernst zu glauben schienen. Jetzt, da der Koloß tot am Boden liegt, sind sie starr. Sie sehen entsetzt, daß beim Morden Blut fließt, und wissen nicht, was sie machen sollen. Die Partei ist in Dutzende von Sekten und Klüngeln gespalten, die alle durch ein Band geeinigt sind – das Band der Habsucht, der Gold-, Profit-, Ämtergier.«

Oktavian hüstelte. Er spie den Schleim zu Boden. Mark Anton, lauernd: »Ihr seid krank?«

Oktavian wandte den bleichen Kopf seitwärts: »Ein wenig, Konsul. Das Klima Griechenlands war mir nicht zuträglich.«

Mark Anton, höflich: »Hoffen wir, daß Euch das römische besser zusagt.«

Oktavian nickte schweigend.

Mark Anton fuhr fort: »Ich habe Cäsar geliebt.«

Er biß die Zähne zusammen und wiederholte haßerfüllt: »… geliebt – geliebt –«

»Wer, der für wahre Größe empfänglich ist, hätte ihm seine Zuneigung und Wertschätzung versagen können?«

Oktavian sprach die Worte ohne Betonung.

»Soll Rom dem Geier Brutus, dem Warzenschwein Cassius, der giftigen Viper Cicero anheimfallen? Gibt es keine aufrechten Männer mehr in Rom?«

Oktavian reckte sich unmerklich.

»Männer, bereit, ihr Leben für die Größe des Vaterlandes einzusetzen?«

Oktavian schwieg. Sein sandalenbeschuhter Fuß stieß nach einem Tausendfüßler, der aus dem Mauerkalk kroch.

»Oktavian!« schrie Mark Anton. »Cäsar hat Euch adoptiert! Ihr seid sein von ihm und von den Göttern gewollter Erbe. Verbündet Euch mit mir: Euer Recht, meine Macht: wir werden vereint unüberwindlich sein. Ich habe mich mit meinen Legionären noch in der verflossenen Nacht in den Besitz des Staatsschatzes gesetzt.« Er lachte verächtlich. »Wer Gold in der Hand hat, hat Rom in der Hand.«

Er schwenkte Papierrollen: »Ich habe das Testament Cäsars der erschreckten Cornelia aus den Händen gerissen. Ich bin als Konsul sein gesetzlicher Nachfolger –«

Oktavian unterbrach ihn leise, indem er ihn mit kalten Augen ansah. Mark Anton erschrak vor diesen Augen eines Neunzehnjährigen: »Und wozu braucht Ihr mich?«

»Wie Cäsar mich brauchte, brauche ich Euch, Oktavian.«

Oktavian dachte blitzschnell: Wenn ich mich zu Cicero und den Republikanern schlage, werden sie in Sicherheit gewiegt. Sie werden alle ihre Kampfmittel zum Kampf gegen Mark Anton aufbieten. Sie werden sich verbluten. Im Kampf gegen Mark Anton. Er wird auch nicht ungeschwächt davonkommen. Man wird ihn heftig zur Ader lassen. Ich werde mein Ja und Nein im letzten Moment in die Waagschale werfen, denn noch habe ich nichts als mein verbrieftes Recht, der Erbe Cäsars zu sein. Ich kann nur gewinnen, wenn beide verlieren.

»Mark Anton«, sagte Oktavian. »Ich bin müde. Die Dämmerung kommt. Und meiner schwachen Gesundheit ist die Abendluft nicht zuträglich. Wir sehen uns bei der Leichenfeier Cäsars wieder. Ich habe alles wohlverstanden, was Ihr gesagt habt, und werde Euch im gegebenen Moment meine Antwort nicht vorenthalten.« Er reichte Mark Anton die Hand, die sich anfühlte wie Holz, wie Borke, blutlos. Dann ging er, leicht gebeugt und hüstelnd.

Mark Anton faßte sich an sein Herz. Durch den Portikus kam von den Wiesen der feuchte Abendnebel wie eine weiße Schnecke gekrochen und ließ ihn frösteln.

Das Lächeln der Margarete Andoux

Für Fiete Wilhelm

Sie war die Urenkelin französischer Emigranten.

Margarete Andoux' Lächeln hing wie ein ewiger Frühlingshimmel über der kleinen Stadt. Was wäre die kleine Stadt ohne Margarete Andoux' Lächeln? Wer wüßte von ihr? Von ihrem polnisch zischenden Namen, ihren schmutzigen, gleichgültigen Straßen? Wie könnte ich eine Geschichte von ihr erzählen, wenn Margarete Andoux nicht wäre? Ihr Lächeln flatterte in die dunstigen Kontore, die schlecht belichteten Läden, die engen und trüben möblierten Zimmer. Durch die Fenster der Schulhäuser, wenn sie auch zur Hälfte geweißt waren, damit kein Unaufmerksamer seine Blicke auf die Gasse spazieren schicke, glitt dieses Lächeln wie Morgensonne in die kahlen Räume. Der Lehrer rückte unruhig und verlegen an seiner Doublebrille und zwinkerte mit den Augen, als ob ihm ein Insekt hineingeflogen wäre. Die halbwüchsigen Schüler aber, diese Bengel, die eben erst anfingen, sehen, hören und fühlen zu lernen, saßen steif und verdutzt da und trieben in ihren dummen Seelen andächtigen Unfug mit Margarete Andoux' Lächeln.

