Buch lesen: «Untreuen»

Schriftart:

Kirsty Gunn

Untreuen

Kurzgeschichten

Aus dem Englischen

von Uda Strätling


Für Amelia und Katherine

So fängt es an …

«Diese Geschichten lagen immer bei mir», sagte ich.

«Wie meinst du das?»

Richard bedachte mich mit diesem gewissen Blick, einem Blick, der mit der späten Stunde und dem gemeinsam in einer schicken Bar konsumierten Tequila zu tun hatte, aber eben auch ein Blick, der verriet, dass er mich sehr gut kannte.

«Wie meinst du das?», fragte er noch mal.

Wir hatten über meine Erzählungen gesprochen, den Band, den ich zusammengestellt hatte, über die Art Geschichten, die mich interessieren und die Richards Ansicht nach genau die Art von Geschichten waren, die sich nicht verkauften. «Kurzgeschichten liest sowieso niemand», hatte er zuvor schon bemerkt. «Die Leute finden, es passiert darin nicht genug.»

«Ich meine, dass von Anfang an ich dahinterstand», sagte ich. «Die Auswahl, die Ideen zu den Geschichten, die ich geschrieben habe. Es lag ganz bei mir. Das war immer ich, dahinter, ich stecke mit drin. In der zum Beispiel, von der ich dir gerade erzählt habe, von der Frau und ihrem Mann, der Geschichte, die ich ‹Untreue› nenne … Du weißt schon. Aber in jeder von ihnen. In allen Geschichten. Ich könnte nie so tun, als wären sie wie von selbst auf dem Blatt erschienen, weißt du. Ich war ja da.»

«Puh», meinte Richard. Er leerte sein kleines Tequilaglas und setzte es ab. «Das warst du allerdings.»

«Wie ich jetzt hier bin.»

«Alles dein Werk, keine Frage.» Auf Richards Gesicht erschien das lange, langsame Lächeln, das ich so gut kannte. «Du stehst abseits, das hat schon der alte James Joyce vom Künstler gesagt.» Er klopfte an sein kleines Glas. «Der irgendwo im Hauseingang lungert und Fingernägel kaut oder was immer –»

«Nicht ‹kaut›» sagte ich. Ich trank jetzt selber von meinem Tequila. Hundertprozent Agave, wie es meine Freundin Jennifer aus Mexiko forderte, was anderes komme nicht in Frage.

«‹Schneidet› heißt es», sagte ich zu Richard und nahm einen weiteren Schluck. «Sich die Fingernägel schneidet. So formuliert es Joyce, so lautet seine Definition des Künstlers – abseits –, aber ja, du hast recht, da sind sie: er, sie …»

Richard schüttelte den Kopf und machte noch mal «Puh». Ich beugte mich vor und küsste ihn rasch, nicht auf die Stirn oder die Wange, sondern auf den Mund. Da schloss er die Augen. Und ich schloss meine. Als ich sie aufschlug, waren seine längst wieder offen, sein Blick tief.

Richard. Richard, Richard, Richard. Noch immer er selbst, noch immer der Alte nach so langer Zeit, derselbe wüste und bildhübsche Kerl, der es mir vor so vielen Jahren schon angetan hatte. Derselbe Richard. Der es mit dem Trinken übertrieb. Der es mit allem übertrieb – aber so, als könnte ihm nichts etwas anhaben. Käme nichts an ihn ran. Er trug noch immer Klamotten, wie er sie getragen hatte, als wir ein Paar waren, roch noch genauso – nach Rauch und Leder und irgendeinem altmodischen Rasierwasser, nach legendärem Club aus den Achtzigern. Richard. Richard, Richard, Richard.

«Der Künstler steht abseits, gleichgültig», sagte ich und merkte, dass ich die Stimme stark gesenkt hatte. Ich flüsterte fast. «Joyce sagt ausdrücklich ‹abseits›», erklärte ich. «Aber ich … ich bin nicht so. Ich bin nicht wie er. Ich stoße nicht zufällig auf etwas und verwende es. Ich stoße nicht auf eine Geschichte und schreibe sie auf. Nein. Ich bin von Anfang an da. Ich bin kein bisschen gleichgültig, verstehst du. Ich bin mittendrin.»

Inzwischen hielt Richard meine Hand. Mit dem Daumen rieb er sanft über meinen Zeigefinger.

«Ich sollte gehen», sagte ich. «Es ist spät. Das ganze Gerede über Kurzgeschichten, meinen Band … ich hätte nie davon anfangen dürfen. Dich da reinziehen.»

