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Katharina

»Du wirst närrisch«, sagte Lapa, »du darfst nicht mehr allein in einer Kammer schlafen, sonst flennst und betest du die ganze Nacht, statt nach rechtschaffen erfüllter Tagesarbeit und einem kurzen, Gott wohlgefälligen Gebet – Gott liebt die langen Gebete nicht, sie schmecken ihm wie übermäßig verdünnter Wein – den traumlosen Schlaf der guten Menschen zu schlafen. Ich werde eine Magd entlassen, damit du im Hause zu tun bekommst und keine Zeit hast, deinen Schrullen nachzujagen, in feuchte Grotten zu kriechen, die dich nichts angehen, und Berge zu sehen, wo keine sind.«

Katharina neigte das Haupt.

Ein Lächeln wiegte sich auf ihren schmalen Schultern.

Lapa schrie böse: »Jakob Benincasa, das Schwein, dein Vater, ist wieder einmal besoffen nach Hause gekommen. Er hat unser Bett beschmutzt und die ganze Stube verunreinigt. Ich habe in der Küche auf einem Stuhl schlafen müssen. Du wirst das Zimmer sogleich in Ordnung bringen. Carlotta, die Magd, kann sofort gehen.«

Katharina erhob das Haupt. Sie sah, wie ihre Mutter sich entfaltete: eine goldene Blüte, und sah die heilige Maria als Biene summend dem Kelch entschweben.

Wenn ich meiner Mutter diene, diene ich der Muttergottes, dachte sie. Mein Vater sei Christus, meine Brüder gleichen den Aposteln und Bonaventura, meine Schwester, entflieht im Mönchsgewand dem väterlichen Hause, sich selig so zur Euphrosyne wandelnd. Ich aber, ihre Zwillingsschwester, weihe meine Dienste unter dem Namen Smaragdus dem Kloster meines elterlichen Hauses, und erst, wenn ich gestorben bin, wird man begreifen und erfahren, daß ich ein Weib war …

Als Jakob Benincasa in das Schlafzimmer trat, wo Katharina mit Feudel und Eimer beschäftigt war, die Spuren seiner Trunkenheit emsig zu entfernen, schien es ihm, als ob eine weiße Taube sich von ihrem Scheitel erhebe und leise schwingend durch das geöffnete Fenster verwehe.

Er eilte sogleich in das Wirtshaus »Zum fröhlichen Federigo« zurück und lud die dort versammelte Gesellschaft zu einem kräftigen Trunk auf seine Kosten ein. »Will sich deine Tochter Katharina nun endlich vermählen«, lachte der bucklige Schuster Ciseri, »oder welche Freude treibt dir den Zapfen aus dem Spundloch?«

»Ich weiß«, wisperte der lange Steinmetz Bosco, »seine Frau bekommt in neun Monaten das dreizehnte Kind. Eben hat er es ihr und sie es ihm mitgeteilt. Da weiß seine Seligkeit keine Grenzen …«

»Ich glaube«, am Fasse dröhnte der Hammer des Wirtes, »er hat ein gutes Geschäft gemacht. Die hohen Damen von Siena haben ihm Auftrag gegeben, ihre ergrauten, vom Liebesaussatz zerfressenen Haare blond zu färben oder ihnen, wo sie überhaupt keine Haare mehr haben, den Schädel am Schopf schwarz anzustreichen. Wenn er nur von jeder Dame einen Taler erhält, so macht das sicherlich ein kleines Vermögen.«

»Komödie«, wieherte Jakob Benincasa. »Euch sind die Sinne irre. Ihr tappert, Maulesel gleich, gesenkten Kopfes durchs Gebirge. Freßt biedere Kräuter, die um eure Hufe wachsen. Seht ihr den Wasserfall am Felsensturz? Die leise Gemse braun im Horizont? Den Geier Blitz? Die blaue Blume Schnee? Der Menschen Dörfermoos?«

»Junge«, der Maler Simon Martini warf seine Worte wie Farbenklexe in den grauen Raum, »du dichtest wie Petrarca. Mußt es drucken lassen.«

»Meine Tochter Katharina ist eine Heilige«, Jakob Benincasa brüllte. Er stieß mit seinen Ellenbogen rings am niedern Gewölbe. »Deshalb wollen wir uns alle heute betrinken. Denn ich, Jakob Benincasa, bin der Vater dieser Heiligen. Und wenn sie heilig ist, so steckt der Same der Heiligkeit wohl auch in mir. Denn von Lapa kann sie die Heiligkeit nicht haben. Lapa ist eine bösartige Hündin.« Der Maler, der bucklige Schuster und der lange Steinmetz klatschten in die Hände. Der Hammer des Wirtes dröhnte den letzten Schlag. Jetzt flog der Zapfen aus dem Spundloch.