Schon der Name, wenn man ihn wie eine Delikatesse in den Mund nahm: Margarete Andoux. Die Zunge streichelte ihn und wollte ihn nicht loslassen und hielt ihn zurück, bis er sich endlich löste und in einem Durmoll – »doux« – hinstarb, das in ein flehendes »du« hinüberglitt.

Alle liebten sie Margarete Andoux. Der zwergige, aber großspurige Tuchfabrikant Kellermann, der das Geschäft von seinen Vätern geerbt halte, nie aus der Kleinstadt herausgekommen war, aber in der Stadtverordnetenversammlung ein gewaltiges Maul führte, er schrumpfte samt seinem Maul in ein wahrhaftes Nichts zusammen, wenn er Margarete Andoux begegnete, und trug seinen Hut wie vor der Muttergottes mindestens zehn Minuten in den Händen, ehe er ihn wieder aufsetzte. Er liebte Margarete Andoux. Der geistvolle Oberlehrer Klingebiel, der den Doktor, viele Reisen und in einer achtjährigen Ehe sieben Kinder gemacht hatte: er liebte Margarete Andoux. Der Bäckerjunge, der die Semmeln zu Margarete Andoux' Tante brachte, bei der sie wohnte: er liebte sie. Der Tapezierer, der die Gardinen feststecken kam, der Ofensetzer, der Bürgermeister, der kleine, schüchterne Sekundaner Bregler, der täglich zum lieben Gott betete, er möge ihn so schön wie Schiller dichten lassen, der versoffene Stadtlump und verkommene Uhrmacher, genannt »der schöne Oskar«, der Student der Theologie Herr Böserle, der Apothekerlehrling – alle, alle liebten sie Margarete Andoux.

Die Frauen aber haßten Margarete Andoux und ihr Lächeln, das ihnen die Augen und Herzen ihrer Männer abspenstig machte. Am meisten aber war Margarete Andoux gehaßt von Isabelle Kersten. Das war das zweitschönste Mädchen der Stadt und ihre beste Freundin. Damals hockte in der kleinen Stadt ein verbummelter Student der Jura, der wohl zwölf Semester auf seinem krummgebogenen Rücken schleppte. Nachdem sein Vater erst kürzlich fünftausend Mark Schulden schweren und schmerzenden Herzens für ihn bezahlt hatte – gab er ihm nun zum letzten Male Geld, daß er sich in der Ruhe der Ländlichkeit auf sein Examen vorbereite.

Adalbert Klinger trug kreuz und quer lange und kurze Schmisse von seiner Burschenschaftszeit her auf der linken Wange und auf der Stirn, die unnatürlich tiefrot, wie mit roter Tinte gezeichnete Striche, auf der blaßgelben Haut lagen. Der Alkohol trieb sie auf. Adalbert Klinger soff. Aber seine ruhigen, braunen, halbzugekniffenen Augen und der sinnliche, etwas schiefe Mund übten eine verwirrende Wirkung auf die Frauen. Alle Frauen der kleinen Stadt liebten ihn, den die Männer wegen seiner schlaffen Unfähigkeit zur Arbeit verachteten. Des Hasses hielten sie ihn nicht einmal wert. Am meisten aber liebte ihn Isabelle Kersten.

Dieser Adalbert Klinger allein von allen Männern grüßte Margarete Andoux nicht. Er sah nicht einmal hin, wenn er ihr auf der Straße begegnete, den Mantelkragen aufgeklappt, den Oberkörper nach vorn gebeugt, die Zigarette im Mundwinkel.

Margarete Andoux wunderte sich. Sie nahm sonst Huldigungen lächelnd, selbstverständlich entgegen. Warum grüßte sie dieser … dieser Mensch nicht? Kannte er sie nicht? Er kannte doch alle Frauen der Stadt und grüßte sie. Und die Mädchen waren insgesamt in ihn verliebt – wie konnte er sich erfrechen, sie zu übersehen?

Sie sprach mit Isabelle Kersten, die im geheimen Triumph und Schadenfreude empfand.

»Er kennt dich wahrscheinlich nicht«, sagte Isabelle Kersten. »Ist er dir schon vorgestellt? Nein? Na also.«

Zum Promenadenkonzert, das die Stadtkapelle sonntags auf dem Marktplatze veranstaltete, spazierten Margarete Andoux und Isabelle Kersten weißviolett Arm in Arm.

Adalbert Klinger trottete des Weges.

»Paß auf«, sagte Isabelle Kersten. »Er kennt mich, er –«

Isabelle Kersten erbleichte. Adalbert Klinger war vorbei und hatte nicht gegrüßt. Sie warf die Schuld auf ihre Freundin.