«Und prompt willst du plötzlich nach Hause.» Richard klopfte mit dem Daumen an meinen Finger. «Aber du musst nicht, noch nicht. Ruf deinen Mann doch einfach an, deine Kinder.»

«Für Anrufe ist es zu spät.»

«Wie dem auch sei», sagte Richard. «Ich möchte, dass du bleibst, dich nicht vom Fleck rührst. Wir sind hier doch gut aufgehoben, wir beide …» Mit einer knappen Kopfgeste erinnerte er an unsere Umgebung, das Restaurant mit den gelben Leuchten und dem vielen Marmor, den blanken Kübeln, dem Sekt, den Austern und dem Eis. «Ich möchte hier noch mit dir sitzen», sagte er. «Ein Weilchen. Bitte. Geh noch nicht.»

«Ach du», sagte ich.

«Kurzgeschichten liest sowieso niemand», sagte er zum zweiten Mal an diesem Abend. «Also brauchst du dir gar keine Sorgen zu machen. Nichts kann uns was anhaben. Dir und mir. Und was du geschrieben hast … ist alles nur hier» – er tippte mir an die Schläfe – «und hier» – und berührte mein Herz. «Nirgends sonst.»

«Es steht alles in dem Buch», sagte ich. «Untreuen. Schon vergessen? Der Band ist fertig, er ist komplett.» Und ich beugte mich vor und küsste ihn richtig, ich küsste ihn auf seinen herrlichen Mund.

«Ich bin froh, dass wir zusammen weggegangen sind», sagte er, als ich von ihm abließ. «Lass uns wegbleiben. Wer weiß. Vielleicht gehen wir nie wieder heim, du und ich. Vielleicht sagen wir einfach, wir kommen nicht wieder.»

Inhalt

WEGGEHEN

So könnte sie sich die Geschichte erzählen

Elegie

Szenario

Glenhead

WEGBLEIBEN

Die Highland-Geschichten

Der Vater

Der Fels

Drecksbett

Der Geist

Der Caravan

Füchse

NICHT WIEDERKOMMEN

Der Wolf auf dem Weg

Tangi

Denkmal

Dick

Untreue

WEGGEHEN

So könnte sie sich die Geschichte erzählen

Bobby war spät aus dem Pub heimgekommen und meinte, alle dort hätten nur davon geredet. Von diesem Typ, richtig authentisch, sagte er, aus Tibet oder so, dem Aussehen nach, im safrangelben Gewand mit seiner kleinen Schale, stumm wie ein Fisch. Ist gerade erst einfach so mitten im Ort aufgetaucht und hat irgendwie eine Position eingenommen, so seine Worte, direkt in der Markthalle unter der Uhr.

Das war … wann? Vor zwanzig Jahren gewesen? Mehr. Und doch kommt es Helen selbst jetzt, nach so langer Zeit, wo sie über das alles nachdenken, auf Episoden ihres Lebens zurückblicken und sie bedenken kann – sich in sie hineinversetzen, scheint ihr manchmal –, so vor, als hätte damals irgendwie etwas für sie begonnen, an jenem Tag, in jener Nacht, oder beginne vielmehr weiterhin. Es zeigte sich schon in Bobbys damaliger Formulierung: «hat irgendwie eine Position eingenommen». Als hätte sogar er schon in der Wortwahl geahnt, dass dieses Bild, ein Mönch aus einer anderen Welt, sich mitten in ihre Ehe pflanzen könnte, zwischen sie beide, und klarmachen, wie weit sie auseinander waren.

Helen hatte ihn reden lassen und weiter Geschirr in die Spülmaschine geräumt. Bobby beschrieb immer alles, was passierte, wie persönlich erlebt – was in der Welt vorging, im Irak etwa oder in Irland –, als wäre er selbst gerade dort gewesen, wo doch jedermann wusste, dass er einfach wie eh und je zur Arbeit in die Agentur fuhr, seine Werbetexte schrieb und abends auf dem Heimweg von der Bushaltestelle auf ein Bier im Black Lion vorbeischaute. Das konnte er gut, Reden schwingen. Sie hatte das restliche Kindergeschirr in die Maschine geräumt, die kleinen Teller und die Fläschchen, hatte die Tür zugedrückt, hatte ihn reden und sich einer Sache bemächtigen lassen, an der er keinen Anteil gehabt hatte, ihn davon ausgehen lassen, dass sie da keinen Unterschied machte. Jetzt sprach er über die tibetische Praxis und was es hieß, in der heutigen Zeit Mönch zu sein, was es wohl bedeutete, einen hier in ihrem kleinen Ort in Oxfordshire auftauchen und sich in der Markthalle niederlassen zu sehen, genau dort, sagte er, wo Helen im vergangenen Sommer ihren Bio-Stand gehabt hatte, als ihr, sie erinnere sich gewiss, nach dergleichen noch der Sinn stand.