»Wenn deine Tochter Katharina eine Heilige ist«, sagte der kleine Goldschmied Ambra, »dann mußt du ihr bei mir einen Heiligenschein machen lassen. Ganz aus Gold.«

»Hat sie schon Wundmale an den Händen und Füßen?« fragte Pedamonte, welcher mit Edelsteinen handelte. »Du mußt ihr Rubinen in die Wunden setzen lassen.«

»Wenn sie sich geißeln will, wie es alle rechten Heiligen tun, so bedarf sie einer dauerhaften Geißel oder einer Peitsche mit Nägeln. Ich halte mich der heiligen Kundschaft bestens empfohlen«, dienerte der Waffenschmied Marchetti.

Der Maler Simon Martini zeichnete Katharinens Bild mit Kreide auf den Tisch.

»Sie ist so schön, wie wenige Frauen in Siena sind«, sagte er leise.

Jakob Benincasa bebte.

Der Dichter Petrarca trat an Martini heran, legte die Hand auf seine Schulter und beugte sich zart vor, die Zeichnung zu betrachten.

Seine Stirn leuchtete wie eine ewige Lampe, und seine Lippen bewegten sich wie zwei Schmetterlingsflügel.

Bett Nr. 13

»Chinin«, sagte der junge Assistenzarzt und sah durch das Fenster der Baracke.

Auf dem Hofe hüpften vier Mann um ein Maschinengewehr. Ein Leichtverwundeter schwebte blaugestreift unter den Kastanien. Im Schützengraben, der zur Übung angelegt war, turnte eine Katze.

Schwester Crescenzia neigte die schmale weiße Stirne und ging zur Hausapotheke.

Der junge Assistenzarzt seufzte.

Er dachte an Manon.

Er sehnte sich nach ihr.

Pferde sind doch netter als Frauen. Und mindestens ebenso hysterisch.

Er faßte die Hand des Kranken, zählte den Puls, sah auf die Uhr und ging zerstreut und sporenknarrend hinaus.

Nr. 13 hob sich sanft aus dem Bett.

Seine grauen Augen schlichen hinter dem Arzt her, wie Ringelnattern. Sie versuchten sich zwischen den Türspalt zu schieben. Die Tür fiel klappernd und zitternd ins Schloß.

Die Augen kamen zurück. Nr. 13 dachte nach.

Chinin hat er gesagt. Was heißt das?

Nr. 13 sank in die kahlen Kissen zurück.

Man ist so einsam. So einsam, wie … wie … wie ein Mensch. Die Kissen sind so kalt. Man selber so heiß. Und die ganze Stube brennt vor Hitze.

Herrgott ist das eine Hitze.

Wie damals in Südwestafrika.

Die Zuckerfabrik von Souchez … alle Wetter … alle Himmel … das war keine Kleinigkeit. Auf der Fabrik möcht ich keine Aktien stehen haben.

Chinin – Gott, wo hab' ich das nur schon gehört. Chinin. China. Nein, das ist es nicht.

Nr. 13 versuchte sich aufzurichten. Hinter ihm, am Bett, drohte eine schwarze Tafel. Da waren Zahlen drauf geschrieben und ein paar lateinische Namen. Fieberkurven kletterten in den Himmel.

Nr. 13 erschrak.

Ich erblinde.

Ich muß blind geworden sein. Ich kann nicht mehr lesen. Kann ich noch schreiben? Ich möchte was schreiben. Kleine Gedanken. Einen Vers. Ich bin doch nicht dumm. Ich hab' doch mal zwei Gedichte in der »Jugend« gehabt. Und eine Geschichte von mir ist ins Russische übersetzt worden. Von einer weichen Russin.

Die war meine Geliebte. Meine einzige.

Nein: Meine einzige nicht. In Südwest damals: da war noch eine. Ein Hereromädchen. 14 Jahre alt. Mit Brüsten wie Kupfer. Das wird jetzt beschlagnahmt. Mit Händen wie Wiese. Und stolzen Knabenfüßen. Und einem Oasenmund.