»Er leidet dich nicht«, meinte sie spöttisch.

Margarete Andoux zuckte die Achseln und schwieg nachdenklich. Was hatte er gegen sie? Und wie sie sich mühte und kämpfte, ihre Gedanken kamen nicht von ihm los. Sie litt, aber sie wußte sich nicht zu helfen. Sie fühlte einen Zwang in sich, Adalbert Klinger innen und außen zu betrachten. »Ich werde ihn zu Ende denken«, dachte sie.

Und sie lag die Nacht wach und grübelte.

Schatten flogen über sie hin, und in den Dingen war ein dunkles Summen und Singen. Wo habe ich diese eintönige Melodie schon gehört? Es ist nur ein Ton und doch eine Melodie. Und niemand kennt den Ton. Alle haben ihn in sich, und keiner kann ihn sagen oder singen.

Margarete Andoux wurde unruhig. Diesem Manne gegenüber, der sie nicht kannte und dem ihr Lächeln gleichgültig war, verlor sie ihre Sicherheit. Sie empfand schreckhaft, wie sie sich mit ihm beschäftigte und in ihn hineinsank.

Sie suchte nun, ihn auf der Straße zu treffen, lief im Regen an seiner Parterrewohnung ohne Schirm vorbei, daß er hinauskommen möge und ihr seine Begleitung anbiete. Sie erfuhr, wann er zum Dämmerschoppen ging, und lauerte ihm förmlich auf. Wenn er sich näherte, lächelte sie. Das Lächeln bat um Mitleid. Ohne sie anzusehen oder den Kopf zu wenden, schlenderte er an ihr vorbei. Sie fieberte: was wollte er von ihr? Was schlug er sie, was trat er sie mit Füßen? – Und sie erniedrigte sich so weit, sich nach ihm umzublicken und auf der Gasse stehenzubleiben, bis seine grau schwankende Silhouette in einem Hause verschwand.

Eines Tages saß sie auf dem Balkon. Er bog unten um die Ecke. Sie ließ schnell einen Handschuh vor ihm auf das Pflaster fallen. Er hob ihn nicht auf. Sie biß in ihr Taschentuch vor wütender Enttäuschung und krampfte sich in Tränen. Was nutzte ihr schönes, reizendes Lächeln, wenn es alle Männer verführte, nur diesen einen nicht, den es so schmerzlich ersehnte. Um Gottes willen, ich liebe ihn doch nicht, unterbrach sie ihre Gedanken. Nein, nein, sie lachte, ich ärgere mich nur rasend, daß er mich nicht sehen will. Denn das eine weiß ich jetzt ganz genau: er will mich nicht sehen.

 

Und sie sann, wie sie ihn zwingen möchte, daß er sie ansähe.

O wie sie ihn haßte!

Vor der Stadt, auf dem Oderdamme, begegneten sich Adalbert Klinger und Margarete Andoux. Es war Winter und Glatteis. Margarete Andoux stolperte und fiel. Adalbert Klinger schob seinen Kopf tiefer in den Mantel, pfiff leise durch die Zähne und stierte nach dem Strom, der Grundeis führte. Margarete Andoux mußte sich selbst auf die Beine helfen.

Wie ich mich behandeln lasse, wie ich mich behandeln lassen muß, knirschte sie und weinte.

Eines Abends nach neun schellte es an der Wohnung des Studenten. Adalbert Klinger warf die »Contes drolatiques«, die er eben gelesen, aufs Bett, nahm einen hastigen Schluck aus seinem Humpen und öffnete.

»Bitte, treten Sie nur näher, Fräulein«, sagte er höflich, »Sie wünschen?«

Margarete Andoux stand vor ihm. Ihre Lippen zitterten, und ihre Hände griffen nach einem Halt in der dröhnenden Leere. »Darf ich Ihnen beim Ablegen behilflich sein?« Er zog ihr das Jackett aus. Dann führte er sie zum Sofa und holte aus dem Glasschrank eine Flasche Sekt und zwei Gläser.

Margarete Andoux lächelte.

Drei Tage später betrank sich der Student der Jura im zwölften Semester Adalbert Klinger an seinem Stammtisch bis zur Besinnungslosigkeit. Er hatte seine Wette glänzend gewonnen. Die Flasche Sekt an jenem Abend hatte er schon auf sein Gewinnkonto vorweggenommen.

Auf dem Heimweg schlug er mit dem Schädel aufs Pflaster und blieb liegen. Er starb am nächsten Tage an Gehirnerschütterung.

Margarete Andoux ging in die Leichenhalle, wo er in einem weißen, reinlichen Hemd aufgebahrt lag. Seine Schmisse glänzten blaßviolett auf der wächsernen Haut.

Am oberen Hals, fast unsichtbar, zeichnete sich eine kleine, anscheinend frische, zackige Narbe ab, als hätte eine Ratte oder Katze sie hineingebissen.

Und Margarete Andoux lächelte.