Da setzte sich Helen hin. Zu Bobby an den Küchentisch, bei laufender Spülmaschine und hinter ihr auf dem Herd der köchelnde Eintopf … Sie sagte: «Hör mal, ich weiß.»

Das hatte sie immer tun müssen, um auf sich aufmerksam zu machen, sich hinsetzen und ihm direkt ins Gesicht sehen, ihn frontal ansprechen, damit er sah, dass ihr Mund sich bewegte …

Also hatte sie gesagt: «Hör mal, ich weiß.» Dort direkt vor ihm, und sie erinnert sich jetzt an seinen Gesichtsausdruck, als sie ausgeredet hatte, der zwar nur momentan, aber doch panisch gewesen war, ja, panisch.

Er war aufgestanden, um sich aus dem Kühlschrank ein weiteres Bier zu holen.

Das lag natürlich an seinem Job. Zu dem gehörte ja der vertraute Klang der eigenen Stimme und das Wissen darum, dass man die Leute damit, wie man redete, mindestens so sehr überzeugte wie mit dem, was man sagte. Seit Helen Bobby kannte, hatte er das von sich behauptet, als wäre er stolz darauf, und hatte Helen alles stehen- und liegenlassen und sich direkt vor ihn setzen müssen, um seinen Redefluss zu bremsen. Interessiert dich überhaupt, was ich sage?, hatte sie sich oft in den ersten Wochen gefragt, als sie und Bobby langsam häufiger miteinander weggingen und sie merkte, dass er sie auf Partys, in bestimmten Bars und Restaurants, wenn andere dabei waren, einfach nicht hörte, ja nicht einmal sah. Geschweige denn anziehend fand, wusste sie, wenn sie sich nicht direkt in sein Blickfeld schob. Nicht genug, offenbar … hatte sie damals gedacht, aber sie waren dann trotzdem zusammengekommen und hatten Spaß gehabt, oder nicht, eine Weile? Dann hatten sie geheiratet, und es gehörte einfach zu ihrem gemeinsamen Leben, und Helen kannte es bald nicht anders, als dass Bobby redete und sie zuhörte in Situationen wie der an jenem Abend in der Küche – nur sagte sie diesmal zu ihm außerdem: «Ich war da. Ich habe den Mönch selber gesehen.»

Bobby nahm einen ordentlichen Schluck Bier, zuckte mit den Achseln, als dächte er: «Na und?» Die Flasche, die er aus dem Kühlschrank geholt hatte, schien fast schon leer, doch dazu konnte Helen schlecht etwas sagen. Schließlich war sie selbst längst bei ihrem Weißwein und sorgte dafür, dass das Glas stets mindestens halb voll war. Denn auch das gehörte zu ihrer Ehe, oder nicht? So hielt es Helen, wenn sie kochte und auf Bobbys Heimkehr wartete, das Geschirr hervorholte und darauf achtete, dass der Fernseher nicht zu laut lief und Winnie oder die Jungen weckte.

Aber sie wusste tatsächlich Bescheid. Über den Mönch und seine kleine Schale. Wie jeden Morgen hatte sie Win gerade zu ihrer Spielgruppe gebracht und die Babys mit leisem Unbehagen in ihren Körbchen im Haus zurückgelassen, sodass sie es wie immer eilig hatte, wieder heimzukommen, ehe sie womöglich aufwachten und merkten, dass sie fort war …