Ich bin dazu verdammt, meine Feinde zu lieben. Meine Feindinnen.

Ich bin ein Christ. Von Pastor Gluschke konfirmiert.

Wie hieß die süße Negerin. Ro – ri. Ro – ri. Das klingt eigentlich wie ein alkoholfreies Erfrischungsgetränk.

Sie war gar nicht schwarz, sondern kakaobraun. Und ein Kind hatte sie: drei Monate alt. Das schnupperte wie eine Maus, und schnappte spielend nach meiner Hand.

Wenn ich nur ein Kind von ihr hätte.

Nr. 13 bebte.

Ich will noch nicht sterben. Ich will ein Kind haben. Einen Sohn. Einen Afrikaner. Damit ich leben bleibe, wenn ich sterbe.

Schwester … Schwester, kommen Sie … helfen Sie mir … ich will ein Kind …

Die Schwester nahte mit kurzen hasenhaften Schritten.

»Was haben Sie?« fragte sie mild und ihre Haube neigte sich über ihn, »haben Sie Schmerzen?«

»Chinin – was ist das? Was hab' ich für eine Krankheit?«

Nr. 13 bebte.

»Es wird alles wieder gut«, sagte die Schwester leise und streifte das Bett.

Dann wandte sie ihr kühles Gesicht zur Seite.

Meine Lunge ist ganz voll Sand, fühlte er.

Ein heißer Wind kräuselt meinen Kopf, als ob er ein Meer wäre. Die Steppe steigt über meine Schultern. Mit funkelnden Sohlen. Sandflöhe wimmeln in meinem Hemd.

Kakteen stechen mein Herz.

Schwester! Ich habe Südwest mitgemacht. Ich bin ein Südwest-Afrikaner. Sehen Sie die gelbe Medaille auf meiner Brust?

Windhuk bricht aus meinen Blicken. Okahandja weint. Tausend Ochsen stampfen durchs Gelände. Antilopen springen fern auf bläulichen Gipfeln. Affen hängen in schwankenden Ästen. Ich blühe auf wie die Victoria regia.

Glanz bin ich und flach: ein riesiges Blatt. Ein rosiger Laubfrosch sitzt auf meinem Bauch.

»Malaria im Rückfall«, sagte der junge Assistenzarzt und dachte an Manon. »Ich habe ihn sowieso bloß auf zwei Tage geschätzt.«

Der sterbende Soldat

Tag und Nacht sind nicht mehr. Sind versunken wie Segelschiffe hinterm Horizont des Meeres. Ich weiß nicht mehr von Tag und Nacht. Von Sonne und von den grauen Krähen der Dämmerung. Von der Erde und von der runden Kugel des Glücks. Wir marschieren. Wir marschieren bei Tag. Wir marschieren bei Nacht. Wir schlafen in der Nacht. Wir schlafen am Tag. Wir schießen Tag und Nacht. Wenn ich mich umdrehe, steht die Zeit wie eine rosaschwarze Wand vor mir. Kein Tag. Keine Nacht. Kein Monat. Kein Jahr. Nur ein blutendes Feld, blutrote Ackererde, aus dem unsere Leiber wie weiße Blumen in den Himmel wachsen. Wie Tau netzt der Himmel meine Augen. Ich möchte immer blühen. Schmale Lilie. Schwertlilie. Ich habe nie so stark an mich geglaubt. Wenn ich die Hand hebe, werde ich eine Granate im Fluge aufhalten. Ich habe Durst. Nach Wasser. Nach Feuer. Ich will Feuer schlucken wie die östlichen Zauberer. Mein Pferd ist tot. Es muß irgendwo neben oder unter mir liegen. Worauf soll ich nun reiten? Ich werde auf einem toten Engländer in die Hölle reiten. Aber Lilli will es nicht. Sie faßt meine Hand, ich bin ja blind, und wird mit mir den Himmel suchen gehen. Lilli, sag' ich, hier riecht es nach Veilchen, hier ist der Himmel. Sie läßt meine Hand los. Ich sehe sie nicht mehr. Da vorn ist eine andere Hand. Eine leuchtende Hand. Rauchgeschwärzt. Sie greift nach dem Haus mit dem Schindeldache. Die Hand wird auf einmal Mund. Sie frißt das Haus. Kaut an ihm. Wenn der Wachtmeister wüßte, daß ich hier so faul liege, während er Appell hält. »Ulan Bubenreuther«, wird er rufen. »Ulan Bubenreuther …?« Niemand meldet sich. »Ulan Bubenreuther vermißt …« Ich habe Durst. Ich möchte etwas trinken. Etwas Heißes. Ich friere. Heißen Tee. Ich muß lachen, wenn ich an die polnischen Juden denke, die uns immer Tee verkauften: »Gebe Sie Münz, Herr, kriege Sie heiße Tei …« Sie haben keine Heimat. Niemand hat eine Heimat. Nur der Tod. Er ist überall zu Hause. Wo ist die kleine Stadt, in der ich geboren wurde? Die engen Straßen gehen krumm und gebückt vor Alter. Die jungen Mädchen laufen Schlittschuh. Bürger eilen mit wichtigen Mienen zu Geschäft, Versammlung oder Kneipe. Die Oder rauscht unter den Schollen. Die Patina des Marienkirchturms glänzt in der Wintersonne violett und grün. Es muß wer gestorben sein – der Küster läutet die Glocken. Ich will leise mit der Lanze winken. Vielleicht, daß er mich sieht.