Nur war sie an diesem Morgen, als sie den Fußweg an der Kirche hinabeilte, von Elizabeth Ferry aus der Pfarrei aufgehalten worden, die ihr von dem «Wunder» erzählte, das sich auf dem Dorfplatz vollziehe. Dort sei ein prächtiger tibetischer Mönch, hatte Elizabeth gesagt, sei einfach mitten unter ihnen erschienen und sitze jetzt unter der Uhr in der Markthalle, und ob Helen nicht hingehen und sich zu ihm setzen könne, und sei es nur für einen Moment? Sie könne ihm ja ein paar Münzen in seine «knuffige Tonschale» werfen, wie sie sich ausdrückte, grob und unförmig, weißt du, als hätte er sie eigenhändig aus Lehm geformt. Elizabeth hatte gar kein Ende gefunden, während Helen sie die ganze Zeit zu unterbrechen suchte, damit sie zu den Zwillingen zurückkäme, aber dann hatte Elizabeth hinzugefügt, dass alle im Ort, besonders die Kirchgänger – das hatte sie besonders betont – hingehen und beim Mönch verweilen sollten, ein paar Minuten wenigstens, um zu demonstrieren, meine ihr John, dass die Kirche andere Glaubensrichtungen, andere Formen der Andacht und Wege zu Gott begrüße, mehr noch, unterstütze.

So war sie einfach, Elizabeth. John mochte der Pfarrer sein, aber es war damals seine Frau, die «hinausging», wie sie es nannte, unter die Pfarrkinder, Kontakt suchte und zu mehr Spiritualität ermutigte. Was Elizabeth wohl heute treibt?, fragt sich Helen. Das Gleiche, vermutlich, während John wie eh und je in seiner Klause hockt und liest und betet. Er war offenbar Anglo-Katholik, oder jedenfalls gewesen. Das hatte Helen mal von einer Nachbarin gehört. Dass John anfangs ganz angetan gewesen sei von dem ganzen Brimborium mit dem Weihrauch und den Heiligen. Als sie aber damals im Ort auch in die Kirche ging, nicht ganz regelmäßig, aber oft genug, um sich dazugehörig zu fühlen, hatte sie ihn immer eher als presbyterianisch empfunden, von dem Schlag, der ihr vertraut war, eigentlich, besonders mit einer Frau wie Elizabeth und ihrem Gerede vom Islam, vom Buddhismus und anderen Religionen. John selbst, fällt Helen ein, hatte vor allem von Kindern gesprochen, wenn er sonntags vor ihnen stand. Davon, dass die kindliche Einbildung ein Glaube eigener Art sei. Was für eine schöne Idee, findet sie heute. So gar nicht das, was man von einem erwartete, der mal Anglo-Katholik gewesen war. Oder doch? Damals war Helen davon ausgegangen, solche Bemerkungen seien vor allem darauf angelegt, mehr Leute in die Kirche zu locken, aber im Rückblick … Nun, vielleicht war Johns Interesse am Geheimnisvollen, an der Einbildungskraft dasselbe gewesen wie die Liebe zu Weihrauch und Kerzen … So war es letzten Endes wahrscheinlich. Und doch war ihr das an jenem Morgen seltsam erschienen. Dass Elizabeth sie angehalten und mehr oder weniger hatte durchblicken lassen, John sei diesmal derjenige, der die Leute zu etwas auffordere. Besonders Kirchgänger, das hatte Elizabeth gesagt. Kein Wunder, dass es im Pub Tagesgespräch gewesen war – dass der scheue John sich äußerte und Elizabeth alle Welt zu dieser besonderen Geste anhielt.

Helen jedenfalls hatte auf ihre Uhr gesehen und zu ihr gesagt: «Okay, fünf Minuten habe ich wohl», eingedenk der daheim schlafenden acht Monate alten Babys, die sie prompt vor Augen hatte, kleine Bündel in ihren Körbchen, schlafend noch, aber wer weiß, was alles passieren konnte, wenn sie aufwachten. Trotzdem sagte sie okay. Zeigte «guten Willen» – ein Spruch von Bobby, mit dem sie beide seit ihrem Zuzug aus London dergleichen bedachten, seit Winnies Geburt und der der Zwillinge und Helens zwangsläufigem Bemühen, sich ans ländliche Leben anzupassen. «Guten Willen» zeigen hieß, dass sie alles Erforderliche zu tun bereit wäre, um wie die anderen zu sein, die anderen Frauen im Ort, oder zumindest willig – meinte Bobby. Der war ihr mit diesem Spruch gekommen, als Strategie zur Überwindung der Großstadtarroganz gegenüber den Bewohnern englischer Marktflecken wie des ihren, und er war von seiner Wortfindung begeistert gewesen, weil sie Überlegenheit suggerierte, während man trotzdem die gesellschaftlich gebotenen Kontakte knüpfte, die so unverzichtbar waren an diesen abgelegenen konservativen Orten ein, zwei Stunden von London und damit quasi im Einzugsbereich, aber dennoch im Herzen der Home Countys. Es ging darum, als «verlässlich» zu gelten, auf – wie hatte Bobby sich ausgedrückt? – «Landei» zu machen. Aber was wusste er schon, denkt Helen jetzt, schließlich ebenso Großstadtpflanze wie sie, von Landeiern, und doch hatte sie guten Willen gezeigt. Bobbys Dämmerschoppen im Black Lion zählten da nicht. Denn guten Willen zeigen hatte so viel mehr verlangt, als einfach an der Bar mit Leuten abzuhängen, oder nicht? Es hatte bedeutet, Dinge zu tun, bei denen sie sich manchmal albern oder verkrampft vorkam und die sie trotzdem tat, um kontaktfreudig zu erscheinen, etwa den Bio-Stand betreiben mit einem Tapeziertisch, von dem sie Kartoffeln, Salat und Obst verkauft hatte, im Jahr, bevor all das passiert war. Damals hatte sie in der Tat guten Willen gezeigt, war Inbegriff der Bemühung und Kontaktfreude gewesen, wenn sie mit Nachbarn scherzte und Wechselgeld herausgab. Als strahlende Schwangere hatte sie sich damals sehen wollen. Vor sich die eigenen Bioprodukte, neben sich ein spielendes Kleinkind. Hatte jeden Freitag in der Markthalle guten Willen gezeigt, bis die Last ihres dicken Bauchs zu viel wurde, bis die in ihr größer und größer werdenden Zwillinge zu sehr zehrten und sie den Stand hatte aufgeben und, isoliert und erleichtert, daheimbleiben müssen.

Schon damals hatte Helen gewusst – das sieht sie heute glasklar –, dass sie sich mit dem Verzicht auf den Markt eigentlich eingestand, im Innersten nie so verlässlich werden zu können, wie Bobby das vorschwebte. Egal, wie viel guten Willen sie auch zeigen mochte, sie würde nie zu einer werden, die sich nicht mehr änderte oder anderes wollte. Während sie zugleich ahnte, dass die übrigen Frauen im Ort aber tatsächlich so waren, fröhlich, mit festen Gewohnheiten. Die huschten nicht in die Kirche und wieder hinaus, als gehörten sie da nicht recht hin, sie blieben hinterher noch und tranken miteinander einen Pulverkaffee, sie engagierten sich im Kirchenvorstand und bei den Bazaren. So war es auch in der Spielgruppe, in die sie Win brachte und wo sie umgeben war von Frauen, die sich in ihrer Rolle als ‹Mum› pudelwohl fühlten, mit ihren Gärten und Ehemännern und ihren ruhigen Abenden vor dem Fernseher … Nur, wie hatte Helen sich je einbilden können, dass sie in einem solch gesicherten Dasein ihren Platz gefunden habe, wo in ihr doch immerzu so etwas wie Panik aufstieg; sie wuchs im Laufe des Tages und ebbte erst abends, wenn sie sich das erste Glas Wein einschenkte, langsam ab, um sich gleich am nächsten Morgen zurückzumelden und sie, dunkel und lüstern, zu vereinnahmen.

Heute sieht sie, dass sie sich damals permanent veränderte – da die eine war, die an der Kirche auf Elizabeth traf, dort die andere, die Bobby abends ins Bett schaffen und sicherstellen musste, dass sie selbst ein großes Glas Wasser am Bett stehen hatte für den zu befürchtenden Nachdurst und die Übelkeit. Nein, sie war nicht verlässlich, das hatte sie damals ebenso gut gewusst wie heute. Nur war das damals überlagert gewesen von dem Dauerzustand Bobby, der Gewohnheit, ihn zu umsorgen und mit ihm zusammen zu sein. Also war das Haus ordentlich, waren die Zwillinge und Winnie gut versorgt, sauber, adrett, und niemand hätte im Traum gedacht, nicht wahr, dass darunter dieses andere Leben verlief – sich überstürzend und unsicher und, ja, beängstigend –, begleitet von dem Gefühl, dass einfach alles passieren konnte, alles Mögliche. Deshalb hatte sie doch Bobby geheiratet, oder nicht? Um sich vor diesem Gefühl zu schützen? Deshalb hatte sie ihm zugehört, ihn endlose Reden schwingen lassen. Als könnte sie ihr Leben in eine Geschichte verwandeln, die wer anderes erzählte – eine seiner Geschichten, genau genommen –, als könnte eine Geschichte dich beruhigen und im Dunkeln besänftigen, die Leere mit Worten füllen und Sprüchen und Sätzen, damit du schlafen kannst.