 

Mein Bruder erzählte

Weißt du, daß von den Verwundeten, die aus der Front zurückkehren, keiner mehr singen will? Wir haben eine ganze Anzahl Leichtverwundeter, die schon wieder Garnisondienst tun, in der Kompagnie, aber wenn wir singen: ›Drei Lilien‹ oder ›Heimat, o Heimat, ich muß dich verlassen…‹, schweigen sie und haben große Augen. Die beiden Reber – du kennst sie doch? die Söhne vom Hauptlehrer Reber – stehen schon im Feld … in Galizien oder Polen … und haben fünf Tage nichts als rohe Rüben gegessen … Hans ist am 28. Oktober nach Belgien gekommen. Kaum auswaggoniert, mußten sie bei Dixmuiden zum Sturm vor. Dreimal in 36 Stunden. Dixmuiden brodelte wie der Hexenkessel in Goethes ›Faust‹ … Hans ist verwundet … Bauchschuß … Er ist schon wieder zurück und liegt im Lazarett … Ich habe ihn gestern besucht … Sie lagen zu zwölfen im Zimmer, und einer saß auf dem Bettrand und spielte Harmonika. Es war ein Pole, und er spielte eine schwermütige Melodie. Einige lasen Zeitung und einem, dem der Kopf ganz verpackt war, flößte die Schwester durch eine Glasröhre warme Milch ein. Er lächelte dankbar … Hans' Aussehen hat sich derartig verändert, daß ich ihn kaum wiedererkannte und betroffen anstarrte. »Guten Tag, Hans.« »Guten Tag, Jochen.« »Wie geht's?« »Man so.« Sein Gesicht war blaßblau, gläsern, etwa wie das Weiße eines gekochten Kiebitzeis. Seine Augen brannten in einem fremden Feuer, und ein kleiner blonder Bart hing in Fransen um sein Gesicht … Ich habe einmal in Berlin einen bulgarischen Offizier gesehen, der die beiden Balkankriege mitgemacht hatte. Ich wußte nicht, weshalb er so tote weiße Augen machte. Jetzt weiß ich es … Hans sagte: »Ich habe viel erlebt.« Bei dem Wort »erlebt« stutzte er, dachte nach und meinte: »Man müßte eigentlich sagen: ersterben, statt erleben … Und ich war nur zwei Tage draußen.« Er drehte sich zur Wand. »Als wir mit fiebernden Händen die Bajonette aufpflanzten … wir waren zum erstenmal im Feuer … wir gingen gegen englische Kerntruppen wie die Teufel los … Aber niemand schrie hurra … Willst du mir das glauben? … Die Schrapnells platzten wie Mehlsäcke … die Granaten zischten, als strichen Millionen Geiger über das höchste Fis … die Maschinengewehre gackerten wie überlaute Hennen … und einer von uns schrie, schrie sein ganzes Herz hinaus: ›Mutter!‹ Und wie ein Echo rollte dieser Schrei unsere Reihen entlang … Mutter! … Mutter! … Mutter! … Unter diesem Kampfruf, immer wilder, immer heftiger hinausgestoßen, rannten wir gegen die feindlichen Stellungen… Und wir nahmen sie … Ich weiß nicht, wie lange ich so gelaufen bin … Jahre müssen vergangen sein … meine Beine stampften wie eine Maschine … Auf einmal bekam ich einen Schlag gegen den Bauch, brüllte noch: ›Du verfluchter Hund‹ und fiel um … Ich erwachte auf einer Tragbahre, sah ein rauchgeschwärztes Dorf, und einen belgischen Pfarrer in Soutane an einem Baum hängen … Dann schlief ich wieder ein … Und wieder nach vielen Jahren erwachte ich hier … Ich muß so alt geworden sein … Grüße Lilly von mir, sie möchte mich besuchen, wenn es ihre Eltern erlauben … Wie schade, daß wir uns nicht werden heiraten können, und daß ich kein Kind von ihr haben werde.« Dann drehte er sich wieder von der Wand weg, gab mir die Hand und sagte: »Adieu.« Ich schnallte mein Koppel um, der Pole spielte wieder auf seiner Mundharmonika, und ich ging so leise, wie ich's mit meinen Kommißstiefeln fertig brachte. Hans ist nicht älter als ich. Siebzehn Jahre. Er wird sterben. Was er sagte, hat mich sehr nachdenklich gestimmt, besonders, daß er gern ein Kind haben möchte. Aber ich begreife es. O, wie sehr ich es begreife. Ich bin ja zum letztenmal auf Urlaub hier. Nächste Woche muß ich hinaus. Nach Ostpreußen. Oder nach Arras. Wie es der Zufall schickt. Dann grüße Ruth von mir und erzähle ihr das, was Hans mir von Lilly erzählt hat.

Im Russenlager

Hier spürt man an einem Tage mehr vom Krieg als in München in fünf Monaten. Kaum war ich in C. eingetroffen, sah ich schon einen Zug von etwa dreihundert gefangenen Russen, die in einem langsamen schläfrigen Marsch, von Landsturmleuten mit aufgepflanzten (erbeuteten französischen) Bajonetten eskortiert, durch die Straßen zu ihrer Arbeitsstätte zogen. Einmal faßten sie Tritt. Sie schmeißen nicht die Beine wie unsere Soldaten, sondern stampfen mit gebogenem Knie den Boden. Wie Pferde bei verhaltenem Trab. Eine unpraktische und sicher sehr ermüdende Art zu marschieren.

Sie waren zum größten Teil vorzüglich mit hohen schwarzen Juchtenstiefeln und dicken lehmfarbenen Mänteln ausgerüstet. Einige wenige gingen in Holzpantinen und hatten sich aus umgeworfenen Tüchern phantastische Uniformen hergestellt. Einige sahen wie Mönche oder fromme Pilger aus, die mit leidenden Gesichtern wie zur Melodie eines unhörbaren Trauermarsches marschierten. Einer in dottergelbem Umhang leuchtete, gleichsam ihr Götze und wie die Inkarnation ihrer gefangenen Sehnsucht, der braunen Kolonne weit voraus. Am Schluß krochen kleine greisenhafte Kerle mit gelben zerknitterten Masken: Kirgisen und Mongolen aus den sibirischen Regimentern. Kosaken sah ich keine. Auch später bei meinem Besuch im Lager nicht. Es sind sicher welche darunter, aber sie haben sich unkenntlich gemacht. Wenn man nach Kosaken fragt, glauben sie, man wolle sie für die Kosakengreuel in Ostpreußen verantwortlich machen und spießen oder hängen. Ein hagerer, verkommener Bursche in schwarzer Pelzmütze, den ich als Kosak anredete, hob beschwörend wie ein Heiliger auf frühmittelalterlichen Kirchenfenstern beide Hände gegen mich und sagte: »Oh, oh, nix Kosack, nix Kosack.«

Die Holzbaracken, in denen die Russen wohnen, sind hoch und luftig und sehr gut ventiliert. Einige Baracken gehen halb in den Erdboden. Die Lagerstätten oder Betten sind dreifach übereinander gestaffelt: die Gefangenen schlafen auf Holzwollsäcken und erhalten als Oberbett feste Wolldecken. jede Baracke wird von einem großen Ofen geheizt. In einigen Baracken sind noch einige kleine Kochöfen vorhanden, wo die Leute sich ihr Essen aufwärmen oder Tee kochen können. Die hölzernen Tische, auf denen sie essen und arbeiten, lassen sich durch sinnreiche Vorrichtung (Umklappen der Platte) in große, mit Zinn ausgeschlagene Waschschüsseln verwandeln.