Wie dem Wort «verlässlich». Damals, findet Helen heute, war ihr Kopf vollgestopft mit solchen Wörtern und Gedanken – sie sollten sie möglichst zu einer machen, die guten Willen zeigte und das Richtige tat. Folglich war sie an jenem Tag natürlich wie versprochen zur Markthalle gegangen, und tatsächlich, da war er, der Mönch, gleich dort unter der Uhr, wie es Elizabeth gesagt hatte. Er saß im Lotussitz in seinem gelben Gewand mit seiner kleinen Schale da … nahm irgendwie eine Position ein. Nur sprach hier diesmal nicht Bobby. Dies war keine seiner Geschichten. Denn Helen hatte den Mönch gesehen. Sie hatte ihn selber gesehen.

Der Moment überwältigt sie, genauso wie damals. Denn schien das Ganze nicht, zunächst, unglaublich?

Er glich einer Statue, saß auf diese anmutige Art mit gesenktem Kopf da, die nackten Füße gelenkig im Schoß verschränkt, auf dem Gesicht ein Lächeln, wie man es aus allen Reisebroschüren über Tibet kannte. Wie das Lächeln der Mönche bei der Ausstellung zur tibetischen Kunst im Victoria & Albert Museum oder auch jener anderen im Metropolitan Museum seinerzeit, als sie bei einer alten Freundin ihrer Mutter in New York gelebt und die sich um sie gekümmert hatte, während Helen sich über ihr Leben klar zu werden und zu entscheiden bemühte, ob sie Bobby überhaupt heiraten sollte, und als man Mönche aus einem Kloster irgendwo in Indien eingeflogen hatte, die Sand-Mandalas auf dem Boden schufen …

Wie viel davon ihr aber in dem Moment wieder einfiel, als sie den Mönch erblickte – das vermag Helen nicht mehr genau zu sagen. Das kommt irgendwie daher, dass heute über die Details nachzudenken, über jenen Tag und das, was folgte … dass dieser Erinnerungsprozess weitere Erinnerungen heraufbeschwört. Und auch wenn sie nicht recht weiß, ob ihr damals so war, als kehrte beim Anblick des Mönchs wirklich schlagartig jene Phase ihres Lebens so deutlich zurück, die Erinnerung an ihre Zeit in New York … weiß sie, dass ihr jetzt so ist. Als wäre ihr gesamtes Leben um ihn aufgestiegen. Wer sie gewesen war. Was sie getan hatte. Die Erinnerung daran, wie frei sie sich in New York gefühlt hatte, aber auch wie panisch – weil sie erkannte, dass eine Entscheidung anstand, die sehr genau überlegt sein wollte, während sie doch blindlings darauf zustürmte, zustürmte inmitten der Clubs und Bars und der Partys, in New York herumhetzte und wusste, dass Bobby drüben in London wartete, wartete …

Sehr deutlich hatte sie allerdings wahrgenommen, wie sich der Tag, der Morgen, wie sich jedes Detail um den Mönch – die dunklen Steine und Ziegel der Markthalle, die Vergoldung des Ziffernblatts an der Uhr, das klare Porzellanblau des sommerlichen Himmels, wirklich frisch und gestochen scharf und wie blankes Porzellan, weil es in der Nacht zuvor geregnet hatte – aufzuladen schien, genauso war es, findet Helen noch heute, es «lud sich auf», jedes Detail bot sich ihr in seiner ganzen, wesenhaften Bedeutung dar. Und vor diesem Hintergrund, diesen Dingen, ihrer Dinghaftigkeit sozusagen, vor den Steinen und dem Himmel, gab es die leuchtenden Farben des safrangelben Gewands, der kleinen Tonschale, des hellen Strohs der Matte … die Aspekte des Mönchs, die, wo sie ihr doch direkt vor Augen standen, zu einer ganz anderen Sphäre zu gehören, einem Ort jenseits ihrer selbst zu entstammen schienen, ätherisch, ihr gänzlich unbekannt, einer Hoffnung, einem Glauben oder einem Traum.

In dem Moment fing für sie etwas an. Sie verspürte den starken Drang, den sie natürlich sofort unterdrückte, die Hände zusammenzulegen wie zum Gebet, wie der Mönch, und sich ihm zuzuneigen … Sie hatte es nicht getan, nichts unternommen, was verrückt oder bedürftig hätte wirken können. Stattdessen hatte sie es trotz des anfänglichen Gefühls von Glauben, Ungläubigkeit und Staunen geschafft, sich genau so zu verhalten, wie Elizabeth es gewünscht hatte. Sie hatte sich dem Mönch genähert, behutsam ein paar Münzen und einen zerknitterten Schein in die Bettelschale an der Ecke der Matte gelegt und langsam, auf sehr verlässliche englische Art gesagt: «Willkommen.»