In der Küche kam ich gerade dazu, wie das Mittagessen ausgeteilt wurde. Ein Koch eines großen Berliner Hotels ist Oberkoch; ihm unterstehen zwei Dutzend russische Köche. Es gab heute Reisfleisch, das heißt Rindfleisch in einer dicken Reissuppe. Zehn Zentner Fleisch waren dazu verarbeitet.

Jeder Mann empfängt einen Liter, Leute, die den Vormittag streng gearbeitet haben, anderthalb Liter. Dazu erhält jeder den Tag ein Pfund (in der Stadt gebackenes und auch von den Einwohnern gern gegessenes) »Russenbrot« – mit Kartoffelmehl durchsetztes Roggenbrot.

In der Hauptbaracke sang uns der russische Gesangverein, der unter Leitung eines gefangenen Petersburger Musikdirektors steht, einige slawische Lieder vor. Zuerst das Glockenlied. Der Vorsänger führt die Melodie. Alle anderen singen im Baß wie Glocken. Zuletzt sangen sie das schwermütige Lied ihrer Erinnerung an die Heimat:

 
Sag, wo bist du nur, geliebte Heimat?
Wo die Sterne sind, bist du gewiß.
Mädchen, liebes Mädchen, ich muß reiten
In die Ferne und die Finsternis.
Wenn die goldnen Augen nachts vom Himmel sehen,
Denk an mich, der in die Fremde ritt.
Alle Wolken, die von Westen wehen,
Bringen meine Sehnsucht mit.
 

Ein blutjunger Russe, Infanterist eines Odessaer Korps und bei Suwalki gefangen genommen, stand an die Wand gelehnt, für sich allein, stützte den Kopf in die Hand, schloß die Augen und sprach die Verse leise mit. Seine Lippen bebten und seine Wimpern zitterten. Einige, die faul auf ihren Betten lagen, hielten den Atem an und wußten nicht, wohin sie sehen sollten.

Der merkwürdigste Insasse des Lagers und wert, namentlich genannt zu werden, war der Hund Samuel. Er wurde (eine Art Terrier mit leichtem Einschlag von Dackel) vom Osteroder Landsturmbataillon in der Schlacht bei Tannenberg »erbeutet«. Da man sich mit ihm nicht zu verständigen vermochte, gab man ihn an die Russen zurück und internierte ihn im Lager von C. Aber auch die Russen wußten mit ihm nichts anzufangen: er hörte weder auf Russisch noch auf Polnisch. Bis ein Jude, Kaufmann aus Lodz, auf den Gedanken kam, jiddisch mit ihm zu reden. Der Hund sprang, halb irrsinnig vor Freude, verstanden zu werden, an seinem neuen Freunde empor, wedelte mit dem Schwanz, und seine braunen Augen leuchteten wie die eines fröhlichen Kindes. Der Hund mußte im Besitze einer alten jüdischen Familie gewesen sein und war wahrscheinlich mit mehreren Juden bei Tannenberg zu den Deutschen übergelaufen. Er wurde von den Russen spöttisch Samuel genannt. Er vertrug sich mit keinem rechtgläubigen Russen, bellte sie tapfer an und nahm nicht die verlockendsten Bissen von ihnen.

Der jüdische Kaufmann und die anderen russischen Juden des Lagers gewannen ihn sehr lieb. Manchmal dachten sie: wenn nur alle Juden so viel Mut gegen die Russen aufbrächten wie dieser Hund. Dieser Hund, so spürte man, haßte die Russen aus einer Seele heraus. Und da er ein Tier war, legte er seiner Vernunft keine Zügel an, trug seinen Haß unverhohlen zur Schau und biß die Russen in die hohen Stiefel. Weil er zu allem Überfluß noch ihre Fleischportionen stahl (die er aber nicht fraß, sondern verscharrte), griff eine heftige Mißstimmung gegen ihn unter den Russen Platz. Und da man sich nicht an die wirklichen Juden halten konnte (man war doch nicht in Rußland), erkor man den jüdischen Hund zum Opfer eines Pogroms. An einem Sabbat fanden ihn die Juden erschlagen hinter der Latrine. Sie waren keine Tiere, sondern Menschen, und außerdem in hilfloser Minderzahl. Was würde es nützen, die Russen anzubellen, da man sie nicht beißen durfte? Sie gruben dem Hunde Samuel ein Grab, und ein gefangener Rabbiner hielt ihm die Leichenpredigt, als wäre er einer der ihren gewesen und ganz ein Jude.