Der Mann hatte ihr in die Augen gesehen. Wortlos.

Das «Willkommen» hatte sicher seltsam geklungen, aber Helen war sich deswegen nicht blöd oder verkrampft vorgekommen – in Grunde war es, als ginge sie in einen Traum ein. Alles verlangsamte sich. Es lag in der Luft um den Mönch eine Stille, die Helen mit einschloss – als wäre die Stille in sie gedrungen und Teil von ihr geworden. Ein Gefühl, von dem Helen heute ganz anders als damals weiß, es war Ruhe. Erst als Margaret Cockburn, eine Nachbarin, kam und zum Mönch hintrat und in ziemlich der gleichen Weise wie Helen zu ihm «Willkommen» sagte, war ihr, als fielen ihr mit Schrecken die daheim allein gelassenen Zwillinge wieder ein, und da war sie davongestürzt und mit rasendem Herzen die Treppe hinaufgeflogen, drei Stufen auf einmal. Doch die Jungen lagen da noch genauso, wie sie sie zurückgelassen hatte, still und zufrieden, und regten sich erst, als sie sich über sie beugte und sie mit ihrem Keuchen erschreckte. Sie blieb dort einige Zeit über ihnen stehen, betrachtete sie und lauschte den kleinen Schmatzlauten der sich in Erwartung des nächsten Fläschchens öffnenden und schließenden Münder … Doch schon dabei dachte sie nur noch an den Mönch unten im Ort und den Moment, da sie vor ihm gestanden und alles als so still empfunden hatte wie ein Gemälde, vor dem sie verweilen könnte, und an das Gefühl, solange sie verweilte, nie wieder Panik oder Angst oder tiefste Verzweiflung erleben zu müssen.

Den ganzen Tag damals hatte sie an nichts anderes gedacht. Das Gefühl beschworen. Es zurückzugewinnen versucht. Sodass sie zwar nicht wirklich verstand, weshalb sie den Mönch noch einmal sehen musste, nur wusste, dass es so war – also hatte sie die Jungen in den Kinderwagen gepackt und einen neuerlichen Besuch vor sich selbst mit der Notwendigkeit gerechtfertigt, Winnie von der Spielgruppe abzuholen.

«Es ist ein toller Astronaut bei uns zu Besuch», hatte sie ihrer Tochter gesagt, als sie sie an der Tür zum Gemeindesaal abfing. «Wollen wir mal gucken gehen, wir beide?»

Winnie hatte mit ihrem von den morgendlichen Spielen verwuschelten Haar zu ihr hochgesehen, so wunderbar erhitzt, als breite sich wellenförmig, fand Helen immer, die Sicherheit ihrer kleinen Tochter aus, deren kleiner Körper so fest und in der Welt so sicher verankert schien.

«Können wir John-John und Barney mitnehmen?», fragte sie. Sie lugte zu den Zwillingen hinab und schnitt für sie eine Grimasse, bei der die beiden vergnügt strampelten.

«Natürlich», sagte Helen.

«Okay.»

So hatte Helen es angestellt, hatte es selbstverständlich erscheinen lassen, dass sie abermals hinmusste, wo sie bereits am Morgen gewesen war, um dort einfach noch mal stehen zu können. Sie hatte eine Tasche für eventuelle Einkäufe mitgenommen, als wären Besorgungen vielleicht der Grund für den Gang zum Marktplatz, und bei sich, als eine Art Alibi, die Tochter, der sie nachher ein Eis kaufen könnte oder eine Tüte Bonbons – denn was wäre sie damals manchmal gewesen ohne Winnie und ihren strammen kleinen Körper? Neben sich auf ihren Wegen und in den Läden, Winnie, die ihr einen Grund gab, da zu sein, die ihr zu tun gab? Die Hand einer Tochter konnte immerhin die der Mutter halten und sie schützen. Und wo, fragt sich Helen, wäre sie, selbst heute, ohne diesen Halt, wo?

Sie hatte zu Winnie runtergesehen, um sich zu vergewissern, dass das Kind es nicht seltsam fand, nicht schnurstracks heimzukehren, doch Winnie hatte sich schlicht den Daumen in den Mund geschoben und um Helen herumgelugt, um den Jungen zu winken, die Helen im Kinderwagen vor sich herschob. Die Zwillinge strampelten und wanden sich und krähten vor Vergnügen.

«Er ist wie ein richtiger Astronaut, weißt du», sagte Helen zu Win. «Er hat allerdings ein gelbes Gewand, also mehr wie Jesus.»

Winnie nickte, ohne den Daumen aus dem Mund zu nehmen. Eigentlich war es Zeit für ihr Sandwich, für ein Glas Milch und ihren Mittagsschlaf, sagte sich Helen. Sie sollten heimgehen. Und doch schwenkte sie den Kinderwagen herum und hielt auf den Marktplatz zu, weil sie glaubte, wenn sie ihn nur ein Mal noch sehen, ihn in den Blick nehmen könnte, den Mönch, das vorige Gefühl von Ruhe und Stille wiedererleben und dieses innere Bild würde mitnehmen können wie ein Foto – sie brauchte dazu nicht einmal besonders nah herangehen … Doch als sie eintrafen, war er von so vielen Menschen umringt gewesen, dass sie nicht einmal einen Blick auf sein gelbes Gewand erhaschte. Dann fing einer der Jungen an zu quengeln, John, und Winnie sagte: «Ich hab Hunger, Mummy, Hunger» – also gab Helen auf, und sie gingen nach Hause.

Das alles war am Morgen gewesen und nun, Stunden später, saß da Bobby vor ihr und erzählte ihr davon. Von dem Menschenauflauf, wer da gewesen war beim Mönch und wer nicht, wer was gesagt hatte. Eigentlich, hatte Helen gedacht, als sie ihn betrachtete, war es doch nett, wie Bobby sich für die Geschichte begeisterte, wie er sich einließ, aber andererseits verriet ihr sein unsteter Blick auch genau, wie viel er getrunken hatte.

Er grinste sie an. «Sieht man nicht alle Tage, oder? Dass wir hier im vorsintflutlichen Mittelengland so was erleben? Hier in unserer ‹Mittelerde›, ha. Das muss ein Schock gewesen sein, Darling. Nicht wahr? Wo du doch immerhin eine derer bist, die ihn gesehen haben.»

Er hatte sie fixiert, als er es sagte, mit seinen hübschen, tiefblauen Augen und dem dunklen, privaten Blick, den nur sie zu sehen bekam. Der von seinen allein in der Küche mit einer Whiskyflasche verbrachten nächtlichen Stunden sprach, den vor einem Lunchtermin mit Klienten gekippten Wodkas … Sie alle gehörten zur Geschichte. Bobbys Geschichte. Mitgefangen, mitgehangen, besagte der Blick. Du und ich, wir beide. Helen wandte sich ab.

«Ich rede mit dir», hatte Bobby gesagt.

«Ich weiß.» Und da hörte sie bereits in seinem Ton den drohenden Stimmungsumschwung. Käme jetzt jemand in die Küche, ein Nachbar, ein Freund, würde er leutselig und charmant sein und das sogar ein paar Stunden durchhalten können, aber hier mit ihr allein …

«Ich sagte, ich rede mit dir.»

«Ja. Was ist denn?» Helen war vom Tisch aufgestanden.

«Ich sage, es ist mir egal, was du gesehen hast oder nicht. Irgendjemand muss die Dinge in die Hand nehmen. Himalaya hin oder her.»

«Tut mir leid», sagte Helen. «Habe ich nicht mitgekriegt. Ich habe nach den Jungen gehorcht.»

«Ich sagte, dein Mönch verbringt die Nacht im Wald, müsste inzwischen schon dort sein. Und mir ist egal, ob er es gewohnt ist. Das hier ist England, Herrgott, wir sind hier nicht im indischen Hochgebirge …»

Helen hielt inne – vielmehr fühlte sie sich innehalten, so eher. Sie hatte einen Holzlöffel genommen und schob im Eintopf das Fleisch herum, sie tat etwas, aber es war, als täte sie es nicht, als wüsste sie nicht, wie. Da war der Tisch, waren die leeren Flaschen. Die helle Küche, die dunklen Zimmer oben, wo die Kinder schliefen. Da war Bobby, der sich erhoben hatte, betont langsam, und bedächtig die Kühlschranktür aufzog und hineingriff. Und da war sie, unfähig, weiterzumachen, unfähig, überhaupt etwas zu tun.

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